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Felix
Mendelssohn Bartholdy oder eine Geschichte kulturellen Antisemitismus
im Deutschland
des 19. und 20. Jahrhunderts
Ein Essay von Rainer Hauptmann
Inhalt:
Vorrede
1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde
2. Heisst Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude
Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden!
3. Der grösste lebende Komponist
6. Ein antisemitischer Ekklektizist
7. Eine eczeptionell exclusive Menschen-Race
8. Von der Neudeutschen Schule
9. Von der musikalischen Wahrheit
10. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemerenleben...
Intermezzo II: "Felix, thust du nichts?!"
11. Von der E-Musik und der U-Musik
12. Der schönste Zwischenfall der Deutschen Musik
13. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette
15. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier...
16. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut...
17. Eine Lanze für Felix Mendelssohn
18. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur
Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhaus
19. Nur in einem Abstand zu nennen
20. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten!
22. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen
23. Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen
Intermezzo IV: die "Hohe Schule" I: Kulturelle Neuordnung nicht nur für Europa, sondern für die Welt
24. Das Lexikon der Juden in der Musik
25. und das Benehmen Mendelssohns, das er als Director angesehen werden wolle
Intermezzo V: Juden bleiben Juden oder von den Ehetagebüchern des Robert Schumann
26. Denkmalspflege; nationalsozialistisch
27. Ein nordischer "Sommernachtstraum"
28. Von bajuwarischen Sommernachtsträumen
Intermezzo VI: Die "Hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart"
29. Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette...
Intermezzo VII: Vom deutschen Hausbuche
Intermezzo VIII: Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind
31. Grenzen in der Bedeutung dieser Musik
32. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug
33. Diese Musik wurde ermordet I
34. Das erreichbare Höchstmass an Glätte und Ausgeglichenheit...
35. Philosoph. Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn
36. Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten
38. Diese Musik wurde ermordet II
Vorrede
Als Felix Mendelssohn Bartholdy im November 1847 unerwartet starb, hielt das öffentliche Leben in den Musikstädten Europas und der Neuen Welt erschüttert inne. Der Tod eines grossen zeitgenössischen Meisters wurde als tragischer, unersetzlicher Verlust empfunden. Nun ist das Lebensgefühl der Menschen, welche vor mehr als 150 Jahren lebten, nicht per se auf die heutige Zeit zu übertragen. Somit muss uns Musik, welche die Empfindungen unserer Vorfahren aufs trefflichste reflektierte, nicht zwangsläufig bewegen.
Andererseits erhebt sich die Frage: Auch Schubert, Beethoven, Mozart lebten vor 150 - 200 Jahren, und verliehen den Zeitläuften in politischer, kultureller und emotionaler Hinsicht musikalisch Ausdruck. Auch sie wurden von der Öffentlichkeit oder dem unmittelbaren persönlichen Wirkungskreis als Herolde zeitnah humanen Empfindens gewürdigt. Das ist im Falle der letztgenannten auch so geblieben.
Im Falle Felix Mendelssohn Bartholdys hingegen muss plädiert werden, muss im Zweifelsfalle eine Verbindung der 40ziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu unserer Zeit und unserer Sichtweise nachträglich, quasi synthetisch wiederhergestellt werden. Allein, die publizistische Darlegung der Gegenwartsrelevanz von Musik, der Musik Felix Mendelssohns beispielsweise, ist wiederum ein schwieriges, möglicherweise vergebliches Geschäft. Das Plädoyer sollte auf musikalischem Wege erfolgen.
Um aber zum Mindesten Nachweis zu führen, was einstmals unzweifelhaft bestanden, allzulange verschüttet und nachhaltiger zurückzugewinnen wäre: die Einschätzung Mendelssohns als bedeutenden Meisters der europäischen Musikgeschichte, mögen zu Beginn der Geisteswissenschaftler Hans Mayer und danach der Komponist Robert Schumann zu Worte kommen:
"Mendelssohn hat in einem ganz ungewöhnlichen Sinne alle damals bekannten Traditionen deutscher Musik verkörpert und in sich zusammengefasst. Er hat sie durch seine eigenen Schöpfungen und Erkenntnisse erweitert und weitergereicht. (...) Man kann die Behauptung wagen, daß durch Felix Mendelssohn, gerade in seinem Leipziger Wirken, nicht nur die Strukturen unseres heutigen Musiklebens festgelegt wurden, sondern daß es erst durch ihn (...) auch für uns heutige möglich wurde, die Musik und die musikalische Entwicklung als einen überschaubaren historischen Prozess zu interpretieren. Auch die Musikgeschichte ist nicht denkbar ohne Leipzig und Johann Sebastian Bach, ohne Mendelssohn und Philipp Spitta". (Hans Mayer "Der Widerruf" Frankfurt 1994)
Im
Juni 1848 musste Franz Liszt im Salon des Hauses Schumann ein deutliches Wort
über sich ergehen lassen:
"Meyerbeer ist ein Wicht gegen Mendelssohn,
letzterer ein Künstler, der nicht nur in Leipzig, sondern für die ganze
Welt gewirkt hat. Herr, wer sind Sie, daß Sie über einen Meister wie
Mendelssohn so reden dürfen!" (zitiert nach Walter Dahms, Robert Schumann)
In einem Brief an den Weimarer Komponisten legt Schumann im darauffolgenden
Jahre begütigend nach:
"Und wahrlich, sie waren doch nicht
so übel, die in Leipzig beisammen waren - Mendelssohn, Hiller, Bennett u.
a. - mit den Parisern, Wienern, Berlinern, konnten wir es ebenfalls auch aufnehmen."
(zitiert nach Walter Dahms, Robert Schumann)
Auch die letzten verbrieften Worte Robert Schumanns, aus Endenich an Clara gerichtet, bevor er vollends in geistiger Umnachtung verharrte, galten dem toten Leipziger Meister:
"Die
Zeichnung von Felix Mendelssohn hab ich beigelegt, dass Du sie doch ins Album
legtest. Ein unschätzbares Andenken! Leb wohl. Du Liebe! Dein Robert".
(zitiert nach Walter Dahms, Robert Schumann)
Sprachliche Präzision,
Schlichtheit des Ausdrucks und feinsinniger Intellekt prägen die Ausführungen
des Geisteswissenschaftlers; Engagement, ja Hingabe die Worte des Künstlers.
Beide kommen jedoch zum gleichen Resümee: Bekenntnis der originären
Stellung Felix Mendelssohn Bartholdys innerhalb der Musik des 19. Jahrhunderts.
Den Musikfreunden unserer Zeit erscheint dieselbe ja sicher auch unzweifelhaft
festgeschrieben, in der eigentlichen musikalischen Wortmeldung aber ist sie abseits
weniger hochpopulärer Zugstücke des klassischen Repertoires bislang
eher schememhaft wahrzunehmen.
Das literarische Engagement Schumanns, Mayers, Heinrich Eduard Jacobs, Georg Kneplers, Karl-Heinz Köhlers, Eric Werners, Arnd Richters; das explizite Engagement der Dirigenten Otto Klemperer, Kurt Masur, Peter Gülke u. a. galten auch der Rückbesinnung auf eine zentrale Epoche der bürgerlichen Musikgeschichte: den Jahren 1835 - 47. In jenen Jahren wirkte Mendelssohn am Gewandhaus als Komponist und Dirigent und reformierte die deutsche Musik nachhaltig.
Mendelssohn etablierte im Gewandhaus zu Leipzig die grosse
Philharmonische Gesellschaft, das eigenständig zelebrierte symphonische Konzert,
als wichtigste Institution wachsenden bürgerlichen Kulturbewusstseins. Darüberhinaus
wirkte er massgeblich auf gesellschaftliche Akzeptanz des Orchestermusikers als
Repräsentanten neuerstehenden philharmonischen Berufsstandes hin.
Er
öffnete das Gewandhaus, ästhetischer Vorbehalte eigenen musikalischen
Empfindens gegenüber den Avantgardismen mancher Partitur ungeachtet, den
Komponisten Berlioz, Cherubini, Chopin, David, Gade, Hiller, Liszt, Moscheles,
Rossini, Schumann, Spohr, Wagner und sorgte somit durch Aufbau und Pflege zeitgenössischen
Repertoires für eingehendere Beachtung neuer Musik.
Das gewaltige Instrumental- und Sakralwerk des Komponisten und Thomaskantors Johann Sebastian Bach galt Fachleuten im frühen 19. Jahrhundert als Studienobjekt musikalischer Formvollendung, aber hoffnungslos antiquiert, "unmelodisch, berechnend, trocken und unverständlich im Publicum bekannt" (Ludwig Devrient, Meine Erinnerungen an F. M. B. und seine Briefe an mich, Leipzig 1869); ja als unaufführbar.
Die Musik Bachs und anderer Meister der Barockzeit und Klassik wurde
durch Mendelssohns Initiative aufsehenerregender Neueinstudierungen der "Matthäuspassion"
nach beinahe 100 Jahren des Vergessens und "Historischer Konzerte" im
Gewandhaus dem zeitgenössischen Musikleben nachdrücklich ins Bewusstsein
gerufen.
Der zeitgenössische Musikbetrieb war vor Mendelssohns Wirken
in Leipzig ja vorrangig auf Präsentation von Neuschöpfungen interpretiender
Komponisten ausgerichtet. Die Wiederaufführungen der Bach´schen "Matthäus-Passion"
und die "Historischen Konzerte" fungierten somit als Synonym historischen
Gewissens, als Exempel progressiven Übergangs zu "stetiger Produktion
neuer und Reproduktion nicht mehr "neuer" Musik" (fr. n. Mayer)
Felix Mendelssohn engagierte sich beharrlich für das Vorhaben, dem
musikalischen Nachwuchs über traditionelle Angebote von Singschulen und Ratsmusiken
hinaus an einer, den Instituten europäischer Musikzentren vergleichbaren
Musikbildungsstätte ein umfassendes Studium zu ermöglichen. 1843 vermochte
er es, unterstützt von Musikverlegern, Gelehrten und Komponisten, in Leipzig
das erste deutsche Konservatorium im Hochschulrange ins Leben zu rufen. Persönlichkeiten
der Musikgeschichte - darunter die Komponisten Eduard Grieg, Leos Janacek und
Miklos Rozsa - erwarben dort die Grundlagen späteren Ruhms.
Diese Initiative
der "Begründung eines neuen (...) gemeinnützigen vaterländischen
Institutes" (Testat Dr. Heinrich Blümners 1839) der Tonkunst lebt fort
in der "Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy"
in Leipzig, welche weiterhin jungen Menschen aller Nationalität zum Studium
von Musik und darstellender Kunst in Theorie und Praxis offensteht.
1.
Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstler
würde
"Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich´s gehört; es wäre wirklich einmal eppes Rores (etwas Rares), wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde." Mit solchen Worten irritierenden Wohlwollens bereitete der Berliner Komponist Karl Friedrich Zelter den greisen Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe in Weimar in seinem Brief vom 26. Oktober 1821 auf den Besuch eines 12 jährigen musikalischen Wunderkindes aus dem Hause Mendelssohn vor. Die rhetorisch mit allen Attributen von Aussergewöhnlichkeit beladene, letztendlich aber ergebnislos verbliebene Gleichung der Konstanten Jude, Taufe, Judensohn und Künstler verrät nicht, ob es sich um den Ausdruck einer ehrlich empfundenen Hoffnung oder um Anmassung handelt.
Dessen ungeachtet erlag Zelter jedoch der Versuchung, mit der
Feststellung vom Künstlertum aus jüdischem Hause als einer Causa von
wahrhaft eppes rorer Art, die jüdische Sprechweise dezidiert zu karikieren.
"Hepp-hepp-hepp! Judenjunge!" rief ein debiles preussisches Fürstenkind den 10jährigen Felix Mendelssohn und die 14jährige Fanny auf den Strassen Berlins an, bevor er ihm ins Gesicht spie. "Hepp-Hepp! Judenjung! schrien Strassenkinder in dem Küstenort Dobberan an der Ostsee den beiden entgegen, bevor sie sich aufs sie warfen. Heldenhaft und gleichmütig befreite er die Schwester aus der bedrohlichen Situation; sicher geleitete er sie heim - erst dort trieben Zorn und Scham ihm die Tränen heraus.
Im
Jahre 1812 erliess König Friedrich Wilhelm III. von Preussen auf Anraten
des Staatsministers Karl August von Hardenberg ein Emanzipationsgesetz. Es sollte
Juden die preussische Staatsbürgerschaft gewähren und den lediglich
vereinzelt an herausragende Persönlichkeiten öffentlichen Lebens vergebenen
würdelosen Status der "Schutzjudenschaft" ersetzten.
"Gelingt
es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, dann bleibt nur eins: sie gewaltsam
auszurotten!" (zitiert nach Arndt Richter, Felix Mendelssohn) empfahl indessen
der Berliner Historiker und Historiograph des Preussischen Staates Friedrich Rühs
im Jahre 1814. Er reflektiert so die wahrhaftig vorherrschende öffentliche
Meinung gegenüber gleichgestellten jüdischen Bürgern.
Auf volkstümlicherer Ebene erregte zeitgleich die Aufführung der antisemitischen Posse "Unser Verkehr" auf einer Berliner Bühne Aufsehen, welche die jüdische Lebensweise zum Gespött zu machen suchte. Die Posse agitierte somit gegen das hardenberg´sche Unterfangen, Juden zu preussischen Staatsbürgern zu machen. Autor war der Breslauer Augenarzt Karl Sessa. Die Aufführungen von "Unser Verkehr" lösten Unruhen unter den Zuschauern aus; als der Berliner Komödiant A. A. Ferdinand Wurm sich auf der Bühne über die jüdischen Speisegesetze und den jüdischen Widerwillen Schweinefleisch gegenüber mokierte, wurde das Publikum gar handgreiflich gegen ihn. Flugblätter mit Aufrufen wie "Dass du in "Unserm Verkehr" die Juden verspottest, die Ursach, sie begreift sich so leicht: bist du selbst doch ein Schwein" straften Autor und Akteure ab. Dennoch verfehlte die Populär-Komödie nicht ihre Wirkung auf breitere Schichten "gesunden Volksempfindens". In der Berliner Bevölkerung wurde somit die Forderung erhoben, jüdischen Freiwilligen im preussischen Abwehrkampf gegen Napoleon künftig den Erhalt des Eisernen Kreuzes zu verweigern und ihnen vielmehr ein grosses Geldstück an die Kopfbedeckung zu heften.
Nicht zuletzt die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dominante romantische Bewegung, altdeutschen, ja mittelalterlich paraphrasierten sowie christlichen Idealen huldigend, zählte zu den erklärten Gegnern staatsbürgerlicher Judenemanzipation. Berüchtigt in diesem Zusammenhang waren "Christlich-Deutsche", oder "Christlich-Germanische-Tischgesellschaften", welche die hochrangigen Literaten Achim von Arnim und Clemens Brentano, sowie der Publizist Adam Müller in Berlin unterhielten.
Während Rang und Namen gesellschaftlichen Lebens in Berlin, Persönlichkeiten wie Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, Savigny, Heinrich von Kleist, der preussische Staatsrat Sägemann, Karl Friedrich Zelter sowie die Fürsten von Lichnowsky und Radziwill, den Salon des Hauses von Arnim/ Brentano regulär frequentierten, war Juden nebst Franzosen und Philistern die Teilnahme an den "Tischgeselligkeiten" und "deutschen Fressgesellschaften" satzungsgemäß verwehrt....)
Die Romantiker lehnten jedwede Bestrebung zur Realisierung moderner Ökonomie strikt ab und sahen die Juden als treibende Kraft derselben an. Daher standen letztere im Zentrum übler Satiren und "Judenscherze" der "Tischgesellschaften. Bettina von Arnim schliesslich wandte sich vom Treiben Ihres Bruders und Ehemannes angewidert ab.
Allein für den Zeitraum des Jahres 1815 bis 1850 lassen
sich 2500 Manifeste, welche die vermeintliche Judenfrage im Für und Wieder
thematisierten, nachweisen.
Letztere eröffnen bereits den ganzen Katalog
vertrauter antisemitischer Demagogie des Kaiserreichs und des 20. Jahrhunderts.
Das Spektrum reicht von der Zwangsassimilierung durch christliche Taufe, der "Veredelung"
und Bekehrung mithilfe religiös-moralischer Vereine, über Seuchen- und
Ungeziefermetaphorik, Betrachtungen hinsichtlich Sexualamputation, Ausweisung,
Austreibung, Deportation nach Palästina bis hin zu Völkermordphantasien.
Der seinerzeit viel rezipierte nationalistische Publizist und Dichter Ernst Moritz
Arndt, der im 20. Jahrhundert vom rassebiologisch grundiertem Wahn des deutschen
Nationalsozialismus als dessen "Vordenker" gefeiert wurde, konstatierte
im Jahre 1814, das dass Volk der Deutschen es durch alle Zeiten vermocht habe,
nicht zu "verbastarde(n), keine Mischlinge geworden" zu sein. Über
Jahrtausende hinweg sei es vielmehr auf seiner "Urerde" rassisch "rein"
geblieben. Nunmehr allerdings, führt Arndt des weiteren aus, sei das "germanische
Wesen im höchsten Maße durch das Voranrücken der Franzosen und
der Juden bedroht, welche letztere mit dem Prosperieren von "Ungeziefer"
zu vergleichen sei. "Verflucht aber sei die Humanität und der Kosmpolitismus,
womit ihr prahlet! Jener allweltliche Judensinn, den ihr uns preist als den höchsten
Gipfel menschlicher Bildung." schliesst Arndt.
Der berühmte
Zeitgenosse Freiherr vom Stein attestierte Arndt denn auch eine "Hühnerhundnase
zum Aufwittern des verschiedenen Blutes". Arndt forderte die Unterbindung
der Zuwanderung ausländischer Juden mit allen Mitteln sowie die Verwehrung
des vollen Bürgerrechtes für die deutschen Juden und "getauften
Judengenossen. Arndt plädiert im Gegenzug vielmehr für das "Aufgehen"
alteingesessener deutscher Juden vermittels vollständiger Aufgabe der jüdischen
Religion und Kultur und Amalgamierung mit der christlich-germanischen Umwelt.
Das Verschwinden des "verdorbenen und entarteten" jüdischen Idioms
wäre, Arndt zufolge, durch Konvertierung zum Christentum nach 3 Generationen
somit möglich.
Neben Friedrich Rühs trat auch der Heidelberger Philosoph und Professor Jacob Friedrich Fries als Demagoge antisemitscher Vernichtungsphantasien hervor. In einem 1816 unter dem Titel: "Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden" veröffentlichten Pamphlet erging sich Fries in übersteigerten Gewaltmetaphern und forderte: "Denkt nur an ihr Schicksal in Spanien, wie es dort allem Volke zur Freude wurde, sie zu tausenden auf den Scheiterhaufen brennen zu sehen, wie sie dort die Regierung (...) samt und sonders zum Lande hinausjagen musste. Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber und Brotdiebe hasst und verflucht".
Im Zenit fremdenfeindlich-menschenverachtender
Ereiferungen aber stehen die Gewaltpathologien des Radikaldemagogen Hartwig von
Hundt-Radowsky: Im "Judenspiegel - ein Schand- und Sittengemälde alter
und neuer Zeit" aus dem Jahre 1819 regte er u. a. dazu an, die deutschen
Juden den Engländern als Arbeitssklaven für die indischen Kolonien anzudienen.
Neben der Zwangsarbeit auf den weitläufigen Pflanzungen, erböte sich
des weitern die Deportation in die Erzminen. Von Natur aus über "ein
herrliches Spürorgan für alle edeln Metalle und Steine" verfügend,
wäre eine Tätigkeit dort, - sicherheitsverwahrt von "geheimen Polizeispionen"
- , gewinnträchtig.
Die männlichen Juden wären sämtlich
zu kastrieren, die Frauen hingegen in "gewisse weibliche Erziehungsinstitutionen"
genannte Bordelle zu verbringen um dort den Machthabern gefügig zu sein.
Hundt-Radowsky stellt in Schriften wie dem "Judenspiegel" oder der 1822/23
in der Schweiz erschienen "Judenschule" des weiteren hanebüchen-menschenverachtende
Behauptungen über das Wesen der jüdischen "Rasse" auf:
"Der Teufel ist barmherziger als ein Jude". Von Geburt an eigen
sei den Juden auch "ihr specifischer Geruch, den sie sich durch ihre unnatürlichen
Laster, als ein Allen gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben." (...) "Eine...Annäherung
oder Verschmelzung würde für jedes nichtjüdische Volk ein gänzliches
physisches und sittliches Verderben zur Folge haben. (...) Was Grosses, Erhabenes
und Göttliches an seinem (Jesu Christi) Leben und seinen Handlungen war,
das können die Juden, welche ihn verfolgten und kreuzigten, nicht für
sich anführen."
Des weiteren ergeht sich Hundt-Radowsky in Gewaltphantasien
und -forderungen hinsichtlich der vollständigen Austreibung und Vernichtung
des jüdischen Volkes. Seine Schriften zählen somit zu den unmittelbaren
Anfängen eines eliminatorischen Antisemitismus und nehmen somit die deutsche
Rassenpolitik und Judenvernichtung im 20. Jahrhundert; die Geschehnisse des "III.
Reiches" rhetorisch nahezu deckungsgleich vorweg. Der Historiker Peter Fasel
schreibt bzw. zitiert dazu in der Wochenzeitung "Die Zeit" vom 22. Januar
2004" in seinem Aufsatz "Vordenker des Holocaust":
"Die
Juden müssen, daran lässt er keinen Zweifel, vollständig eliminiert
werden. (...) "Am besten wäre es jedoch, (anstelle eines Verkaufs an
die Engländer, welche Hundt-Radowsky wenig später als missliebige "weisse
Juden" brandmarken sollte, Anmk. d. Verfs.) man reinigte das Land ganz von
dem Ungeziefer".
Die Juden sollten, das wäre ihm offenbar am liebsten, nach Abhaltung eines Tribunals ("ein peinliches Gericht") umgebracht werden. Oder aber, man verfrachte sie, vollständig enteignet, auf türkisches Gebiet, wo sie in unausweichlichen Kämpfen mit den Muslimen "vielleicht ganz (...) von der Erde vertilgt würden", ohne dass man sich selber die Finger schmutzig machen müsse."! Durch die in Aarau entstandene Theorie vom "Weissen" Juden (im Gegensatz zum "echten", "schwarzen" Juden, zu welchem Hundt-Radowsky auch die Zigeuner zählte, also ein, Hundt-Radowsky und seiner deutschen Leserschaft missliebiger Europäer, Anm. d. Verf.) wird das antisemitische Wahnsystem komplett."
Hundt-Radowsky verneint in seinen Schriften vehement die Möglichkeit, die Juden vermittels Taufe "verbessern" zu können. "Wer einen Juden tauft, der brennt der Sau nur ein anderes Zeichen auf den Hintern" schreibt der Demagoge. Die jüdischen "Schädlinge" blieben, Hundt-Radowsky zufolge, ihrem "zutiefst verderbten Charakter - ewig und unwandelbar ...gleich, was auch passiert, (...) bis sie endlich durch ein furchtbares Erdbeben von unten auf erschüttert und verschlungen werden". " (zit. n. Fasel
Der
Judenspiegel wurde im Herbst des Jahres 1819 in Schwarzburg-Sonderhausen, einem
damaligen thüringischen Kleinstaat, vom Verleger Bernhard Friedrich Voigt
herausgegeben. Anstelle des waren Namens Joachim Hartwig von Hundt-Radowsky firmierte
das Pseudonym Christian Schlagehart als Autor. Das Buch erfuhr innerhalb von 3
Wochen zwei Auflagen von insgesamt 10 000 Exemplaren.
Der "Judenspiegel"
wurde in Bayern und Preussen mit der Begründung einer Störung konfessionellen
Friedens indiziert; Hundt-Radowsky sah sich als Volksverhetzer polizeilicher Verfolgung
ausgesetzt. In Baden-Württemberg hingegen stand die Presse- und Meinungsfreiheit
konstitutionell über dem Verfassungsrang konfessioneller Unversehrtheit,
so daß die Schriften Hundt-Radowskys dort weiterhin publiziert wurden und
der Judenspiegel in Reutlingen, Cannstadt und, gekürzt, in Ulm Neuauflagen
erfuhr. Noch im Jahre 1848 erfuhr das Pamphlet eine Wiederauflage unter dem Titel
"Die Naturgeschichte der Juden", welche in Wien herausgebracht wurde.
Die 3bändigen Folgeschriften "Die Judenschule oder gründliche
Anleitung, in kurzer Zeit ein vollkommener schwarzer oder weisser Jude zu werden",
welche mit 1160 Seiten zu den umfangreichsten antisemitischen Pamphleten überhaupt
zählt, erschien im Jahre 1822/23 in Aarau im Schweizer Exil Hundt-Radowskys.
Auch dieses Werk erfuhr eine im Jahre 1830 wiederum in Reutlingen herausgegebene
Wiederauflage, welche unter dem Titel "Die Juden wie sie waren, wie sie sind
und wie sie seyn werden" erschien.
2.
Heisst Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude
Zahlreiche
jüdische Familien in Deutschland konvertierten zu Beginn des 19. Jahrhunderts
zum Christentum. Sie folgten darin den Lehren der Aufklärer Moses Mendelssohn
und Gotthold Ephraim Lessing, religiöse Fragen dem Prinzip der reinen Vernunft;
die Orthodoxie der Vorstellung eines konfessionsübergreifenden Deismus anheimzugeben
und erklärten sich somit bereit, an der bestehenden christlichen Mehrheitsgesellschaft
teilzunehmen.
(Dieser zeitgenössischen Interpretation der Schriften Moses Mendelssohns entgegen, weigerte sich der Philosoph entschieden, selbst zum Christentum zu konvertieren und wandte sich öffentlich gegen eine derartige Auslegung seiner Lehren, Anmk. d. Verfs.)
Andere entschlossen
sich zu diesem Schritt, um sich vor den bedrohlichen Folgeerscheinungen eines
National-Fanatismus, zu schützen, den der Kantschüler Johann Gottlieb
Fichte ab etwa 1790 propagierte.
"Germanomanie"; eine Philosophie
elaborierten Nationalbewusstseins. Diese griff, in Ermangelung der Realität
geeinter deutscher Nation auf Elemente wie "teutsches Volkstum" und
"germanisches Christentum" als alleingültige Fundamente imaginierten
deutschen Vaterlandes zurück. Die Hepp-Hepp-Unruhen, (nach der populären
Strassen- und Gewaltparole "Hepp! Hepp!! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben!
Ihr müsst fliehen oder sterben!", Anmk. d. Verfs.) welche im Jahre 1819,
von der fränkischen Residenzstadt Würzburg ausgehend, in Deutschland
und europäischen Nachbarstaaten Gewaltakte gegen jüdische Ansiedlungen
und Bürger bedingten, nahmen zahlreiche jüdische Familienvorstände
denn auch als eindringliche Warnung auf.
"Man kann einer gedrückten,
verfolgten Religion getreu bleiben; man kann sie seinen Kindern als eine Anwartschaft
auf ein sich das Leben hindurch verlängerndes Martyrium aufzwingen - solange
man sie für die Alleinseligmachende hält. Aber sowie man dies nicht
mehr glaubt, ist es eine Barbarei. - Ich würde rathen, daß Du den Namen
Mendelssohn Bartholdy zur Unterscheidung von den übrigen Mendelssohns annimmst."
Die Worte Jacob Salomons, Felix Onkel väterlicherseits, bestärkten
die Eltern in dem Schritt, ihre Kinder Fanny und Rebekka, Felix und Paul im Jahre
1816 protestantisch taufen zu lassen. Lea und Abraham Mendelssohn folgten den
Kindern erst im Jahre 1822 darin.
Im Jahre 1830 gemahnte der Vater, welcher
sich hellsichtig gegenüber eines zunehmend judenfeindlichen gesellschaftlichen
Klimas, nurmehr Abraham M. Bartholdy nannte, eindringlichst:
"Du
kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heissen. Du musst Dich also Felix Bartholdy
nennen. Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen
Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt
Dir nicht, schon allein, weil es nicht wahr ist."
Der bereits zu Berühmtheit
gelangte Felix folgte dem Rat Abrahams dennoch nicht. Der Sohn, dem Vater in allem
übrigen ehrerbietig gehorsam, widersetze sich dies eine Mal. Obgleich ein
tiefgläubiger Protestant, war es ihm ausgeschlossen, die familiäre Tradition
und Identität zu negieren. Es kam schliesslich zu der Übereinkunft,
künftig beide Namen, parallel, gleichberechtigt einander gegenüberstehend;
unverbunden zu nennen.
Als Synonym einerseits für das familiäre
Erbe und den Schritt in die von Abraham imaginierte Gewissheit potentieller bourgeoiser
Geborgenheit andererseits. Im übrigen hatten die gepflegte Diffamie Carl
Friedrich Zelters, dass Hepp-Hepp-Judenjung! - Geschrei, welches Felix und Fanny
allenthalben entgegenschlug, also die beharrliche Ansprache eines Stigmas jüdischer
Geburt Felix hinlänglich bewiesen: die bürgerlich-christliche Gesellschaft
des 19. Jahrhunderts beabsichtigte keineswegs, Juden, ob getauft oder nicht, dauerhaft
und gleichrangig in Ihre Reihen aufzunehmen.
Die falsche Schreibweise Felix Mendelssohn-Bartholdy bezeugt somit die Ahnungslosigkeit oder gar Bedenkenlosigkeit bezüglich diffiziler jüdisch-deutscher Befindlichkeiten. Oder schlimmer noch: das antisemitisch bedingte Bestreben, den Schritt der Mendelssohns in die protestantisch geprägte Bürgerlichkeit nachhaltig zu negieren oder vielmehr, einen auch nicht durch den Versuch der Namensangleichung überbrückbaren Makel jüdischer Geburt, die Zugehörigkeit Mendelssohns zur jüdischen "Rasse" als untilgbares Stigma ein für allemal festzuschreiben.
Dennoch bekannte sich Felix Mendelssohn Bartholdy uneingeschränkt
zu den kulturellen und historischen Traditionen, der anthropologischen Bewusstheit
seines deutschen Heimatlandes.
Abraham Mendelssohn liess seine Kinder durchaus
im Geiste kosmopolitischer Bildung erziehen und gestattete dem musikalisch bewunderten
Jüngling Felix ausgedehnte Bildungsreisen durch die Kulturnationen Europas.
Dieser ging, nachdem Cherubini am Conservatoire de Paris die Begabung des Jungen
geprüft und dem Vater die unbedingte Befähigung zu zukünftiger
musikalischer Profession attestierte, daran, zu prüfen, ob ihm die europäischen
Kulturzentren möglicherweise ebenfalls eine musikalische Heimat zu finden
ermöglichten.
Das Ergebnis stand im Jahre 1832 endgültig fest. Noch aus Paris teilt er es zu Jahresbeginn seinem Mentor Carl-Friedrich Zelter mit:
"Wenn ich...nur von den Hauptpuncten meiner Reise Ihnen hätte
schreiben wollen, so hätte ich es eigentlich aus Deutschland thun müssen.
Denn wie ich jetzt nach alle den Schönheiten, die ich in Italien und der
Schweiz genossen hatte,...wieder nach Deutschland kam, und namentlich bei der
Reise über Stuttgart, Heidelberg, Frankfurt, den Rhein herunter nach Düsseldorf,
da merkte ich, daß ich ein Deutscher sey und in Deutschland wohnen wolle...."
Einerseits beharrte er auf seinem jüdischen Geburtsnamen und der Bewusstheit
seines jüdischen Grossvaters, andererseits aber registrierte er die allgemein
um sich greifende Verketzerung staatsbürgerlicher Habilitation deutscher
Juden wachsam.
Somit erfüllte ihn das Bekenntnis zu diesem seinem Heimatlande
unausgesetzt mit Befürchtungen. Und so schliesst besagtes Schreiben mit der
Erwägung, zukünftig ja immer noch von den Möglichkeiten europäischer
Musikzentren Gebrauch machen zu können, wenn denn: "die Leute mich einmal
in Deutschland nirgend mehr haben wollen, dann bleibt mir die Fremde immer noch,
wo es dem Fremden leichter wird, aber ich hoffe, ich werde es nicht brauchen."
Dieser Wunsch zumindest wurde Felix Mendelssohn in Persona erfüllt. Wie es mit der Verankerung des Felix Mendelssohn Bartholdy in Heimat und Fremde insgesamt; der Ein- oder Ausbürgerung des "historischen Augenblicks" Felix Mendelssohn (Hans Mayer) bestellt bliebe, an dieser Stelle zu resümieren, hiesse vorzugreifen.
Bereits zu Lebzeiten fiel der Komponist und spätere Gewandhauskapellmeister Kritik anheim, welche sich nicht an der musikalischen Leistung, sondern an der jüdischen Abstammung Mendelssohns entzündete.
Als im Jahre 1833 nach dem Tode Carl Friedrich Zelters die Nachfolge
in der Leitung der Berliner Singakademie zur Wahl stand, votierten 152 Mitglieder
für den musikalisch als farblos überlieferten Kandidaten Carl Friedrich
Rungenhagen und 88 für den Kandidaten Felix Mendelssohn. Obgleich dieser
im Jahre 1829 die Akademie mit der Wiederaufführung der Matthäuspassion
zu einem Musikereignis führte, erhoben sich innerhalb derselben Rumor wie:
"...die Singakademie sei, durch ihre fast ausschliessliche Beschäftigung
mit geistlicher Musik, ein christliches Institut, es sei darum unerhört,
daß man ihr einen Judenjungen zum Director aufreden wolle". (zitiert
nach Eduard Devrient) "Sie wollten ihn halt nicht haben, den Judenjungen!"
konstatiert Hans Mayer im Rückblick auf die Vorgänge der Berliner Chorwahl
und Mendelssohns Démission vom Amte des Musikdirektors der Stadt Düsseldorf.
Das Votum gegen einen Chordirektor Felix Mendelssohn kann auch als gezielter,
sublim antisemitsch motivierter Affront gegen die Familie Mendelssohn interpretiert
werden. Diese war personell innerhalb des Chores zahlreich vertreten und trat
darüberhinaus als Mäzen der Akademie auf; nach der Brüskierung
Felix zogen sich die Mendelssohns vollständig von der Singakademie zurück.
Manfred Blumner, der Direktor späterer Jahre, führt hingegen zur
Rechtfertigung des damaligen Wahlgeschehens heran: "...daß es viele,
namentlich älteren Mitgliedern Bedenken erregen musste, einem 23 jährigen
Jünglinge an eine soviel persönliches Ansehen erfordernde Stelle (...)
zu berufen" und "ahnten doch viele noch nicht seine ganze nachhaltige
Größe und Bedeutung." (Berlin 1891) Auch von Intrigen, einer "unappetitlichen
Rolle" der "raffgierigen" Doris Zelter (die Tochter Carl-Friedrich
Zelters) und erheblichen Kabalen um die Direktionsnachfolge ist die Rede. In Rückerinnerung
an die Tage sensationell wiedererweckter Matthäuspassion im Frühjahr
des Jahres 1829 berichtet Devrient weiter, das Felix nächtens mitten auf
dem Opernplatz stehen bleibend, übermütig rief "daß es ein
Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte
christliche Musik wiederbringen!" Es verweist auf die Fähigkeit des
Jünglings, sowohl die unausgesetzt diffuse staatsbürgerliche und soziale
Situation als auch das vertraut-inkriminierende "Judenjungen! Attribut zeitweilig
ironisch zu kommentieren.
Die literarisch-politisch agierende "Jungdeutsche Bewegung" der 30ssiger und 40ziger Jahre; dieser gehörten u. a. die Literaten Heinrich Laube, Georg Büchner, Karl Gutzkow, Theodor Mundt, Ludwig Börne und Heinrich Heine an, kultivierte neben liberalen, förderalistischen und revolutionären Forderungen auch erhebliche antisemitische Ressentiments. So sahen sich studentische und publizistische Aktivisten in den eigenen Reihen wie die Konvertiten Heinrich Heine und Ludwig Börne stetiger Diffamierung ausgesetzt; wurden beispielsweise als "jungpalästinensich" verhöhnt.
In den Jahren 1835 und 1841 wurde die Familie Mendelssohn zum unmittelbaren Objekt antisemitisch intendierter Intrigen. Diese hätten in der Folgewirkung beinahe zu Handgreiflichkeiten des Komponisten gegen einen nachrangigen, den Kreisen der Zelter-Familie zugehörigen Publizisten und somit zu einem Eklat geführt. Prof. Friedrich Wilhelm Riemer, ein Studienrat und Adept Johann Wolfgang von Goethes veröffentlichte im Jahre 1841 Reminiszenzen an den Dichterfürsten unter dem Titel: "Mitteilungen über Goethe". Als Herausgeber Goetheschen Nachlasses provozierte Riemer bereits im Jahre 1835 mit der indiskreten Publikation des unzensierten, die Belange zahlreicher lebenden Personen wie die Mendelssohns nunmehr der Öffentlichkeit preisgebeneden Korrespondenz des Goethe-Altersfreundes Zelter.
Darunter auch jenes berüchtigte, Eingangs zitierte Schreiben vom Judensohne und den Künstlern. Fanny und Felix Mendelssohn brachen daraufhin auch in der Erinnerung mit dem einstmals verehrten und geliebten Lehrer. Die innerfamiliäre Erregung angesichts der Affäre, Beschuldigungen hinsichtlich semitischer Machenschaften, mit welchen Riemer das Haus Mendelssohn überzog, führten möglicherweise zum unerwartenden Tod Abraham Mendelssohns durch einen Schlaganfall am 19. November 1835. Doris Zelter, die einstmals unter der Protektion Abraham Mendelssohns stehende Tochter C. F. Zelters, wurde als intrigant, altjüngferlich und verbittert überliefert. Als Co-Initiatorin der Publikation, kommentierte sie den Vorgang in einem an Riemer gerichteten Schreiben verständnislos, aber mit abfälligem Unterton:
"Was nun die Persönlichkeit Zelters anbetrifft, so habe ich mir die ganze Synagoge auf den Hals geladen, und ich glaube kaum, daß der alte Tempel das Klagegeschrei und Gequatsche aushält (...) Mendelssohns benehmen sich wunderlich genug"
In seinen nunmehr
im Jahre 1841 herausgegebenen "Mitteilungen über Goethe" nutzte
Riemer das potentielle öffentliche Interesse am Sujet offenkundig zur Rhetorik
in eigener Sache sowie zu agressiver antijudaischer Agitation. In Kapiteln wie
jenem, "Juden" übertitelten, sind Ausfälle gegen assimilierte
ehemalige Juden wie Abraham, Fanny und Felix Mendelssohn zu lesen:
"Das
Prinzip, aus dem die ganze (jüdische) Nation hervorgegangen, aus dem sie
gehandelt hat...ist indelibel; man denke also nicht Mohren Weiss zu waschen, auch
dank der christlichen Taufe nicht, wie man etwa im Mittelalter den foetor judaicus
(den Judengestank) dadurch zu tilgen glaubte..."
Des Weiteren griff
Riemer demonstrativ auch die Abraham-Mendelssohn-Affäre des Jahres 1835 wieder
auf. Eingangs verhöhnte er das Angedenken des Verstorbenen mit Phrasen, welche
im Geiste dezidierter persönlicher Entwürdigung auf den Assimilierten-Status
anspielten:
"Möge indessen der gute Schwiegerpapa (d. i.: Abraham
Mendelssohn) sich durch das, was Börne und Heine (sic!) über Goethe
vor den Augen des ganzen Deutschlands ausgegossen, zu seiner Satisfaktion mitgerächt,
oder, wie man sagt, mitgerochen haben!"
Schwerwiegender erwiesen sich die erneut vorgebrachten Vorwürfe semitischer Zensurbestrebungen seitens der Familie Mendelssohn. Riemer behauptete in den "Mitteilungen" Abraham Mendelssohn habe ihn seinerzeit als Herausgeber der Zelter-Goetheschen Korrespondenz vermittels anonymen Schreibens unter Druck setzen wollen, unvorteilhafte Äusserungen des Dichterfürsten über die künstlerischen Fähigkeiten Wilhelm Hensels; Fannys Bräutigam, zu unterschlagen.
Wie wir aus einem Schreiben des Komponisten vom 3. Juli 1841 an den Bruder Paul Mendelssohn wissen, erregte sich Felix Mendelssohn über "eine so lieblose, mich empörende Weise", in welcher Riemer "über Vater gespöttelt und hergezogen" sei in hohem Maße.
Er erwog allem Anschein nach ernstlich, dem Angedenken des Vaters durch einen öffentlichwirksamen Ohrfeigenauftritt Riemer gegenüber, Genugtuung zu verschaffen. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Gewandhauskonzerte, Conrad Schleinitz, brachte den bereits zu hohem Ruhme und Ansehen gelangten Kapellmeister seines Hauses aber "ernstlich und besorgt" von diesem Unterfangen ab.
Mendelssohn schrieb dem Bruder des Weiteren:
"Lies übrigens das ganze Capitel "Juden" aus, um den Mann gehörig kennen zu lernen. Ich weiss wohl, dass der selige Vater mirs zum Gesetz gemacht hat, in keiner Weise von gedruckten Angriffen Notiz zu nehmen...aber dass einer den Namen unseres verstorbenen Vaters und unserer Ahnen auf so elende Art missbraucht, daß kann und darf ich nicht ungeahndet lassen."
In einer Rezension der Ballade Ahasver
des Dresdner Dramatikers Julius Mosen (dieser hatte sich vor allem durch ein Rienzi-Drama
namhaft gemacht, welches parallel zur 5-aktigen Erfolgsoper Richard Wagners entstand)
aus dem Jahre 1838 dozierte Karl Gutzkow u. a. über vermeintlich semitische
Grundwesenszüge der Titelfigur. Des Weiteren sprach er sich vehement gegen
Bestrebungen staatsbürgerlicher Habilitation von Juden aus:
"Ahasver
ist der Jude in seinem nichtigen Materialismus (...), ist der Jude in alledem,
was ihn von dem Berufe, an der Geschichte teilzunehmen, ausgeschlossen hat, der
Jude gerade in seiner Missionsunfähigkeit. Er ist das Schlechte am Judentum,
das Lieblose, Parteiische, Hämische, Zersetzende, er ist gerade alles das,
was noch immer die Emanzipation am meisten verhindert."
Im gleichen
Zeitraum artikulierte sich erhebliches antisemitisches Ressentiment seitens junghegelianischer
Philosophen und Frühsozialisten. Letztere vor allem stellten die Juden ins
Zentrum radikalökonomischer Kapitalismuskritik und bezogen sich dabei auf
das tradierte Klischee des Schacherers. Wortführer sozialistischen Antisemitismus
waren Bruno Bauer, Arnold Ruge und Karl Marx. In der Publikation Judenfrage stellt
Bruno Bauer im Jahre 1842 dem Programm staatsbürgerlicher Habilitation die
Forderung entgegen, das die Juden sich vor dem Vollzug bürgerlicher Emanzipation
erst zu "Menschen" zu emanzipieren, also ihr konfessionelles Bekenntnis
aufzugeben hätten. Karl Marx paraphrasierte die Bauerschen Thesen im Herbst
des Jahres 1843 bereits im Titel des Essays "Zur Judenfrage" und wiederholt
darin sowohl die einschlägigen Stereotypen des berechnenden Finanz- und Machtjuden
als auch die frühsozialistische These der Emanzipation, der Erlösung
des Menschen aller Konfessionen von der Macht und Faszination des Geldes. Marx
schrieb also:
"Welches ist der weltliche Grund des Judentums: (...) der "Eigennutz". Welches ist der weltliche Kultus des Juden ? Der "Schacher". (...) sein weltlicher Gott? Das "Geld". (...) Die Emanzipation vom "Schacher "und vom "Geld", also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. (...) Die "Judenemanzipation" in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation des Menschen vom "Judentum".
In der Ausgabe der "Neuen Zeitung für Musik" (NZfM) in Leipzig vom 1. März 1846 agitierte die Meissner Schriftstellerin Louise Otto (1819-95) in einem Artikel namens "Parteien - Cliquen" gegen den Gewandhausdirektor und Komponisten Felix Mendelssohn. Ohne ihn namentlich zu nennen, stellte sie in anspielungsreicher Beschreibung dessen umfangreiches lokales und überregionales Musikengagement als reaktionäre Egomanen-, Cliquen- und Adeptenwirtschaft dar. Obgleich sich Louise Otto in der Attacke auf Felix Mendelssohn offenkundiger judenfeindlichen Attribute enthielt, umriss sie beispielhaft einen zentralen Aspekt antisemitischen Demagogie. Es sollte wenig später ganz unmittelbar zum Ausdruck kommen und bis in die rassenbiologisch ausgeprägte Rhetorik des Nationalsozialismus unverändert gebräuchlich sein: der vermeintliche Hang und die Fähigkeit "des Juden", sich vermittels Cliquenwesens Vorteile, Einfluss, Beherrschung und Vormacht gar in Kultur und Gesellschaft zu verschaffen. In der NZfM behauptet Luise Otto also:
" (...) die einen halten eigensinnig fest an dem
Bestehenden, und möchten, daß immer Alles so bliebe, wie es gerade
ist - so stehen sie in der Mitte zwischen denen, welche nur am Vergangenen sich
erfreuen...und denen, welche das Dagewesene nur als Grundlage wollen gelten lassen,
darauf das Neue aufzubauen, dem die Zukunft gehören soll. (...)
Da ist
z. B. ein berühmter Componist, ein Kapellmeister, der organisiert sich aus
den Mitgliedern der Kapelle ein förmliches Hülfschor, um nicht nur seine
Kompositionen, sondern auch seinen Ruf und Namen hinausklingen zu lassen in alle
Welt, und nur was diesem Zwecke dient, darf von der Kapelle geschehen.
Die jüngeren Talente finden dann weder Anerkennung noch Ermunterung, es sei denn, daß sie eifrige Bewunderer des Meisters sind und in seinen Fussstapfen ihm nachtreten, ohne sich je beikommen zu lassen, einen anderen Weg zu gehen...Untergeordneten Talenten bleibt vielleicht...gar nichts anderes übrig, als irgend einer solchen machthabenden Persönlichkeit sich zu unterwerfen und nach deren Gutdünken sich brauchen zu lassen. Solche und ähnliche Vereinigungen sind Cliquen und keine Parteien. (...)
Der somit als eigensüchtig und reaktionär
dargestellten "Clique" stellt die Autorin in der Folge die Idealvereinigung
einer "Partei" hochherzig Gleichgesinnter gegenüber. In eindeutiger
Bezugnahme auf Mendelssohns Bemühungen um nachhaltigen Rückgewinn des
Bachschen Werkes umreisst sie vorab die Entwicklung eines zielstrebig geschürten
"Parteienstreites". Dieser sollte wenige Jahre darauf zum Ausbruch kommen
und die deutsche Musikwelt bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges bewegen. Wie sich
noch zu zeigen wird, hatte die "Neue Zeitung für Musik" im Benehmen
eines massgeblich tätigen publizistischen Agressors an den künftigen
Geschehnissen erheblich Anteil und bereitete demselben in Pamphleten wie diesem
offenkundig die ideologische Grundlage.
Luise Otto führt also des
Weiteren aus:
"Diejenigen, welche dem neueren Zeitbewusstsein huldigen,
welche an den Fortschritt, an die nothwendige Weiterbildung der Kunst glauben,
welche nicht in die Redensart der Kurzsichtigen einstimmen, als sei Alles, was
zu erreichen möglich ist, erreicht durch die grossen Leistungen der alten
Meister..."
Alle diejenigen sollten sich durch festeres Zusammenhalten
mit den Gleichgesinnten sich gewissermassen als Fortschrittspartei organisieren,
"um so leichter der ungleich stärkeren Schar derer entgegenzutreten,
welche von keinem Vorwärts etwas wissen wollen (...) Diese Leute, welche
nie von der Stelle wegzubringen sind, (...) halten (...), weil sie an gar kein
Weitergehen denken, also auch keine verschiedenen Wege einschlagen können,
weit einmüthiger zusammen, als die Freunde des Fortschritts, da es viele
Wege gibt, welche weiterführen".
Im November des Jahres 1846 unterstellte das "Leipziger Tagblatt" Mendelssohn als Uraufführungsdirigenten von Robert Schumanns 2. Symphony in einer anonym verfassten Rezension diffuse "mosaische" Interessen. Er habe im Verlaufe des Premierenkonzertes - dem begeisterten Drängen des Publikums nachgebend - seine fulminante Interpretation der vorangestellten Rossini-Ouverture "Wilhelm-Tell" demonstrativ wiederholt, bestrebt, die Uraufführung des Werkes eines deutschen Komponisten zu diskreditieren.
Der Anwurf verleugnet gezielt 2 wesentliche Umstände: die gängige zeitgenössische Konzertpraxis: d. h. Wiederholung von Darbietungen auf Aklamation hin; des weiteren die er freundschaftlich kollegiale Beziehung zwischen Schumann und Mendelssohn.
Wenige Abhandlungen Schumanns/ Mendelssohns erwähnen
diese anonym veröffentlichte, mit antisemitischem Affekt aufgeladene Rezension
im Leipziger Tagblatt. Er findet sich mehr oder weniger ausführlich dargestellt
lediglich bei Eric Werner, Walter Dahms und dem neuen Clara & Robert Schumann-Buch
von Wolfgang Held.
Die Zielgenauigkeit solcherart Infamie, beweist die
heftige Erregtheit Mendelssohns in Kenntnisnahme des Anwurfs. Er verweigerte inständig
die musikalische Leitung der B-Premiere des Werkes und künftig jedweder Aufführung
einer Schumann-Komposition. Nur dem gütlichen Einwirken Cécile Mendelssohns
und der als Gast im Hause Mendelssohn weilenden Clara Schumann war es geschuldet,
daß das B-Konzert am 16.11.1846 planmäßig durchgeführt wurde.
Genannter Anwurf bezeugt vielmehr nachhaltigen publizistischen Einfluss jungdeutscher Aktivisten im Vorfeld der Revolution von 1848. Studentische Männerbünde als massgebliche Träger des Revolutionsgedanken, geschult an Fichte, von Hetzschriften Constantin Frantz und des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn angeleitet, formierten das Nationalideal zunehmend in fanatischer Abgrenzung allem vermeintlich undeutschem Einfluss gegenüber. Aber nicht die Präsenz europäischer Nachbarstaaten, des romanischen oder slawischen Kulturraums etwa stand im Zentrum "germanomanischen" Eifers: er konzentrierte sich auf das vermeidlich Fremde im eigenen Lande: den Juden.
Hochrangige Persönlichkeiten des öffentliche Lebens - exemplarisch für das hardenberg´sche Ideal vollendeter staatsbürgerlicher Judenemanzipation stehend - gezielt als "mosaisch" herabzusetzten, galt demnach als das nationale Gebot.
Im Todesjahr Felix Mendelssohns
beschwor der Literat Heinrich Laube in einer von Konkurrrenzneid motivierten Polemik
gegen Giacomo Meyerbeer und dessen vermeintliche "Berliner Juden- und Cliquenwirtschaft"
eine Gefahr kultureller "Überjudung" Deutschlands herauf. Im Vorwort
der Erstauflage seines auf der Bühne erfolglos gebliebenen Dramas Sruensee
argumentierte er folgendermassen:
"Ein fremdes Element dringt neuerer
Zeit überall in unsere Bahnen, auch in die der Literatur. Dies ist das jüdische
Element. Ich nenne es mit Betonung ein fremdes; denn die Juden sind eine von uns
total verschiedene orientalische Nation heute noch, wie sie es vor zweitausend
Jahren waren (...). Ein solches Etwas des fremden Judentums liegt hier vor und
schiebt sich zudringlich in die deutsche literarische Welt, wie denn jeder Schriftsteller
(...) mit Leichtigkeit (...) nachweisen könnte und (...) nachweisen sollte,
da(ß) der Überdrang des jüdischen Moments bedenklich wird für
unsere nationalen Eigenschaften. Dies Etwas ist hier eine bereits tief verzweigte
Maxime des Berliner Judentums...aus diesem Elemente des... Berliner Judentums
im besonderen stammt die Taktik Herrn Meyerbeers."
Die Parallelen zu der wenige Jahre später einsetzenden Debatte um eine vermeintliche semitische Dominanz Mendelssonscher und Meyerbeerscher Kompositionen innerhalb der deutschen Musik sind unübersehbar. Der Zeitgeist zunehmender Propaganda nachhaltiger Entfernung "semitischer Elaborate" aus dem kulturellen Kontext, der Bereinigung desselben vom Fremdelement wohnt den Worten Laubes exemplarisch inne.
Intermezzo
I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden!
Wenige Stunden
vor Mendelssohns Tod, schrieb Ignaz Moscheles am Morgen des 4. November 1847 im
Hause Mendelssohn folgende Zeilen und lässt uns somit an einem meditativen
Moment intimster, gleichwohl vergeblicher Betrachtungen teilnehmen:
"Dir,
o Schöpfer, ist es bewußt, warum Du in dieser Seele des Gemüts
angehäuft hast, die die zarte Hülle seines Körpers nur eine beschränkte
Zeit zu tragen fähig ist (...). - Kann unser Flehen nicht diesen Menschen
uns erhalten? - Dein Werk ist vollbracht. (...) - Keiner ist Dir näher gekommen
als er, für dessen Dasein wir zittern. - Laß ihm auch den irdischen
Lohn werden! Laß ihn die Liebe zu seiner Lebensgefährtin, die Entwicklung
seiner Kinder, die Bande der Freundschaft, die Verehrung der Welt geniessen!"
3.
Der grösste, lebende Komponist
Die New York Tribune vermeldete am 13. Dezember 1847 der musikinteressierten Öffentlichkeit: "Am 4. November verschied Dr. Felix Mendelssohn Bartholdy - der grösste lebende Komponist - in seinem 38. Lebensjahr;...Dieser vorzeitige Tod, der für die ganze musikalische Welt ein nicht wieder gut zu machender Verlust ist, wurde durch eine Gehirnerkrankung verursacht und ohne Zweifel durch schwere geistige Arbeit herbeigeführt. Seit 1835 lebte er in Leipzig, wo er...ein so lebhaftes und vornehmes Verhalten in sich vereinigte, daß er die Herzen aller gewann... Wahrlich - in ihm war ein hervorragender Geist..."
In jenen Zeiten war der Telegraph gerade erst erfunden, beschränkte sich dessen Anwendung noch auf Kurzstreckenverbindungen von Landeshauptstädten. Interkontinentale Informationen konnten also ausschliesslich auf dem Seewege weitervermittelt werden; so nahm der Postweg London - Neu Dehli noch 30 Tage in Anspruch. Somit zeugt die Veröffentlichung eines Nachrufes auf Felix Mendelssohn Bartholdy in einem führenden amerikanischen Presseorgan, nur 5 Wochen nach dessen Tode veröffentlicht, von der grossen Wertschätzung des Genannten auch in den Städten der Neuen Welt.
Eigentümlich im Vergleich dazu bzw. geradezu medioker nahmen sich die Umstände aus, unter welchen die Neue Zeitung für Musik ihre Leserschaft vom Tode des Komponisten in Kenntnis setzte. Im Jahre 1835 von der Davidsbündlerschaft Robert Schumanns in Leipzig gegründet, hatte sich diese über das Ausscheiden des Initiators aus der Redaktion hinaus, zu einem führenden Organ des deutschen Musiklebens entwickelt.
Die NZFM erschien aktualitätsnah etwa alle 4 Tage und wurde den deutschlandweit zeichnenden Abonnenten über örtliche Buchhändler zugestellt. Obwohl örtlich unmittelbar präsent, schwieg sich das Musikorgan über 2 Nummern - die Ausgaben Nr. 38 vom 8.11.1847 und 39 vom 11.11.1847 - hinweg über den Verlust eines hochrangigen zeitgenössischen Tonschöpfers aus. Erst 11 Tage später, nunmehr in der Ausgabe Nr. 40 vom 15.11.1847 vermeldete die NZFM den Tod Mendelssohn Bartholdys unter Vermischtes.
Der etwa 1-spältige Artikel wird mit der lakonischen Verweis eingeleitet, daß ja: "der grosse Verlust, den Leipzig und die Tonkunst der Gegenwart betroffen hat, ...schon allgemein bekannt geworden" sei. Ohne sich - in welcher Weise auch immer - ästhetisch wertend auf das Lebenswerk des Verstorbenen einzulassen, erschöpft sich die Meldung in penibel vorgenommener Darstellung der Todesumstände und des Leichenbegängnisses. Offenkundig am Gegenstande desinteressiert klingt der Artikel folgendermassen aus: Was die Kunst an ihm verloren, das brauchen wir hier, die wir ihm stets mit wahrhaftem Interesse gefolgt sind, nicht auseinanderzusetzen."
Wenige
Monate nach Mendelssohns Tode bereits nahm die Wertschätzung des Komponisten
unter den musikalisch gebildeten Bürgern Leipzigs rapide ab, schwand der
öffentliche Zuspruch an Darbietungen seiner Musik im Gewandhause nachweislich.
Am 3. Februar 1848, zur Wiederkehr von Mendelssohns 39. Geburtstage, fand daselbst
- nunmehr unter Gades Leitung - die Leipziger Erstaufführung von Mendelssohns
letztem grossen vollendeten Vokalwerk, des Oratoriums "Elias" statt.
In Birmimgham erlebte das Werk am 26. August 1846 die Uraufführung unter
begeisterter Anteilnahme von 2000 Zuhörern. Anders als in Gedächtniskonzerten
des Werkes, welche dem Gewandhausmemorial zeitgleich unter würdigeren Bedingungen
in Berlin stattfanden, stiess das Werk in der sächsischen Musikstadt auf
vergleichsweise wenig Interesse und Verständnis. Die örtliche Presse,
ja bereits mehrfach im Benehmen hervorgetreten, eine Abkehr öffentlicher
Wertschätzung Mendelssohns herbeizuführen, nahm den Vorgang sogleich
als Bestätigung einer publizistisch konstatierter Überschätzung
und folgerichtiger allgemeiner Abkehr des Publikums vom ehemaligen musikalischen
Idol auf. Mendelssohns Freund, Weggenosse und Nachfolger in Konservatoriumsdiensten,
der Komponist Ignaz Moscheles berichtet darüber:
"Das Konzert, zum Besten des Pensionsfonds gegeben, konnte sich unbegreiflicherweise nur eines zwei Drittel gefüllten Saales rühmen, die ehrfurchtsvolle Stille, mit der das Werk aufgenommen wurde, liess einige Blätter behaupten, das Publikum sei nicht davon ergriffen gewesen. Die ganze Sache rief bei uns und einigen Gleichgesinnten viel Entrüstung hervor".
Es ist schwer, die Ursachen des rapid vonstattengehenden, noch zu anderer Gelegenheit ersichtlichen Desinteresses der Leipziger Bildungsbürgerschaft zu raisonnieren, ohne gleichsam in Spekulation zu verfallen. Immerhin erwies dieselbe dem Verstorbenen gerade 3 Monate zuvor beim Hochamt und Leichenzug noch zu tausenden posthume Reverenz.
Hatte der zunehmend agressive Stil, welchen die NZFM im Bestreben dezidierter
Propaganda musikalischer Avantgarde an den Tag legte, das unter den Musikfreunden
Leipzigs vorherrschende Klima mittlerweile vollständig zugunsten aktueller
deutscher Komponisten wie Schumann, Liszt und Wagner beinflusst?
Diese wirkten
seinerzeit ja alle dominant in einem, von den Musikzentren Dresden, Leipzig und
Weimar gebildeten, sächsischen Kulturgrossraum.
Angemerkt sei, daß, unausgesetzter persönlicher Bewunderung Mendelssohns durch Schumann zum Trotze, in Mendelssohns letzten Lebensjahre die Beziehungen zwischen den genannten, mehr noch: zwischen deren Anhängerschaften von "Mendelssohnianern" und "Schumannianern" merklich abkühlten. Irritationen unter den Schumannianern, welche um die Uraufführung der 2 C-Dur Symphonie herum entstanden, teilweise von der presse gezielt lanciert wurde, konnten durch den Einsatz Clara Schumanns und Cecile Mendelssohns ja noch bereinigt werden. Mendelssohn wiederum erklärte ein halbes Jahr später unmissverständlich im Freundeskreis, daß er, verbittert über nicht näher überlieferte, unerträgliche, abfällige Bemerkungen des Kollegen, mit Schumann und seiner Musik endgültig nichts mehr zu schaffen haben wünsche.
Hans von Bülow, von ihm
an anderer Stelle mehr, kam im Jahre 1851 in dem Essay "Das musikalische
Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner" im Rückblick auf die
Wesensarten kulturellen Leipziger Lebens der späten 40ziger Jahre denn auch
zu folgendem unrühmlichen Ergebnis:
"Das musikalische Leipzig
hatte sich indessen nach Mendelssohn´s Tode in verschiedene Fraktionen gespalten.
Schumann ward der Abgott der Einen und bestieg den durch seines Vorgängers
Tod erledigten Thron. Wir sind weit entfernt, dies nicht in der Ordnung zu finden,;
doch wurde diese Erhebung von einer mindestens sehr überflüssigen Herabsetzung
der Verdienste Mendelssohn´s begleitet., welche dem Leipziger Lokalpartiotismus
, der wie schon den periodisch Abwesenden (wir erinnern an Gade) , in noch höherem
Grade den auf immer Entfernten, den Todten, Unrecht gibt."
Die im März des Jahres 1848 ausbrechenden Revolutionsunruhen bedingten möglicher- weise die Abkehr eines Grossteils bildungsbürgerlicher Bevölkerungsschichten von Überkommenem und deren Zuwendung zu radikalen Positionen auch in den Künsten.
4.
Antisemitismus
Die unmittelbaren Revolutionsjahre 1848/49 brachten erneut judenfeindliche Exzesse hervor, welche von nahezu allen ins Revolutionsgeschehen eingebundenen Gesellschaftsschichten ausgingen. So sind Plünderungen, Misshandlungen, Enteignungen und Erpressungen aus den Deutschlanden Baden, Bayern, Hessen, Württemberg, Schlesien und Westpreussen sowie den Städten Berlin, Köln und Wien dokumentiert.
Ungeachtet des jeweiligen Standpunktes, wurden die Juden als verantwortlich
für den Ausbruch der Unruhen, die gesellschaftlichen Umwälzungen, das
Gedeihen oder Scheitern von Revolution und Demokratie betrachtet. Die Progressive
beschuldigte die Juden, als Grossbürger und Finanziers das Feudalsystem zu
unterstützen oder als Polizeiagenten und -spitzel einer Rothschild´schen
Weltverschwörung zuzuarbeiten.
Die Konservative widerum sah die Revolution
als Werk "rothe(r) jüdische(r) Wühlerei" und der "Judenverschwörung
an. Das Kleinbürgertum und die Landstände sahen die Juden hingegen als
revolutionäre Förderer und Urheber, bestrebt, der gemeinhin verhassten
staatsbürgerlichen Judenemanzipation endgültig zum Durchbruch zu verhelfen.
Das publizistische Zentrum des revolutionären Antisemitismus befand sich
in den Städten Wien und Berlin. Während die Agitatoren der in Berlin
publizierten judenfeindlichen Pamphlete einen vergleichsweise gemässigten
Ton anschlugen, gaben sich die Publizisten Wiens zunehmend einschlägigen
rhetorischen Vernichtungsorgien hin. Der Korrespondent Paul Eduard Müller-Tellering
gelobte in der Broschüre: "Freiheit und Juden", sich "wie
jeder Volks- und Freiheitsmann" über die "Mittel" und den
"Zweck...Vernichtung des Judentums - in Österreich...ohne Schädeleinschlagen"
zu bedenken und gemahnte des revolutionären Auftrags, das Deutschlands Freiheit
nicht nur den Sturz der 34 Throne", sondern vielmehr die Beseitigung des
Judentums voraussetzte, denn: "die Tyrannei steckt im Gelde und das Geld
gehört den Juden".
Flugblätter, wie jenes nachfolgend zitierte
anonym publizierte oder letzteres von "Schmidt" autorisierte, suchten
im Wien des Jahres 1848 hingegen, unmittelbaren "Volkszorn gegen die Juden"
zu entfesseln. Der Anonymus prophezeite in "Die Juden, wie sie waren, sind
- und bleiben werden":
"Judenblut wird in Strömen fliessen"
und verdeutlichte den potentiellen Opfern, daß ihre Hoffnung hinsichtlich
"völliger Gleichstellung der Confessionen" auf "Jahrhunderte
weit hinaus gerückt werden" würde.
"Schmidt"
indessen verstieg sich in der "Bittschrift" unverhohlen zu Genozidvorstellungen:
"Wenn das Christenvolk kein Christenthum und kein Geld mehr hat", und
beides durch eure unablässige Bemühung so gekommen ist, dann, ihr Juden!
lasst euch eiserne Schädel machen, mit den "beinernen" werdet ihr
die Geschichte nicht überleben!"
Das erste demokratisch konstituierte Parlament Deutschlands, welches in den Jahren 1848/49 in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammentrat, sah erklärte Antisemiten wie den fanatischen Männerbündler und Chauvinisten Friedrich Ludwig Jahn in den Reihen der Abgeordneten. Eine Flut antisemitscher Petitionen aller Gesellschaftsschichten erreichte die Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung, wurden von jenen zur Beratung oder Abstimmung gebracht.
(In dem Essay 1848, Antisemitism and the Mendelssohn Reception
zeichnet Donald Mintz detailliert nach, das besagtes Revolutionsjahr 1848 auch
die Bewertung Felix Mendelssohns entscheidend in antisemitische Hemisphären
vorantrieb. Eine Auswertung des Essays durch die Cavallerotti e. V. steht noch
aus.)
5.
Das Judenthum in der Musik
Im Januar 1850 erkannte auch die musikalische Rezension Mendelssohns erstmals dezidiert auf einen vermeintlich semitischen Aspekt in dessen Musik. Dr. Eduard Krüger bemängelte in der "Neuen Berliner Musikzeitung" (NBMZ) in seiner Beurteilung der aktuell herausgegebenen Drei Psalmen Op. 78, Nr. 6 posthum "sangreiche(n) Weiberstimmen" welche in Mendelssohns Vokalwerk "rabbinisch belehrend unisonieren" bzw. eine "in allen M´schen Werken wie eine Phrase hindurchziehende stumpfe Rhytmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Rezitation erinnert" (NBMZ v. 2.1.1850). Der zeitgenössisch-musikalischen Resonanz der Psalmen und Oratorien biblischen Charakters ungeachtet, spricht Krüger des weiteren Mendelssohn die Berechtigung zu sakralem Schaffen generell ab. Die pauschale Herabsetzung der Kirchenmusik Mendelssohns ging Meinungen zahlreicher Musikpublizisten jener Tage konform. Diese erregten sich u. a. bereits über die "Judaisierung" christlichen Kulturgutes oder die Dreistigkeit der Autorisierung einer Reformationssymphony durch den Enkel des ursprünglich ja Mausche-ni Dessau gerufenen Moses Mendelssohn.
Am 5. Februar des gleichen Jahres erschien in der NZfM der erste Beitrag
polemischer Auseinandersetzungen um Werk und musikalische Ästhetik des bedeutenden
zeitgenössischen Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer. Für die Artikel,
insgesamt den neuesten grossen Bühnenerfolg des Komponisten "Der Prophet"
thematisierend, zeichnete stets der Musiker und Publizist Theodor Uhlig verantwortlich.
Hervorstechenstes Merkmal der partiell in Rezensionsform vorgebrachten Pamphlete
ist eine Begrifflichkeit, welche wenig darauf den Basiswortschatz jener, das Werk
Felix Mendelssohns als spezifisch jüdisch und somit pauschal wertloses Musikschaffen,
indizierenden Publizistik darstellte.
In dem genannten Beitrag "Der Prophet von Meyerbeer" verweist Uhlig in mehrdeutigen Worten auf mögliche Ursachen vermeintlicher rhythmischer und harmonischer "Eigenthümlichkeiten" in der Opernpartitur, deren "Ursache" er weder offenzulegen noch anhand des vorgegebenen Material musikdramaturgisch zu verdeutlichen bereit ist.
"(...)
Der Marsch nämlich, der sich sonst - wie sich von selbst versteht - in der
schönsten Symmetrie 4- und 2-tactiger Rhythmen fortbewegt, beginnt mit folgendem
Fünfer: (es folgt ein 5-taktiges Notenbeispiel vom Beginn des "Krönungsmarsches"
Der Demonstration eines Casus Lapsus folgt lediglich der Verweis auf
eine kryptisch anmutende Ursächlichkeit absonderlicher Meyerbeerscher Tonsprache:
"Ohne sich in eigene Untersuchungen über eine Erscheinung
einzulassen, die wie jede andere Ungewöhnlichkeit bei Meyerbeer zuverlässig
eine tiefe Bedeutung hat, glaubte der Beurtheiler den Nachahmern des alleinseligmachenden
Operncomponisten das vorliegende rhythmische Rätsel mit der naheliegenden
Aufforderung zur Lösung nicht vorenthalten zu dürfen."
Für
sich genommen könnte das Beispiel als ironische Abstrafung angemuteter Wirrheit
im musikalischen Entwurf eines missliebigen Zeitgenossen gelten.
Im Zusammenhang
mit den Folgeartikeln und ähnlichen, einmal mehr, einmal weniger zweideutig
vorgebrachten Charakterisierungen besehen, erschliesst sich angesichts von Begriffen
wie "tiefer Bedeutung", "Rätsel" und "Lösung"
die Perfidität sublim vorgenommener antisemitisch-dramaturgischer Steigerung
in der publizistischen Inszenierung eines fatalen Niederganges der Musik jüdischer
Komponisten.
Im weiteren Verlaufe des Artikels verlagert sich das demonstrativ
geäusserte Unbehagen eines deutschen Rezensenten an der Musik Meyerbeers
immer offenkundiger auf eine Schiene amusikalischer Mediokrität. So mit dem
ominös vorgebrachten Hinweis auf eine "natürliche Erklärung"
des monierten Sachverhaltes.
Im weiteren Verlaufe dieser Serie von Polemiken
gegen Meyerbeers "Le Prophete" verdichtete Uhlig in der NZFM sein Ressentiment
gegen das Werk auf ein als das zentrale Problem anzusehende Argument von "
Gesangsweisen..." welche "...einem guten Christen im besten Falle gesucht,
übertrieben, unnatürlich raffiniert erscheinen" und erkannte auf
eine "...mit solchen Mitteln betriebenen Propaganda des hebräischen
Kunstgeschmacks".
Er pauschalisiert des weiteren hinsichtlich "
(...) der Musik vieler jüdischer Komponisten" welche "alle nichtjüdischen
Musiker (...) mit Bezugnahme auf die allgemein bekannte jüdische Sprechweise
(...) als ein Gemauschele" empfinden.
Hans von Bülow, in späteren Jahren ein Dirigent von Weltruf, begann den von gravierenden Wechselwirkungen gezeichneten künstlerischen Lebensweg als jugendlicher Musikrezensent Berliner und Leipziger Publikationen.
Nicht von ungefähr sekundierte er im gleichen
Monat in der Berliner "Abendpost, democratische Zeitung" den Bestrebungen
Krügers und Uhligs. Er übertraf dieselben noch in einem signifikanten
Akt entschiedenen vorgenommener publizistischer Demontage des Komponisten Felix
Mendelssohn .
In der Besprechung der "Zweiten Symphonischen Soirée
der königl. Kapelle im Saale der Singakademie" vom 23. Februar 1850
ist also anlässlich einer Darbietung der A-Dur-Symphony zu lesen:
"Man hat Mendelssohn in seinem Leben überschätzt; keinem Künstler
ist je alles so von Statten gegangen; keiner hat je bei seinen Lebzeiten so viel
Zeichen der Verehrung und des Enthusiasmusses von allen Seiten erhalten (...)
und er hat seinen Namen (Felix) im Superlativ getragen. (...) Mendelssohn war
kein Mann der Zukunft, er schuf für seine Zeit, für die Gegenwart; (...)
(er) hat nie dem herrschenden Modegeschmack Concessionen gemacht, er hat ihn sogar
geläutert und erhoben.
Mendelssohn war aber kein Genie, sondern nur ein ausserordentliches Talent, dem Geschick und scharfer, praktischer Verstand, welches beides den Leuten seines Stammes in hohem Grade eigen ist, bedeutend zu Hülfe kamen. Der Unterschied zwischen Talent und Genie liegt (...) darin, daß (...) Talent stets bei seinem Auftreten mehr Beifall und wirkliche Sympathie antreffen (wird), als das Genie, das zuweilen abstösst und befremdet. (...)
Dafür ist aber dem Genie auch die Unsterblichkeit, d. h. die Popularität gewiss. Doch diese Entwicklung würde uns zu weit führen, und wir wollen nur noch bemerken, daß die genannte Symphonie von Mendelssohn (...) weniger Anklang im Publikum zu finden vermochte, als wir ihr gewünscht hätten (...); im letzten Satze ist jenes neckische, elfenhafte Element vorherrschend, in welchem die hauptsächlichste Originalität Mendelssohns besteht."
Von
Bülow komprimiert somit zweifelsohne kursierende zeitgenössische Vorurteile
gegen Erfolgsautoren, Privilegierte und Erfolgsjuden erstmalig zu einem analytisch
präzise umrissenen Bild des zur Kunst letztlich unberufenen, sich die Kunst
lediglich vermittels diverserer biographisch bedingter Privilegien anmassenden
Compositeurs.
Er legt gleichsam in Teilen den Katalog einschlägiger,
stereotyp referierter Subjektivismen einer, in der Musikgeschichte wohl einzigartig
bestehenden, rein biografisch hergeleiteten, rhetorischen Zersetzung der Substanz
und Intention von Musik, der Musik Felix Mendelssohns vor. Weitere Publikationen,
welche den Katalog entwertender Mendelssohn-Invektiven abrundeten und vervollkommneten
sollten zeitnah folgen.
Da dieser Katalog sich über 150 Jahre hinweg
bis in unsere Zeit hinein als wirksam erweisen und in Publikationen jüngeren,
stellenweise jüngsten Datums ihren Niederschlag finden, seien hier die wesentlichen
Stereotypen zusammengefasst: Felix = Glück; lebenslanger Erfolg, einziger
Siegeszug, lebenslange Sorgenlosigkeit, grosser Reichtum des Vaters, familiäre
Geborgenheit, allseits geliebt, Jude, musikalisch empfindungslos und artfremd,
Glätte, Kälte, perfektionistische Formelhaftigkeit, mangelnde Dramatik
und Verweichlichung, Sentimentalität in der Musik.
Das die Polemik
Uhligs in der NZfM gegen eine vermeintlich vorherrschende "musikalische Judenschule"
und "Judenmusik" von Anbeginn auch eine Relativierung der Musik Felix
Mendelssohns intendierte, offenbarte sich wenig später. Uhlig konstatierte,
das das semitisch-musikalische Idiom sich durchaus in unterschiedlicher Intensität
artikuliere, "je nachdem in dieser Musik hier der Charakter des Edlen, dort
des Gemeinen überwiegt" oder "Eigentümlichkeiten (...) der
metrischen Gestaltung, (...) in einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen
Phrase (...) hier nur ganz wenig, dort ganz auffallend (...), bei Mendelssohn
sehr gelind, bei Meyerbeer dagegen in höchster Schärfe, namentlich in
seinen Hugenotten, nicht minder auch in seinem Propheten" zum Tragen kämen.
Die Rezension schliesst mit dem Verweis: "...Ebensowenig wie die
Ihnen analogen Sprechweisen (...) diese Tonweisen schön oder nur erträglich
da finden zu können, wo sie (...) ganz unmittelbar an das erinnern, was ich
nicht anders, denn als "Judenschule" zu bezeichnen weiss."
Uhlig liess es nicht dabei bewenden, Felix Mendelssohn lediglich im Anhang einer Diffamierung Giacomo Meyerbeers pauschal herabzusetzen. In einer Rezension der im Jahre 1843 in Berlin uraufgeführten "Sommernachtstraum"-Schauspielmusik stellt er bereits die dramatische Wirksamkeit und musikalische Qualität des Werkes dezidiert in Frage: "(Mendelssohn) mutet dem Zuhörer nicht zu, aus einer Dichtung die Hauptwesenheiten herauszulesen...Als Mendelssohn die übrige Musik zum Sommernachtstraum noch nicht geschrieben hatte, wussten die kunstverständigen Leute bloss für das eine Tonbild der Ouvertüre die allerdings naheliegende Erklärung aufzufinden und gaben die Musik desselben für "Elfengeflüster aus. Der Komponist hat diese Annahme später sanktioniert, zugleich aber auch gezeigt, was alles er in diesem Tonstücke gewollt und - nicht gekonnt hat..." (Th. Uhlig, Musikalische Schriften, Regensburg 1913; da der Autor bereits im Jahre 1853 im Alter von nur 30 Jahren an einer Lungenentzündung verstarb, handelt es sich wahrscheinlich um eine zeitgenössische Rezension der Schauspielmusik).
Die Autoren Dr. Eduard Krüger, Theodor Uhlig und Hans von Bülow betätigten sich neben der Erfüllung ihrer publizistischen Verpflichtungen in Berlin und Dresden in den Jahren 1850ff auch massgeblich als Polemiker in der NZfM in Leipzig. Sie zeigten sich somit dem Umkreis der Weimarer Liszt-"Schule" und den daraus erwachsenden Fanatismen zugehörig. Dies lässt folgende Vermutung als legitim erscheinen: Die Publikation aggressiv oder verhalten antisemitisch agitierender Texte, zum Auftakt einer Pressekampagne gegen herausragende zeitgenössische Komponisten nahezu zeitgleich in mehreren Städten und Presseorganen erfolgend, war womöglich das Ergebnis einer konzertierten, auf Absprachen beruhenden Aktion.
Die Kampagne der NZfM gipfelte im September des Jahres 1850 schliesslich in der Veröffentlichung eines halbwissenschaftlich aufbereiteten Aufsatzes, welcher die bislang vereinzelt ausgestreuten Polemiken unter der Losung "Das Judenthum in der Musik" zusammenfasste.
Der Name Karl Freigedank unterzeichnete diesen, der Name eines der damaligen Öffentlichkeit bislang völlig unbekannten Autors freilich. Im Jahre 1869 sollte er sich als Pseudonym eines aufstrebenden Musikers erweisen, welcher seinerzeit möglichem Imageverlust vorzubeugen beabsichtigte.
Das Pamphlet verbreitet u. a. folgende Thesen:
1.
Alle Kunst hat ihre besten und stärksten Wurzeln im Volkstum; die künstlerische
Leistung ist abhängig von der völkischen Verbundenheit des Künstlers.
2. Im Bemühen, sich in der harten, zischenden Sprechweise seines Volkes
des Idioms deutscher Sprache zu bedienen, könne der Jude als Fremder lediglich
Abstossendes und Lächerliches hervorbringen. Vollends unerträglich sei
der Versuch im Gesangsvortrag deutscher Sprache durch einen Juden. Der Artikulation
im Idiom der Landessprache nicht befähigt, habe sich der Jude somit der Frage
zu stellen, ob er in diesem Lande überhaupt kunstberechtigt sei.
3. Der Jude sei von unangenehm fremdartiger Erscheinung und erfülle daher den Europäer mit instinktivem Widerwillen gegen das jüdische Wesen. Daher habe sich der Jude, als Individuum sowie allgemeinhin seiner Gattung nach, als Objekt künstlerischer Darstellung in Malerei, der Musik und auf der Bühne von jeher als ungeeignet erwiesen. Wer es aber innerhalb der deutschen Kunst niemals zu objektiver Relevanz gebracht habe; also der künstlerischen Darstellung enthoben blieb, dem könne man diesbezüglich auch keine subjektive Einbindung zugestehen; ist also zu kompetenter künstlerischer Betätigung nicht befähigt.
4. Der Jude suche sich vermittels Imitation in Kleidung, Bildung und Sprache der abendländischen Kultur zu amalgamieren. Der wahren Identität dennoch stets eingedenk, sei er somit von der nationalen Beseeligung des Gastlandes ausgeschlossen. Daher seien ihm die Menschen des Gastlandes, auch im Versuch künstlerischer Artikulation, emotional nicht erreichbar. Der Rückschluß auf formal perfekte, aber von seelischer Kälte erfüllte Kopien der Muster nationaler Vorbilder läge somit auf der Hand.
5. Der Jude habe niemals autonom Kunst betrieben, daher stünde dem jüdischen Tonsetzer einzig das Idiom synagogaler Vokalisen zu Gebote. Dies habe sich ursprünglichen Adels, Reinheit und Erhabenheit längst enthoben und sei auf den Zeitgenossen nurmehr in allerwiderwärtigster Trübung überkommen. Daher bediene sich der Jude bevorzugt jener Elemente musikalischer Diaspora, welche er dem vertrauten Synagogenton missverständlich als verwandt erachte. Sich von jeher im Oberflächenbereich abendländischer Musik bewegend, zur Unkenntnis innerster Beseeligung des deutschen Kunstwesens nahezu verdammt, nähme der Jude gewisse gefälligste Äusserlichkeiten der Musik als deren Wesen hin und versuche sich nunmehr in vollendeter Kopie funkelnder Äusserlichkeiten des Originals. Die musikalischen Reproduktionen aus der Hand des jüdischen Tonsetzers erschienen dem abendländischen Hörer zweifelsohne fremdartig, kalt, gleichgültig, unnatürlich und verdreht.
Der Autor beliess es natürlich nicht bei allgemeingefasster
Darstellung des heraufbeschworenen jüdisch-musikalischen Dilemmas. Er befleissigt
sich vielmehr, es am konkreten, fassbaren, naheliegenden "Objekt" zu
veranschaulichen. Daher lesen wir am Ende des Traktates vom "Judenthum in
der Musik" eine Einschätzung von Person und Musik Felix Mendelssohns,
welche sich als folgenschwer herausstellen sollte.
Hier im Wortlaut: "An
welcher Erscheinung wird uns dies alles klarer, ja an welcher konnten wir es einzig
fast inne werden, als an den Werken eines Musikers jüdischer Abkunft, der
von der Natur mit einer spezifischen musikalischen Begabung ausgestattet war,
wie nur wenige Musiker (...) vor ihm? Alles, was sich bei der Erforschung unserer
Antipathie gegen jüdisches Wesen der Betrachtung darbot, (...) alle Unfähigkeit
desselben, ausserhalb unsres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns
verkehren (...) zu wollen, steigern sich zu einem völlig tragischen Konflikt
in der Natur, dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste (...) Ehrgefühl besitzen kann, ohne es (...) je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir (...) der Kunst (...) fähig wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer Kunst sozusagen nur den Mund auftat".
Freigedank bemüht sich, eine naturgegebene
musikalische Apathie des Juden Mendelssohn aus dessen Werken, genauer, deren spezifischen
musikalischen Idioms heraus zu präzisieren. Er konstatiert daher gemeinverbindlich
eine diffuse allgemeine Empfindung von Oberflächlichkeit beim Anhören
Mendelssohnscher, also dezidiert "jüdischer" Werke und sucht dabei
den Rückhalt analytischen Sachverstandes bei "Kritikern vom Fach",
ohne freilich solche konkreter benennen zu können:
"Kritikern
von Fach, welche hierüber zu gleichem Bewusstsein mit uns gelangt sein sollten,
möge es überlassen sein, diese zweifellos gewisse Erscheinung aus den
Einzelheiten der Mendelssohnschen Kunstproduktion nachweislich zu bestätigen:
uns genüge es hier, zur Verdeutlichung unserer allgemeinen Empfindung uns
zu gegenwärtigen, daß beim Anhören eines Tonstückes dieses
Komponisten wir uns nur dann gefesselt fühlen konnten, wenn nichts anderes
als unsre, mehr oder weniger nur unterhaltungssüchtige Phantasie, durch Vorführung,
Reihung, und Verschlingung der feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren,
wie im wechselnden Farben- und Formenreize des Kaleidoskopes, vorgeführt
wurden , - nie aber da, wo diese Figuren die Gestalt tiefer und markiger menschlicher
Herzensempfindungen anzunehmen bestimmt waren (...) Für diesen letzteren
Fall hörte für Mendelssohn selbst alles formelle Produktionsvermögen
auf, weshalb er denn namentlich da, wo er sich, wie im Oratorium, zum Drama anlässt,
ganz offen nach jeder Einzelheit, welche diesem oder jenem zum Stilmuster gewählten
Vorgänger als individuell charakteristisches Merkmal besonders zu eigen war,
greifen musste. Bei diesem Verfahren ist es noch bezeichnend, dass de Komponist
für seine ausdrucksunfähige moderne Sprache besonders unseren alten
Meister Bach als nachzuahmendes Vorbild sich erwählte.".
Nicht allein, daß Freigedank mit den Schlagworten "unterhaltungssüchtige Phantasie auf Seiten des Publikums" sowie "Vorführung, Reihung von feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren zum Erlebnis eines Farb- und Formenreizes eines Kaleidoskops vergleichbar" die Musik Mendelssohns und anderer Komponisten jüdischer Abstammung unmissverständlich zu Elaboraten kunstgewerblicher Manufaktur deklariert, ja dieselben quasi dem Bereich der Jahrmarktsattraktionen zuordnet. Im Zusammenhang mit der im allgemeintheoretischen Part des Traktates getroffenen, nachfolgend wiedergegebenen, Charakterisierung allgemeinjüdischer Kulturproduktion betrachtet, legte Freigedank somit eine folgenschwere Systematik negativer Schlagworte vor. Diese schlugen sich vor allem in Begriffen wie perfektionistischer Glätte, Kälte, seelenloser Formenhaftigkeit der vermeintlich in Kopie von Stil und Kompositionsmustern nationaler Vorbilder entstandenen Werke, mangelnder emotionaler Tiefe aber auch jenem übermässig trivialer Sentimentalität mendelssohnscher Musik.
Diese sollte - wie sich noch erweisen wird - in schematischer und wortwörtlicher Repetition die publizistische Rezeption des Gesamtbildes mendelssohnscher Musik bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dominieren. Die entsprechenden Invekitve sind leicht erkenntlich: "Was so der Vornahme der Juden, Kunst zu machen, entspricht, muss daher notwendig die Eigenschaft der Kälte, der Gleichgültigkeit, bis zur Trivialität und Lächerlichkeit an sich haben".
Wulf Konold brachte das - kulturhistorisch wohl einzigartig dastehende - Phänomen im Jahre 1984 mit der Einschätzung treffenst zu Punkte, daß die Rede vom Judenthum in der Musik für einschlägig gesinnte Musikpublizisten, "aber auch Autoren, die den Verdacht jeglichen Antisemitismus zu Recht von sich gewiesen hätten...eine Art "Sprachregelung" hinsichtlich musikgeschichtlicher Mendelssohnrezeption vorgab.
Als Resultat vorgeblich objektiv, detailliert vorgenommener analytischer Betrachtung der semitischen Persönlichkeit und Musiksprache Mendelssohns referiert Freigedank seine Erkenntnis auf vollständige künstlerische Impotenz des Komponisten; genauer, auf konstant bestehenden Grenzen "alle(n) formelle(n) Produktionsvermögen(s)" im Mendelssohnsschen Oeuvre. Er trachtet, dem Hörer stets die Unfähigkeit des Komponisten, literarisch-dramatischen Figuren "die Gestalt tiefer, menschlicher und markiger menschlicher Herzensempfindungen" zu verleihen, überdeutlich vor zu führen.
Freigedank definiert die, das Mendelssohnsche Werk prägende "ausdruckslose moderne Sprache" demzufolge als Resultat und zugleich Vorbild eines "neu-jüdischen Systems. Dies sei, auf diese Eigenschaft (dramatischen Unvermögens, Anmk. d. Verf.) Mendelssohnscher Musik, wie zur Rechtfertigung dieser künstlerischen Verkommenheit entworfen worden. Freigedank stellt die "ausdruckslose moderne Sprache" Mendelssohns in unmittelbaren Bezug zum nurmehr historizistisch zu rezipierenden Formalismus des Bach´schen Musikidioms. Dies müsse zweifellos als "formell, pedantisch" empfunden werden und sei nur durch das übergrosse Genie Bachs "eben erst zum Durchbruche" zu "rein menschlichem Ausdruck" hin gebracht worden. Übergrossem musikalischen Genie also, welches einem Mendelssohn demzufolge keinesfalls gegeben sei.
Die Konstatierung eines von Mendelssohn in den Bereich der deutschen
Musik implizierten und von seinen Nachfolgern perfektionierten "neu-jüdischen
Systems", schliesst den Kreis zum ersten Teil Freigedankscher Allgemeinbetrachtung
"musikalischen Judentums."
Dort war ja von verzerrter, oberflächlicher
Wahrnehmung zeitgenössischen Musikschaffens aufgrund fragentarisch im Bewusstsein
verbliebenen Idioms der Synagogenmusik, von Resultaten jüdischen Kopmponierens,
welche "fremdartig, kalt, sonderlich, gleichgültig, unnatürlich"
erscheinen, die "Eigenschaft der Kälte, Gleichgültigkeit"
und "Trivialität" aufweisen würden, die Rede.
Im Zusammenhang betrachtet, bedeutet die Konstatierung des, auf vermeintlich vorväterlich überlieferter semitischer Unkenntnis und Unfähigkeit zur Artikulation im Idiom europäischer Musiktraditionen beruhenden "neu-jüdischen Systems" in der Musik wohl schlichtweg folgendes:
Freigedank unterstellt Mendelssohn und seinen semitischen Mitstreitern Moscheles, Joachim, David etc. die zielstrebige Zersetzung völkisch-kultureller Basis vermittels "ausdruckslos"(er), also emotional kraftloser, musik-dramatisch uninspirierter "moderner Sprache". Also letztendlich den Versuch der, die Schwächung der Lebenskraft des deutschen Volkes bedingenden Verseuchung kulturellen Erbes mit dem semitischen Bazillus substanzieller künstlerischer Impotenz.
6.
Ein antisemitischer Ekklektizist
Damit war das Thesenpapier eines
auf der hochrangigen Ebene vermeintlicher kulturwissenschaftlicher Erkenntnis
rezipierten Antisemitismus gestellt. Genauere Betrachtung freilich deckt auf,
wie konstruiert sich der Thesengang Freigedanks insgesamt darstellt. Wie stark
er, en Detail besehen, auf mangelnde oder verdrängte Sachkenntnis oder reine
Spekulation verweisend, ex kathedra verkündeten, aber unbelegten Behauptungen
geschuldet ist.
Allein die Haupttheorie von der angeblich naturgegebenen
Unfähigkeit des Juden zur Kunst ist auch nach damaligem kulturwissenschaftlichen
Kenntnisstand nicht haltbar. Als Freigedank im Judentraktat dieselbe exponierte,
fortentwickelte und ultimativ festschrieb bewegte er sich vielmehr - ob in Kenntnis
der Vorgänger oder unbeeinflusst, sei dahingestellt - in der Tradition berüchtigter
antisemitischer Demagogen. So behauptete der bereits genannte Hartwig von Hundt-Radowski
im "Judenspiegel" aus dem Jahre 1819 schlichtweg:
"Allein
zu den schönen und bildenden Künsten, welche den Geist veredeln und
das Auge erfreuen, hat kein Mauschel Talent....Selbst schaffen können die
Juden, als Künstler vollends nichts, denn so stark auch ihre physische Zeugungskraft
ist, so sehr fehlt es ihnen an aller geistigen Schöpfungskraft. Als Gott
sein herrliches Bild, den Menschen schuf, wollte der Teufel ein Epigramm darauf
machen, und fabrizierte einen Juden. Die Kinder Israel können nur nachäffen
und nachahmen, allein ihre Nachäffungen sind, gleich Ihnen, gemeine widerliche
Karikaturen."
Auch Karl-Friedrich Grattenauer, von ihm an anderer Stelle noch ausführlicher die Rede, erging sich bereits im Jahre 1803 in einer "Erklärung an das Publicum über meine Schrift "Wider die Juden" in Betrachtungen hinsichtlich Judentum und Kunst: "
Sind
sie nicht in der Regel so wenig Produzenten als Künstler, und plündern
sie dennoch nicht beide durch ihren Handel und Wucher?"
Der kirchliche
Publizist und Verleger Johann Gottfried Herder schliesslich erkannte im Jahre
zuvor in dem Essay "Bekehrung der Juden" in der "Anthologie Adrastea",
Bd. 4, Leipzig 1802 auf eine Diskrepanz zwischen jüdischer Existenz im Speziellen
und künstlerischer und ökonomischer Produktivität im allgemeinen:
"Wären sie Seehelden, Künstler, Landcolone; bei den Reichtümern,
die sie besassen...hätten sie längst etwas Ausserordentliches zu Stande
gebracht, in Ländern und Zeiten, wo sie nichts hinderte, in jeder Kunst die
Ersten zu werden! Die Kunst, worin sie die Ersten wurden, zeigen sie fortwährend."
Die pauschal ausgegebene Behauptung kreativen und besonders musikalischen
Mangels des Judentums aufgrund originär tonloser jüdischer Sprechweise
wiederum findet sich bereits in Werken des 18. Jahrhunderts und Zeiten zuvor.
Vor allem in einer im Jahre 1788 von Johann Nikolaus Forkel in Leipzig herausgegebenen
Allgemeinen Musikgeschichte erlangte der Aspekt im Kapitel "Musik der (alttestamentarischen)
Hebräer" umfassende, abwertende Erörterung. Dennoch vergibt es
sich der Autor keineswegs, von der frühgeschichtlichen Mediokrität rituellen
hebräischen Vokalisierens zur adäquat unbefriedigenden Situation unmittelbarer
Gegenwart des Jahres 1788 überzuleiten, wenn er schreibt:
"In
den Synagogen selbst ist die heutige jüdische Musik nichts, als entweder
ein musikalisches Beten, welches in einerlei Ton entweder gleichsam gebrummt oder
gemurmelt wird, oder (wenn der Chor einfällt) ein fürchterliches Geschrei.
Wenn diese Art des Gesangs ein Überbleibsel aus alten Davidschen Zeiten ist,
und sich bis auf uns (...) fortgepflanzt hat, so muss es um die Musik der Hebräer
eine erbärmliche Sache gewesen sein".
Da Forkels Allgemeine Musikgeschichte
musikalisch Professionellen auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
als Standardwerk galt, Riemanns Lexikon der Tonkunst und der Enzyklopädie
"Musik in Geschichte und Gegenwart" in unseren Tagen vergleichbar, könnte
es möglicherweise, im Gegensatz zu den verstreut publizierten Schriften politischer
Antisemiten, der Recherche zum "Judenthum in der Musik" gedient haben.
Das von Herder, Grattenauer, Hundt-Radowsky und Karl Freigedank gleichlautend
gefällte Urteil gründet sich vornehmlich auf ein christlich-überhebliches
Unvermögen, sich mit der spezifischen Relation jüdischer Konfession
und Kultur in der Diaspora zu den musischen Künsten auseinanderzusetzten.
Oder besser gesagt: die Genannten überheben sich, im vollen Bewusstsein,
die Traditionen jüdischer Kultur nicht zu kennen und auch nicht zur Kenntnis
nehmen zu wollen, dennoch zu verallgemeinernder Abrede jüdischer Kreativität.
Die überkommene Relevanz jüdischer Musik zu Konfession und Ritus, das
auch im arabischen Raum bestehende Verbot der Abbildung menschlichen Konterfeis,
die grosse Tradition im literarischen Bereich der Mythen und Sagen, deren erstes
und nachhaltigstes Werk sicher bereits in der Vorlage des alten Testamentes zu
definieren wäre. All diese anthropologischen Faktoren blieben der christlich-chauvinistisch
vorgenommenen Analyse der Frage, dass das Judentum in der Diaspora zeitweilig
keine Kunstwerke im strenggefassten abendländischen Sinne hervorbrachte,
schlichtweg aussen vor.
Im Rückblick auf eine nunmehr 200jährige
Geschichte demagogischen Publizierens gegen das Judentum in Politik, Kultur und
bürgerlicher Gesellschaft offenbart sich eine fatale Gepflogenheit, eine
Tradition, welche allen diesen Demagogen gemeinsam ist, deren Schrifttum wie ein
Leitfaden durchzieht:
Vom Ressentiment gegen das jüdisch-fremde angeleitet, übernahmen die Autoren pauschale diffamiernde Resumees von Vorgängerpublikationen, gaben anthropologische Theorien und vermeintliche historische Fakten bereitwillig und ungeprüft wieder, wenn dieselben sich der eigenen inkriminierenden Sichtweise einfügten.
Wie wir noch sehen werden, gaben zahlreiche Musikkundler des Wilhelminismus und des 20. Jahrhunderts die rhetorischen Negationen Mendelssohn Bartholdys Hugo Riemanns u. a. in wortwörtlicher Anlehnung wider, schrieben die Rassefanatiker und Kulturwissenschaftler des Nationalsozialismus satzweise aus Freigedanks Pamphlet ab.
Damit stellt sich auch die Frage, ob die selbsternannten Experten des Fachgebiets kultureller Traditionen innerhalb des Judentums, die beurteilte Materie jemals authentisch erfuhren. Ob Forkel und Freigedank beispielsweise im Verlaufe eines Synagogenbesuches den rituellen Kantus eigenständig erlebten oder sich musiktheoretisch mit demselben auseinandersetzten. Die ersichtliche Häme karikierender Darstellungen jüdischer Sprache und Gesangs lassen eher auf lustvoll transportierte und überzeichnete Aversionen schliessen, welche sich seit Beginn der Neuzeit längst im Bewusstsein deutscher Kultur und Lebensweise festgeschrieben hatten.
Anbetrachts konkreter Vorleistungen Theodor Uhligs, Hans von Bülows und Dr. Krügers; in Kenntnis rückwärtigen Katalogs antisemtischer Rhetorik, welcher sich dem Zeitgeist der Jahre 1848 - 50 andiente; lässt sich nunmehr mit grosser Sicherheit annehmen: Freigedank erwies sich auf dem Gebiete kulturanthropogischen Antisemitismus als genau das, was er "dem Juden" auf dem Gebiete der Kunst und vor allem der Musik per se vorwarf. Als Ekklektizist!
Das Pamphlet vom "Judenthum in der Musik" animierte widerum zu weiteren einschlägigen Polemiken und verschärfter Propaganda von Kunst als nationaler Frage und Ersatzreligion eines erstarkenden Ideals deutscher Vereinigung im Geiste Fichtes.
7.
Eine exceptionell exclusive Menschen-Race
Dr. Krüger, der - aus dem Umfeld der NZfM in der Ära Robert Schumann hervorgegangen - nunmehr als Pionier publizistisch-antisemitischer Analyse von Mendelssohn´scher Musik gelten muss, liess Freigedanks "Judenthum" denn auch "Gedankengänge über Judentümliches" folgen. Er begrüsste zu Anfang die "wiedergewonnene Preßfreiheit, denn 1846-48 war es zwar sehr leicht, Schriften gegen das Christentum (...) zu bringen, aber sehr schwer, ein offenes Wort über die Juden zu sprechen." Er beklagt des weiteren, daß das deutsche Volk "den Eindringlingen nicht wehrt, (...) Tagesgötzen bejubelt, die es selber verachtet (...) ihm (...) das Mark der Väter verloren gegangen, vor dem die moderne Windbeutelei nicht bestanden hätte". (NZfM vom 1.10.1850)
Eduard Bernsdorf hingegen entlarvt am 15.10.1850 wiederum in der
NZFM eklatante Schwächen in Freigedanks analytischer Beweisführung und
erhebt infolgedessen den Vorwurf mangelnder anthropologischer Seriosität
und der Demagogie.
"Der grosse Gelehrte Freigedank (...) spricht" (Mendelssohn) "in der Tat künstlerische Fähigkeit und Bildung nicht ab (...); aber die Wirkung, die unsere Kunstheroen auf ihn hervorgebracht haben, hat er beim Anhören seiner Sachen nicht finden können (....) Wie aber dieser Mangel an Wärme (...) mit seinem jüdischen Ursprunge im Zusammenhang stehen soll, das hat uns der Verfasser durchaus nicht bewiesen. Er spricht...nicht über den jüdischen Komponisten (...) bei ihm hat er nichts jargonierendes nachgewiesen, ihm wirft er die Synagoge nicht vor, nur den Meister Bach..."
Schwerwiegender noch ist der am 25.1.1851 in
der "Illustrierten Zeitung" (Leipzig) erhobene Verweis des Musikers
und Musiktheoretikers Johann Christian Lobe auf einen wesentlichen protorassistischen
Aspekt der in der NZfM begonnen Debatte:
"Daß die christliche
Taufe dem Juden nichts hilft, zeigt Freigedank ja dadurch, daß er Mendelssohn
stets als einen Juden behandelt, der doch als Christ geboren, getauft, erzogen
und begraben worden ist." Judentum musste sich, Freigedank zufolge, demnach
letztendlich durch andere Aspekte als jenem "mosaischen" Bekenntnisses
definieren. Durch die geburtsmässige Zugehörigkeit zu einem fremden,
nichteuropäischen Volk oder vielmehr: geburtsmässige Zugehörigkeit
zu einer fremden, nichteuropäischen Rasse! Freigedank argumentiert dabei
in der Tradition des Urhebers der im frühen 19. Jahrhundert verkündeten
Gewalt- und Vernichtungsmetaphorik, Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer.
Dieser
publizierte bereits im Jahre 1791, also dem Beginn der germanomanischen Kampagne
Fichtes zeitlich konformgehend, Vertreibungsdemagogie in der Studie: "Über
die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, Stimme eines Kosmopoliten,
Germanien 1791". (Das Buch wurde in Leipzig verlegt.) Im Jahre 1803 konstatierte
er in der Schrift: "Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere
christlichen Mitbürger" erstmalig: "Daß die Juden eine ganz
besondere Menschen-Race sind, kann von keinem Geschichtsforscher und Anthropologen
bestritten werden."
In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum
"Judenthum in der Musik" erörterte ein A. Escherich "Die Judenemancipationsfrage
vom naturhistorischen Standpunkte aus" besehen in der renommierten "Deutsche(n)
Vierteljahresschrift", Heft 4 von Oktober des Jahres 1848. Auch Escherich
kommt darin zu dem Schluss, daß "Die Juden...eine exceptionelle Bevölkerung
(bilden) und zwar nicht als (...) Varität einer bestimmten Race, sondern
mit exceptionellen, exclusiven Eigenschaften unter allen Racen. Und diese auszeichnenden
Eigenschaften sind (...) constant durch alle Jahrhunderte und Klimate, charakterisieren...Stamm
und (...) Individuum, (...) erstrecken sich auf die Naturgeschichte dieses Volkes,
(...) seine körperliche Gestalt, seine Fruchtbarkeit, (...) seine Lebensdauer,
(...) seinen geistigen und moralischen Charakter."
Des weiteren
stellt Escherich dann auch die Frage nach der künstlerischen Berufung dieser
"exceptionell exclusiven Race" im allgemeinen und besonderen.
Während
die Juden üblicherweise als eifrige und geschickte Sammler und Ekklektizisten
in Erscheinung träten, welche sich des Fundus kulturellen Erbes des Abendlandes
zugunsten eigenen Elaborierens zielstrebig bedienten, sei Mendelssohn Bartholdy
im Besonderen als der bedeutendste Komponist des Jahrhunderts anzusehen. Allerdings
sei er als grosse Ausnahmerscheinung aufzufassen, sein Wirken hinsichtlich mosaischen
Irrens in künstlerischen Gefilden vollkommen atypisch.
Die von Freigedank zum Ausdruck gebrachte protorassistische Tendenz war bis dato gemeinhin ungebräuchlich, die Pamphlete Grattenauers und Escherichs stellten Ausnahmen in den von konfessionellen oder ökonomischen Standpunkten dominierten antisemitischen Publikationen dar. Lobe interpretierte daher die Metapher von der "Erlösung Ahasvers" durch "den Untergang" des "Juden" am Ende des Traktates "Das Judenthum in der Musik" bereits ironisch als Aufforderung zum Judenmord:
"Also weg mit allen Juden. Wenn dann. (..) die Juden alle erschlagen vor uns liegen, und wir übriggebliebenen Christen als triumphierende Mörder mit blutigen Fäusten dastehen, dann sind wir wahrhafte Menschen und (...) "einig und untrennbar verbunden - untereinander und mit den Juden."
Im Juli 1851 resümiert der damalige Herausgeber der NZfM, Franz Brendel
den "wahren Sturm" in der zeitgenössischen Medienwelt, welchen
die Veröffentlichung der Freigedank´schen Thesen in der hauseigenen
Zeitschrift hervorgerufen habe.
Um den Ruf der NZfM scheinbar doch etwas besorgt,
impliziert er der Publikation nachträglich eine Relativierung bezüglich
gebildeter und ungebildeter Juden; letztere vor allem wären doch der Gegenstand
freigedankschen Theoretisierens gewesen. Im Text des "musikalischen Judenthums"
hingegen findet sich dafür allerdings keinerlei Anhaltspunkt, da ausschließlich
"der Jude" veranschaulicht; von "den Juden" gesprochen wird.
Obgleich sich die unmittelbaren publizistischen Reaktionen, welche das Pamphlet hervorrief, Mitte des Jahres 1851 scheinbar legten, war die These gestreut. War die in einer der renommiertesten Publikationen zeitgenössischen deutschen Kulturlebens vertretene antisemitische Kulturtheorie nunmehr salonfähig, unter gebildeten Kreisen diskussionswürdig.
So erkennt beispielsweise Wilhelm von Lentz, Beethovenkapaziät und Staatsrat des russischen Zaren im Jahre 1852 auf ein "hebräisches Element, das in den Gedanken Mendelssohns erkennbar ist, (das) ihn hindern wird, die ganze Welt ohne Unterschied von Zeit und Ort zu erobern." Ferner rücken erneut "die psalmodierenden Gesänge der Synagoge" als "Typus, der in der Musik Mendelssohns nachklingt, wie in seinem Denken der jüdische Geist eine Rolle spielt" ins Zentrum von Betrachtungen. (v. Lentz, Beethoven und seine 3 Stile, 1852, Kassel 1855).
Da der Traktat auch massiv kontroverse Reaktionen provozierte (vergl. Johann Christian Lobe), verlegte sich die NZfM wieder vermehrt in die Unverbindlichkeit "objektiv"-musikalisch betriebener Agitation gegen den Opernfürsten Giacomo Meyerbeer.
Nichts desto Trotz streute die Publikation auch in den Folgejahren unausgesetzt Ressentiments gegen Felix Mendelssohn aus, so in den oftmals in lakonischen Tonfall vorgenommenen Rezensionen der posthum veröffentlichten Werke.
Was beabsichtigten die Initiatoren einer lancierten öffentlichen Semitismus-Debatte im Musikbereich? Es war ihnen um eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse im zeitgenössischen Musikbetrieb zu tun. Musikalische Avantgardisten suchten quasi auf gewaltsamen Wege, mit publizistischen Mitteln, Einfluss innerhalb der musikalische Hemisphäre zu erlangen. Was die avantgardistisch-musikalische Wortmeldung allein nicht bewirkte, sollte schleichende Erschütterung des Fundamentes bewirken, auf welchem das Ansehen der Erfolgsmusiker Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer beruhten.
Die Synthetik in der Konzeption des, hinsichtlich Ursache und Wirkung vollendet konstruierten, aber vor allem spekulativ untermauerten Medienunterfangens "Das Judenthum in der Musik"; die Schizophrenie der auf Ebenen öffentlicher und intimer Subjektivität vielfach aufgespalteten Urheber lässt ein Schreiben Freigedanks an Felix Mendelssohn vom 6./7 .Juni des Jahres 1843 erkennen. Freigedank versichert sich darin dem Komponisten gegenüber u. a. des Stolzes darüber: "...der gleichen Nation anzugehören, die Sie und Ihren Paulus hervorgebracht hat."
Meyerbeer, musikalisch im fernen Paris
residierend, war den nihilistischen Bestrebungen nahezu entzogen. In der zeitgenössischen
Rezeption des vermeintlichen Antipoden im eigenen, deutschen Bannkreis, schlug
sich der publizistische Gewaltakt hingegen nachhaltig nieder. Erheblich bestärkt
durch ein diffuses Klima feudaler Restauration, postrevolutionär germanomanischen
Einheitsfanatismus und traditionell kultiviertem Antisemitismus einer Generation
opportunistisch-neokonservativer Leistungseliten aus dem Umfeld ehedem jungdeutscher
Männerbünde. Das europäische Ausland kommentierte befremdet. So
resümiert der englische Kritiker Henry Fothergill Chorley im Jahre 1853 -
also bereits sechs Jahre nach Mendelssohns Tod:
"Traurig, aber wahr
ist's dennoch, daß seine Landsleute ihrer Reputation für Ehrlichkeit,
Treue und Verehrung von Genie und Tugend keine Ehre gemacht haben; denn in der
Zwischenzeit haben sie ihre Haltung (...) geändert, einem Mann gegenüber,
den sie zu seinen Lebzeiten geehrt und umschmeichelt hatten...."
8.
Von der Neudeutschen Schule
"Zum einen ist das Mendelssohn-Bild...geprägt durch eine Bewertung, deren Basis nicht kompositionstechnische Einwände gegen seine Musik oder sich wandelnder Geschmack ausmachen, sondern in der der musikalische Parteienstreit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger verhüllt vorgetragenen antisemitischen Vorurteilen vermengt ist. (...)
Eine
Aufarbeitung der Mendelssohn Rezeption hat zugleich eine quasi aufklärerische
Aufgabe: zu zeigen, wie sehr sich (...), knapp vierzig Jahre nach dem Ende des
Dritten Reiches, in dem die schon zuvor betriebene Verteufelung Mendelssohns ihren
Höhepunkt fand, die Urteile auf sachfremde "Argumente" stützen"
schreibt Wulf Konold in seiner Studie "Felix Mendelssohn und seine Zeit"
aus dem Jahre 1984.
Was heisst das im Einzelnen:
Das Werk Mendelssohns
verfiel einer eklatanten musikalischen Fehde, die sich ab 1850 zwischen "Neudeutschen
Musikern" und "Traditionalisten" entwickelte. Die "Neudeutschen
Musiker", welche sich in Weimar um die Komponisten Franz Liszt und Richard
Wagner sammelten, forderten die Radikalität des musikalischen Ausdrucks entgegen
formalistisch akademischen Beschränkungen ein. Die "Traditionalisten"
um Robert Schumann und Johannes Brahms, propagierten hingegen die Bewahrung, aber
stetige Reformierung überkommener musikalischer Formen von Symphonie, Quartett,
Oratorium etc.
Unter Federführung des Musikkritikers und Redakteurs
Franz Brendel - dieser übernahm im Jahre 1845 die Redaktion der renommierten
"Neue Zeitung für Musik" von Robert Schumann - zog ein chauvinistischer
Geist in das bislang unabhängige Organ imaginärer Davidsbündler
ein.
Während sich Schumann als Musikpublizist auf die Erörterung
musiktheoretischer Fakten beschränkte, ohne die ästhetische Reserviertheit
gegenüber Kompositionen der "Neudeutschen" zu verhehlen und Mendelssohn
es generell ablehnte, sich Presse zunutze zu machen, öffnete Brendel die
Musikzeitung führenden Polemikern wie Freigedank, Theodor Uhlig, Hans von
Bülow und Felix Draeseke.
In einem Editorial, zum Ende des Jahrgangs 1852 verfasst, verlieh Brendel dem Ziel, welchem sich die "NZfM" fürderhin gänzlich widmen sollte, unmissverständlich Ausdruck: "Diese Blätter haben fortan die Aufgabe, die Umgestaltung, welche der Kunst bevorsteht, nach allen Seiten entschieden zu vertreten." (...)
Theodor Uhlig, geboren im Jahre 1821, wirkte ursprünglich als Violinist im Dresdner Hofopernoerchester. Dort machte er die Bekanntschaft mit dem von Februar des Jahres 1844 - bis Mai 1849 als Dresdner Hofkapellmeister agierenden Richard Wagner, dessen Intimus er vor allem in den Jahren nach 1849 wurde. In der Zeit des Schweizer Exils des in die Dresdner Maiaufstände verwickelten Komponisten war Uhlig somit ein wertvoller Kontaktmann Richard Wagners zu den Musikzentren Dresden, Leipzig und Weimar. Da Uhlig fest in den Freundes- und Wirkungskreis des Hofoperndiregenten Wagner eingebunden war, trat er ab 1849/ 50, neben Franz Liszt und Hans von Bülow, verstärkt als Publizist und Propagandist Wagners und der "Neudeutsche" hervor.
Herausgeber Franz Brendel, geboren im Jahre 1811, gestorben im Jahre 1868, war von Hause aus Philosoph und widmete sich erst ab 1840 musikalischen und musiktheoretischen Fragen. Als nahezu fanatischer Verfechter der Prinzipien musikalischer Fortentwicklung und Moderne, erhob er den obligaten Verzicht auf die Errungenschaften der Barockzeit, der Klassik oder Romantik eines Mendelssohn oder Schumann zum Dogma. 0
Er
ernannte, der Funktion eines Chefideologen der Neudeutschen Schule entsprechend,
die "romantischen Realisten" (Robert Gutman) Franz Liszt, Hector Berlioz
und Richard Wagner zu deren Leitfiguren. Brendel übertraf somit die progressiven
Forderungen Schumanns und der in den Jahren 1833 bis 1844 versammelten "Davidsbündler"
bei weitem. Diese agitierten seinerzeit vordringlich gegen die Seichtigkeit musikalischer
Tagesware und die Schludrigkeit eines Konzertbetriebes, der vor allem planlos
zusammen gestellte Potpourri-Konzerte nach dem Prinzip des Prima-Vista-Musizierens
hervorbrachte. Die von Brendel 1859 im Verlaufe einer Tonkünstlerversammlung
im Leipziger Schützenhof initiierte Gründung einer "Neudeutsche
Schule" verhalf dem Musiknihilismus schliesslich zu bedeutsamem institutionellen
Rang.
9.
Von der musikalischen Wahrheit
Der Musikwissenschaftler und Publizist Adolph Bernhard Marx wiederum agitierte im Zeichen einer schwerlich zu fassenden musikalischen "Wahrheit" nachhaltig gegen "Verweichlicher" der Musik, "Nachbildner" und " unwahre Komponisten". Marx war seit dem Jahre 1830 als Dozent für Musikgeschichte an der Universität Berlin und später als Herausgeber der "Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung" tätig, in welcher Dr. Eduard Krüger im Jahre 1850 die Kampagne dezidiert antisemitisch intendierter Musikrezeption eröffnete. Marx war einstmals ein enger Jugendfreund Felix Mendelssohns mit eigener, aber glücklos verbleibender kompositorischer Ambition. Da Marx sich dem Komponisten durch eine zunehmend abstrahierend musikphilosophische anstelle angewandter Beschäftigung mit der Tonkunst entfremdete; diesen des Weiteren um Geld und musikalische Protektion bedrängte, zerbrach die Freundschaft im Jahre 1839. Marx vernichtete daraufhin die gesamte in seinem Besitz befindliche Mendelssohn-Korrespondenz. Inwiefern sich eine etwa 10 Jahre später massiv bezogene Position des "nachkantischen Ästheten" (Werner) gegen das Oeuvre Felix Mendelssohns auch der enttäuschten Freundschaft verdankt, ist nicht geklärt.
In Publikationen wie "Die Musik des 19. Jahrhunderts", im Jahre 1855 in Leipzig herausgegeben, stellte Marx Mendelssohn nun als Prototyp solcherart "Verweichlicher" etc. der Musik heraus. In genannter Musikgeschichte konstatiert Marx u. a. das diesem: "(...) die eigentliche Macht und Höhe des Dramas nicht gegeben (...); ja, seinem feinzurückhaltenden, mehr anempfindenden als ursprünglich schöpferischen Wesen im Grunde widersprechend (war.) Er führt weiterhin aus, daß - "im wahren Gegensatze" zum Genie ein Talent wie Mendelssohn "den (meist beglücktern) Beruf (habe), auszubilden und nachzubilden, auch einseitig zu verbessern und zu verschönen oder annehmlicher zu Machen, (also) den dämonisch hochaufgerichteten Gedanken des Genius mit der Schwäche und Furcht der Welt durch vermittelnde Zwischengestalten, die Nachbildungen sind, auszugleichen." . Folgerichtig réussiere Mendelssohn vornehmlich im "glücklichen Salonwort" der "Lieder ohne Worte", in dem "ein mädchenhafter Hang (...) jedes kleine Gefühlchen" musikalisch transponiere.
Auch hier wird ein später so folgewirksamer Titanen- & Heroenanspruch an Kunst bedeutungsvoll vorformuliert. Freigedank spekulierte in seinen Ausführungen schlichtweg auf diesen Anspruch und Mendelssohns naturgegebene Unfähigkeit, demselben gerecht werden zu können.
Marx indessen versucht, keineswegs frei von polemisierendem Tonfall, den seinerseits vorgenommenen Abgleich von heroischem Anspruch und konkreter musikalischer Wirklichkeit zu Mendelssohns Ungunsten, ästhetisch und psychologisch, also wissenschaftlich methodisch nachzuweisen. Marx muss also als Autor einer Mendelssohn-Demagogie von musikwissenschaftlich-spätromantischem Gesichtspunkte aus gelten. Diese sollte sich spätestens Mitte der 60ziger Jahre bis zur Unkenntlichkeit der einzelnen Komponenten mit der dezidiert antisemitisch intendierten Mendelssohn-Rezeption der Neudeutschen vermengen. Das der erste Protagonist letztgenannter Argumentationsweise, Dr. Krüger, ein Autor der von Marx editierten Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung war, ist dabei ein Detail von Interesse und Pikanterie.
Des weiteren gibt Marx den Stereotyp des schwächlichen,
feinnervigen, emotional übereregbaren Musikers vor, welchen zahllose Musikhistoriker
und Publizisten bis in die 80ziger Jahre des 20. Jahrhunderts als verfestigtes
Klischee kolportieren sollten.
Die Erkenntnis vom Drama, welches nicht in
erster Linie für Mendelssohns Schaffen prägend war, ist faktisch korrekt,
verkennt aber vollständig die Motivation dieser Zurückhaltung dramatisch-musikalischen
Affekt gegenüber. Während Marx die Gründe in der vermeintlich schwächlichen
Ausprägung des Charakters und der Unfähigkeit dramatischen Empfindens
sucht, stand Mendelssohn in Wahrheit der dramatischen Entäusserung in der
Kunst mit ästhetischem Vorbehalt gegenüber. Mendelssohn war durch die
strenge, stetig zu Fleiss, Pflichterfüllung, sittlicher Läuterung und
Contenance anhaltende Erziehung im Elternhause vollständig vom verinnerlichten
und dem grossen Vorbilde Johann Wolfgang von Goethe vorgebenen humanistisch-klassizistischen
Ideal menschlicher und gesellschaftlicher Erhebung durch erhellendes, läuterndes
kulturelles Gut durchdrungen,
Dies liess Mendelssohn die Komposition von
Erregtheit, dramatischer Entäusserung, romantischer Zerissenheit, Nachtseiten
der Seele und expliziter emotionaler Abgründe letztendlich suspekt, möglicherweise
unanständig erscheinen. Dramatik vollzieht sich in Mendelssohns Kompositionen
stets anschaulich, wenn das, ethischen Belangen verpflichtete musikalische Sujet
seinerseits einen dramatischen Verlauf nimmt, wie im altestamentarischen Epos
"Elias" vorliegend. Gleichsam regte das Erlebnis der Naturgewalten,
geschichtlicher Orte und Augenblicke wie im Falle Schottlands und der gleichnamigen
Symphony; oder diese der Dichtung und dem Volksmärchen implizite, welcher
wir beispielsweise die Ouvertüre von der Schönen Melusine verdanken
Mendelssohn zu hochrangiger dramatisch-musikalischen Äusserungen an. Andererseits
liess Mendelssohn einer dramatischen Entwicklung freien Lauf, wenn sich das musikalische
Material absolut aufgefasster Kompositionen in der Durchführung zu höchster
formaler und emotionaler Binnenspannung verdichtete. Diese vollzieht sich dann
allerdings aus Momenten höchster geistiger und musikalischer Konzentration
und ist oftmals - vorausgesetzt, Meisterdirigenten und Pianisten vermochten es,
dem hohen musikalischen Gehalt Mendelssohnscher Werke vollends zu entsprechen
- daher in ihrer Spannung fast nicht erträglich.
Man mag diese humanistische
Haltung zu Fragen der Musik und der Kunst , den ideal verstandenen Anspruch ästhetischer
Zucht und Selbstzucht teilen und kultivieren. Man mag ihn subjektiv ablehnen und
andere Ansprüche und Erfahrungen innerhalb der vielfältigen Möglichkeiten
musikalischer Artikulation nachgehen.
Mendelssohns Auffassung vom Ziel
musikalischen Wirkens ist zweifellos genauso wenig "wahr", wie es die
von den "Neudeutschen" erstrebte Symbiose von Musik und Drama oder die
spezielle absolute musikalische Wahrheit Bernhard Adolph Marx jemals war und ist.
Als intimer Jugendfreund noch aus den Tagen der bei Carl Friedrich Zelter genossenen
Singschule trug Marx mit dramaturgischem Rat massgeblich zur Konzeption der als
genial apostrophierten "Sommernachtstraum"-Ouvertüre bei. Im Gegensatze
zu manch nachgeborenem, inkognito urteilendem Kollegen, hätte er zumindest
die authentischen Ursachen einer spezifisch Mendelssohnschen Verhaltung gegenüber
einer Relation von Musik und Drama besser kennen müssen.
Eine bemerkenswerte Abhandlung der Problematik adäquater Mendelssohn-Nachbereitung vollzog die "Berliner Feuerspritze" im Jahre 1855 in ihrer Rezension vom 12. November einer Festaufführung des Oratoriums "Elias", welche der Stern´sche Gesangverein Berlin Mendelssohn zum Gedenken ausrichtete. Hans von Bülow zeichnet widerum als Verfasser. Kunstfertig entledigte er sich dabei einer offenkundig ungeliebten Aufgabe in einzigartig glückreichem Vollzug des Paradoxons einer Quadratur des Kreises. Genauer: der repräsentativen Würdigung eines Komponisten und seines Werkes zu akklamieren und des weiteren den Anlass zur Herabsetzung des musikästhetischen Spektrums aus der Neudeutschen Sicht einer Musikdramatiker -Partei desselben zu missbrauchen.
"Die Tonkunst sollte ihren eigenen Festtagskalender haben. Die schöne und würdige Feier. welche der Stern´sche Gesangverein dem Gedächtnisse Felix Mendelssohn´s und sich selbst zu Ehren durch die Aufführung des "Elias" am 8. November veranstaltete, erweckt den Wunsch, auch andere grosse Tondichter der Vergangenheit in ähnlicher Weise gefeiert zu sehen. Merkwürdig, dass sogar ein Institut, dem der genannte Meister, oder vielmehr sehr bewusst absichtlich sich ferne hielt, dass das Königl. Opernhaus durch eine Vorstellung des "Sommernachtstraumes" einer solennen Anspielung ganz ausnahmsweise sich - unschuldig machte. Es war kein Zufall, Dass Felix Mendelssohn in seines Genius` Irrtum von diesem durch den Tod entrissen wurde, als er dem - Irrtum der modernen "Oper" sich zuzuwenden begriffen war. Was hätte Mendelssohn, - von dessen specifisch musikalischer Begabung auch der Gegner zugeben muss, dass er der nächste ist nach Mozart, - in dem musikalischen Drama Vollendeteres leisten können, als Mozart im "Don Juan" schon geleistet? Einem solchen, immerhin nur genialen Reproduzieren würde aber eine ästhetisch-historische Berechtigung im höheren Sinne gefehlt haben".
Schliesslich begibt sich von Bülow gar in die Rolle des Propheten und verkündet dem zeitgenössischen Auditorium in allwissender Vorrausschau, das auch ein in den Jahren gereifter Komponisten niemals substanzielles, dem Anspruch neudeutschen "Fortschrittsprinzips" gemässes , zu vollbringen fähig gewesen wäre:
"Diese flüchtige Andeutung soll nur der in der posthumen Verehrerschaft des grossen Musikers ziemlich verbreiteten sentimentalen Ansicht entgegen, als ob Mendelssohn, wenn ihn nicht ein frühes Ende erreicht, noch Höheres, Unvergänglicheres geleistet haben würde, als wir von ihm besitzen. Diese Ansicht steht auf einer Stufe mit der bekannten Aufgabe, welche ein Pensionsvorsteher seinen Zöglingen stellte: "würde Egmont Klärchen geheiratet haben, falls er nicht hingerichtet worden wäre?"
Wir glauben dem Genius weit freier und begeisterter zu huldigen, wenn wir aussprechen: "Der Elias ist das den hohen Geist seines Schöpfers am umfassensten und resümierendsten darlegende Werk, in welchem er seine Mission erfüllt und vollendet hat".
Zunehmende
Öffentlichkeitswirksamkeit und Publikumserfolge der Werke "neudeutscher"
Tonsprache (vor allem der Bühnenwerke Richard Wagners und der Oratorien und
symphonische Rhapsodien Liszts) bewogen die Ideologen der "Neudeutschen Schule",
ihren Kreuzzug gegen alles dem Fortschrittsprinzip vermeintlich im Wege stehende
zu verschärfen. Nachdem man Felix Mendelssohn als vormalige Leitfigur bekämpfter
traditionalitischer Ästhetik plangemäss "erledigt" hatte und
Meyerbeers Bühnenwerke sich bis auf weiteres resistent gegen das Unterfangen
rhetorischer Unterhöhlung erwies, rückten nun die "konservativen"
Romantiker Robert Schumann und Johannes Brahms ins Blickfeld neudeutschen Interesses.
Mitte der 50ziger Jahre des 19. Jahrhunderts bemühte man sich intensiv, Schumann
der Neudeutschen Idee einzuverleiben; ja ihn neben Opernreformer Richard Wagner
gleichsam zu einer neudeutschen Leitfigur des symphonischen Sektors aufzubauen.
Hans von Bülow stellte Schumann im November 1853 noch ganz selbstverständlich
als Repräsentanten einer "neuen(n) romantischen Schule" Wagner
und Berlioz gleich (NZfM 11/12/1853), Franz Liszt propagierte von Weimar aus dessen
Vorkämpfertum "musikalischen Fortschritts". Im Jahre 1860 richtete
die Neudeutsche Schule ein Schumann-Fest in Zwickau aus.
Clara Schumann, im Vernehmen, es mit einer Propagandaveranstaltung zu tun zu haben, auf der das Angedenken Ihres Mannes zu ideologischen Zwecken missbraucht würde, lehnte eine Teilnahme als Pianistin und Ehrengast ab.
"Ich kann doch nicht dahin gehen, um ein solches Fest mit den Menschen zu begehen, die ich aus tiefster Seele (als Musiker) verachte". Joseph Joachim bestärkte sie in dem Entschluss, indem er ihr eindringlich mögliche publizistische Folgewirkungen einer Teilnahme der Witwe Schumanns vor Augen hielt. Er gemahnte, es könne im Nachhinein als Beweis dessen herangeführt werden, "dass Schumann mit den neuesten Fortschritten zur Unmusik gemeinsame Sache gemacht habe".
Nachdem Reflektionen der Neudeutschen auf Robert Schumann im Jahre 1860 im Eklat endeten, schlug die publizistische Stimmung seitens der "Neudeutschen" schlagartig um. Führende Repräsentanten der Schule wie Hans von Bülow und Felix Draeseke bedachten das musikalische Angedenken Schumanns mit offenkundiger Häme.
Es überrascht wohl kaum noch, daß die biographische und musikalische Relevanz zu Person und Werk Felix Mendelssohns als Leitfaden und Begründung musikalischer Mittelmässigkeit des Schumann´schen Oeuvres herangeführt wurde. Bereits im Jahre 1856 schloss ein im Berliner Echo veröffentlichter Nachruf, daß mit dem Tode Robert Schumanns ein "Ausläufer der Mendelssohn´schen Richtung" zum Ende gelangt sei. "Vorwiegend Ekklektiker und scharf kritisch sichtender Verstandesmensch, konnte man ihn mit Recht den musikalischen Lessing nennen." resümiert der Nekrolog des weiteren.
Geflügelte
Worte brachte die neudeutsche Publizistik in die Schumann-Rezeption ein. So verdankt
dieselbe Felix Draeseke jenes vielstrapazierte: "Schumann hat als Genie angefangen
und als Talent aufgehört." Hans von Bülow wiederum prägte
die signifikante Metapher des Felixschülers Robert Schumann heraus und streicht
somit den von Felix Mendelssohn ausgeübten Einfluss vermeintlicher klassizistischer
Stagnation hervor, in dessen Leipziger Fangstricken sich Schumann zeitlebens verfangen
habe, schlimmer noch: welcher Schumann "verdorben" habe. Bülow
konstatierte im Jahre 1860 also resignativ: "War der Mensch genial, bevor
er bei Felix in die Schule ging, Leipziger Kaufleute zu hüten.
Des
Weiteren geisselte von Bülow die "Schumann´sche Intervallheulerei"
als unerträglich und verkündete demonstrativ, jedwede "Halbdillettantenmusik
lieber als eine Schmann´sche Symphonie (aufzuführen), deren blosse
Lektüre ihm eine Tortur (sei)". Bülow kündigte des weiteren
einen grossen Schlag, die Veröffentlichung einer Broschüre an, welche
die gegen Berlioz agitierende "Instrumentationsleeere" der verhassten
Schumannianer-Partei ins Lächerliche ziehen und daher "die Form einer
kleinen Handgranate" erhalten solle. Walter Dahms zufolge, liess sich Hans
von Bülow, seinem Vorbild Richard Wagner dabei nicht unähnlich, von
emotionalen Wallungen oftmals zu Pauschalmeinungen hinreissen. Und nur so erklären
sich Aussagen und Zeugnisse, welche sich in Bewunderung und Zuneigung einerseits,
scharfer Ablehnung und Diffamie andererseits zeitweilig vollständig widersprechen.
Was einmal in Zynismus und Häme abgetan, findet zu anderer Gelegenheit widerum
zu Worten warmherziger Verehrung.
Neben den Faust und Genoveva-Kompositionen
Robert Schumanns, sowie dessen frühen Klavierwerken beispielsweise Musik
und Wirken Felix Mendelssohns!
Man kann sagen, daß sich im Falle Robert
Schumanns eine rezeptionsgeschichtliche Entwicklung anbahnte, welche derjenigen
Felix Mendelssohns zeitweilig ähnelte.
Nicht in der gleichen Intensität
und Nachhaltigkeit; da der entscheidende Aspekt fremdenfeindlichen Ressentiments
im Falle Schumanns nicht zur Verfügung stand.
Dennoch prägten
sich in jener Zeit Fehlrezeptionen seines Werkes heraus, welche sich im musikalischen
Bewusstsein und musikgeschichtlich allgemeingültig verfestigten und noch
heute um Schumanns Oeuvre herum irrlichtern. In der Hauptsache prägte sich
seinerzeit das unsinnige, spekulative Argument heraus, dieser "habe nicht
instrumentieren können", die Symphonien "seien schlecht, intransparent
und zählebig instrumentiert". Überhaupt habe Schumann ja am originärsten
fürs Piano geschrieben, habe sich dem symphonischen Satz vom Pianistischen
her genähert und für die Symphonik kein rechtes Empfinden aufgebracht.
Diese Stereotypisierungen fanden zu einiger musiktheoretischer Erörterung,
an Versuchen, die Symphonien durch nachträgliche Retuschen (Mahler) zu "korrigieren"
und somit für das Repertoire zu "retten", fehlte es nicht. Angesichts
synonymer Abfolge rezeptionsgeschichtlicher, Parallelitäten, von Intention
und Argumentation, Ursache und Wirkung traditionalistischer Musiker wie Mendelssohn
und Schumann, stellt sich nun die Frage, warum es das Werk des einen zu "retten"
galt, während dasselbe des anderen brachlag. Die Gründe dafür dürften
wohl kaum im Bereich des Musikalischen zu suchen sein!
"Die Beharrlichkeit Deiner zutrauensvollen Güte, mit der Du (...)
Dich zu mir neigst, um mich dem Verein der von Deiner Kraft bewegten Freunde angefügt
zu sehen, hat für meinen bisherigen Mangel an Offenheit etwas beschämendes.
Hätte ich nicht dass tröstende Bewusstsein, dass dieser Mangel an Offenheit
nicht Feigheit sei, und vielmehr mit dem besten Gefühl verwandt war, das
(...) die tiefe Wahrheitsliebe und die Tiefe Neigung zu Dir (...) ein Stachel
für Dich zu werden (...) imstande sein könne. (...)
Ich bin Deiner
Musik gänzlich unzugänglich; sie widerspricht allem, was mein Fassungsvermögen
aus dem Geist unserer Grossen (...) als Nahrung sog.
Wäre es denkbar,
dass ich je dem entsagen müsst...was ich als Musik empfinde, Deine Klänge
würden mir nichts von der ungeheuren, vernichtenden Öde ausfüllen.
Wie sollt ich mich (...) da mit denen verbrüdert sehen - die die Verbreitung
Deiner Werke mit allen Mitteln zu ihrer Lebensaufgabe machen? (...)
Ich
kann euch kein Helfer sein und darf Dir gegenüber nicht länger den Anschein
haben, die Sache, die Du mit Deinen Schülern vertrittst, sei die meine. So
muss ich denn auch Deine liebe Aufforderung zur Teilnahme an den Festlichkeiten
in Weimar unbefolgt lassen: ich achte Deinen Charakter zu hoch, um als Heuchler
(...) gegenwärtig zu sein."
Die Funktion des Konservatoriums als Reservoir des humanistisch inspirierten, musikalisch absolut ausgeprägten Kompositionsideals Mendelssohns erwies sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine zweischneidige. Einer vielfach überlieferten kulturgeschichtlichen Erfahrung entsprechend, wonach Adepten kaum jemals die vom Initiator eines Reformwerks vorgegebenen Idealvorstellungen auf gleicher Höhe weiterzuführen in der Lage waren, agierten demzufolge auch die Getreuen des ehemaligen Leipziger Generalmusikdirektors und Hochschulleiters. Diese waren vor allem Ignaz Moscheles, Moritz Hauptmann, Ferdinand David, Julius Rietz, und Niels W. Gade; letzterer ein zeitgenössisch hochangesehener Komponist dänischer Herkunft.
Lassen wir noch einmal Hans von Bülow als Zeitzeugen und
Kommentator zu Worte kommen:
"Eine andere Partei hielt dagegen treu an dem Todten fest, aus Pietät, aus persönlicher Freundschaft, aus musikalischer oder nationaler (d. h. semitischer, Anmrkg. d. Verfs.) Sympathie, und weihte nun den überlebenden Quasischülern (Nachbetern) Mendelssohn´s eine grössere Beachtung als früher. Dahin gehörten namentlich die Praktiken, denen an einem Nachfolger des Dirigenten Mendelssohn gelegen war und die einen solchen in Rietz fanden..." ("Das musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner")
Als Vorstände des Konservatoriums
trachteten die Genannten, den von Felix Mendelssohn authentisch ausgeprägten
Istzustand ideal angeleiteten ambitionierten Musizierens mustergültig festzuschreiben.
"Er hat mich an das ihm so liebe Institut berufen; ein Wirken daran mit
ihm wäre mir eine tägliche Freude und Genugtuung gewesen, das Wirken
daran ohne ihn bleibt mir Pflicht und heiliges Vermächtnis. Ich muss nun
für uns beide arbeiten."
So beschied Ignaz Moscheles - im Oktober des Jahres 1846 von Felix Mendelssohn ans Konservatorium berufen - seine Gattin Charlotte in ihren Erwägungen einer Rückkehr nach England nach Mendelssohns unerwartetem Verscheiden. Treffender lassen sich Vorstellungen und Geisteshaltung kaum zusammenfassen, mit welchen die Nachlassverwalter vermeintlich Mendelssohnschen Gründungs- und Arbeitsgedankens am Leipziger Musikkonservatoriums an diese Aufgabe herangingen.
Ausdrücke wie "Pflicht" und "heiliges Vermächtnis" legen den Verdacht auf ein gewisses Mass von Fundamentalismus, Dogmatik, "konservierende", ein Ideal für alle Zeiten festschreibende, formal in sich erstarrende Gralshüterschaft bei der Bewältigung dieser Aufgabe nahe. In diesem Bemühen übersahen die Repräsentanten eines expliziten Leipziger Konservatoriumsstils jedoch das Bestreben Mendelssohns, die propagierten musikalischen Formvorgaben konzeptionell, harmonisch und klangsprachlich um eigene Erfahrungen und Einsichten zu erweitern. Bereits in den 50ziger und 60ziger Jahren des 19. Jahrhunderts verfestigte sich, dem hohen Ruf und weitreichenden kompositionstheoretischen Einfluß des Institutes zum Trotze dort ein Akademismus substanzarmer unflexilbler Musikkonservative. Im Sinne der charakteristischen Adorno-Maxime: "Mendelssohn - gegen seine Liebhaber verteidigt!" bedingte diese Haltung die fehlgeleitete Vermächtnispflege eines Klischees, welches sich auf die zeitgenössische Einschätzung der originären musikalischen Kompetenz des Konservatoriumsgründers im Nachhinein unglückselig auswirken sollte.
Zum einen firmierte das im Akademismus verharrende Konservatorium zu Leipzig in verallgemeinerter öffentlicher Wahrnehmung als "Mendelssohn-Schule", galten Absolventen desselben - gleich dessen, ob es sich um heute möglicherweise zu Recht vernachlässsigte Kompositeure wie Martin Blumner, Friedrich Kiel, Ludwig Meinhardus, Karl Reinecke und Robert Volkmann Joachim oder wahrhaft inspirierte Tonschöpfer wie Max Bruch oder Edvard Grieg handelt pauschal als "Mendelsohnianer" und Epigonen. Des Weiteren unterfing sich das Konservatorium - vor allem unter der Ägide des Thomaskantors Moritz Hauptmann - in der musikästhetischen Diskussion gegen die Bestrebungen "neudeutscher" Avantgardisten zu polemisieren. Hauptmann trachtete danach, Repräsentanten Neudeutscher Musik dem Konservatoriumsbetrieb so weit als möglich fernzuhalten, um den bestehenden Ruf zentralen traditionalistischen kompositionstheoretischen Lehrens in Deutschland und Europa keinesfalls zu gefährden. Dies gab selbstredend Anlass zu aggressiv vorgetragenen publizistischen Retouren neudeutscher Ideologen auf das Konservatorium als "Mendelssohn-Schule"; liess somit den Konservatoriumsinitiator erneut zum Ziel rhetorischer Attacken werden.
Das Wort von den epigonalen "Mendelssohnianern" machte die Runde, der nazarenisch-erbaulichen Kleinmeisterei postbachscher und -Mendelssonscher Oratorien, der pianistischen Kleinwerke, welche bei Mendelssohn noch mit wahrer poetischer Empfindung erfüllt, sich nunmehr in kitschigem Sentiment ergössen; die Begriffe "Geschmacksgefährlichkeit des Mendelsohn´schen Vorbildes" (Riemann) oder der pianistischen "Salonmusik" kamen auf.
Dem
spezifischen Unterfangen einer Konsolidierung des Mendelssohnschen Erbes zumindest
dienlicher erwies sich die publizistische Tätigkeit Hanslicks. In der Rezension
einer Veranstaltung der wiener Singakademie in der Zeitungsrubrik "Aus dem
Konzertsaal" aus dem Jahre 1858 entlarvt er, neben einer erwartungsgemäss
vom traditionalistischen Standpunkt aus geführten Suada gegen die Verrottung
musikästhetischer Gepflogenheiten, hellsichtig die Intention des gegen Mendelssohn
betriebenen "neudeutschen" Nihilismus:
"Die Degradierung
Mendelssohns zu einer "falschen Zwischenbildung" in der Geschichte der
Musik muß wohl die Ansicht in sich schliessen, daß wir ohne diesen
Auswuchs viel weiter wären. Darauf ist zu erwidern, daß im Gegenteil
in Mendelssohns Erscheinen gerade zu dieser Zeit und in diesem Zusammenhang eine
der weisesten Fügungen der Kunstgeschichte liegt. Ohne seine Formschönheit,
sein reines, klares Gestalten wäre (...) die Verwilderung, die wir gegenwärtig
in der "Zukunftsmusik" erleben, viel früher und ungleich verderblicher
eingebrochen."
1869 gab sich der Komponist Richard Wagner als Verfasser einer zweiten, überarbeiteten Fassung des "Judenthums in der Musik" zu erkennen. Unter der Protektion des Bayernkönigs Ludwig II. hatte er mit den Uraufführungen von "Tristan und Isolde" und den "Meistersingern" in München endgültig die Anerkennung eines Opernreformers und Musikdramatikers gefunden. Mit der wachsenden Popularität seines musikalischen Werkes nahm auch der Einfluss des Theoretikers Richard Wagner auf das kulturelle und geistige Leben des späten 19. Jahrhunderts zu. Somit griffen auch dessen antisemitischen Ansichten um sich, welche er in weiteren verschärft argumentierenden Schriften erhärtete.
Um 1870 herum trat auch der Leipziger Publizist August Reißmann; ein ehemaliger Konservatoriumsschüler Felix Mendelssohns mit Schriften an die Öffentlichkeit. In diesen vermochte er es kaum, das Werk dieses Komponisten im Stande gebotener ästhetischer Eigenständigkeit zu beurteilen. Vielmehr unterwarf er es erneut dem alleinigen Massstab musikalischen Fortschritts. Es verdeutlicht sich erneut, wie dominant sich dieses von der "Neudeutschen Schule" kultivierte Dogma in jenen Jahren gebärdete - wie sehr die sachlich ästhetische Analyse von Musik als eines Sprachrohrs nur in eigener Sache damals verunmöglicht war.
Reissmanns Mendelssohn-Traktat
ist allein durch sein Benehmen bemerkenswert, die antisemitischen Theorien und
speziell auf Mendelssohn gemünzten abfälligen Invektiven einer angeblich
oberflächlichen angekränkelten jüdischen Psyche sowie synthetischen
künstlerischen Empfindens aus Wagner/ Freigedanks "Judenthum" nahezu
identisch in den unverdächtigeren Tonfall "objektiv" musikwissenschaftlichen
Theoretisierens übertragen zu haben. Er gab somit einer Entwicklung eines
Kataloges musikalisch absolut vorgetragener, scheinbar von den offenkundigen antisemitischen
Stossrichtung des Wagner/ Freigedankschen Traktates gänzlich befreiter, negativer
Mendelssohn-Stereotypisierung erheblich Vorschub.
"Mendelssohns ganze Erziehung hatte in ihm früh jenen genialen Sinn für Formvollendung ausgebildet, der es im Grunde verhinderte, dass seine Individualität sich wirklich selbstschöpferisch und neugestaltend vertiefte (...) Früh leitete ihn das Bewusstsein von der idealschönen Form, in welche er seine Individualität zu ergiessen strebte, diese aber war weder sehr tief noch überaus reich ausgestattet (...) Mit rastlosem Fleisse (...) hatte er sich die unumschränkte Herrschaft über alle Mittel der musikalischen Darstellung angeeignet, aber er verwendet diese immer nur nach dem durch seine Individualität beschränkten Maße (...) Er stellt seine leichter entzündbare Phantasie, sein rascher und mächtiger erregtes Interesse unter die Herrschaft fremder Einflüsse.
Bach und Händel, Mozart und Beethoven (...) gewinnen Anteil an seiner Innerlichkeit aber nur so weit sie eben Raum darin finden, sodass diese selbst nicht gerade gewaltiger und tiefer wird. (...) Mendelssohns Phantasie wird von der des Dichters nur angeregt; der Meister empfindet die fremde Dichter-Individualität nur in dem beschränkten Rahmen seiner eigenen und vermag sie daher auch nicht umzudichten (...) Selbst jetzt, nachdem uns der ganze Mendelssohn bekannt ist, wird es nicht leicht, in den Liedern op. 8 und 9 die besondere Weise seines Empfindens zu erkennen, weil hier das Fremde und Angelernte überwiegt. (..) Sie sind alle im Sinne und Geiste der grössten Meister empfunden, aber der Ausdruck ist auf jenes Maß zurückgeführt und abgeschwächt, das ihm für die ganz grosse Allgemeinheit Giltigkeit gibt und daher den Liedern die weiteste Verbreitung sichert. Die Lyrik Mendelssohns wurde so (...) zur Massenlyrik. (...)
Mendelssohn führte mit seinen "vierstimmigen Liedern im Freien zu singen" auch dem Chorliede alle die in seiner Individualität abgeklärten Elemente des Musikempfindens seiner Zeit zu (...) Der vierstimmige Liedergesang stellt nirgends Anforderungen, die ausserhalb der Individualität unsres Meisters liegen. Subjective Vertiefung wie die Verdichtung zu grossen und weit angelegten Tonbildern sind dem Chorliede ebenso fremd wie unserem Meister. Die besonderen Feinheiten des Empfindens finden natürlich nur so weit Berücksichtigung als sie sich im Chorliede darstellen und dem Gesamtempfinden vermitteln lassen - und hierin ganz besonders liegt Mendelssohns unübertroffene Meisterschaft. " ("Die drei grossen Meister der musikalischen Lyrik" in "Die Tonhalle", Leipzig vom 9.11.1869)
In Erörterungen der "Kunst- und Kulturgeschichtlichen Bedeutung" Mendelssohns verweist Reissmann zwar auf den hohen Rang der "ewig gültigen Kunstwerke, welche" Mendelssohn in "schöpferischer Wirksamkeit für die gesamte Kulturentwicklung", hervorgebracht habe, gibt aber des gleichen zu bedenken, daß man Innovation vergleichbaren Ranges hinsichtlich "Weiterbildung der Kunst" und eines "neuen Ton(es)...der zur Weiterverfolgung anregte" nicht zu erkennen vermöge.
Verblümt, in umsichtig, taktvoll erwogener Formulierung, wird hier der Einschätzung Vorschub geleistet, das Mendelssohns Musik zwar unbestreitbar den Geschmack zeit-genössischer Hörerschaft vollgültig befriedigte, Hörern künftiger Generationen aber wohl kaum noch wesentliches zu sagen vermöchte.
Solch Ausmass nachhaltig um sich greifender Mendelssohn-Verfemung riefen Freunde und Weggefährten wie den Komponisten und Dirigenten Ferdinand Hiller zur Verteidigung von Namen und Rang Mendelssohns auf.
Hiller veröffentlichte
im Jahre 1874 ein Gedenkbändchen, welches der Öffentlichkeit "Briefe
und Erinnerungen" zugänglich machte. Im Vorwort machte Hiller aus dem
Anlass der Publikation keinen Hehl und schrieb daher:
"Verehrer Mendelssohns
haben es mir vorgeworfen, nicht schon vor längerer Zeit mit Mitteilungen
über ihn hervorgetreten zu sein. Vielfache Gründe hielten mich davon
ab. (...)
Jetzt aber trete ich um so freier mit diesen von dem Dahingeschiedenen so liebenswerte Züge enthaltenen Blättern hervor, als er, einer der schönsten und hellsten Sterne am Himmelsgewölbe deutscher Kunst, gerade in seinem Vaterlande, von dem Unverstand, der Urtheilslosigkeit und dem Neide Angriffe erfährt, welche nur denen, von welchem sie ausgehen, zur Unehre gereichen; denn der Glanz, in welchem sein Name erstrahlt, zu verdunkeln wird ihnen nimmer gelingen. Das Gold widersteht dem Roste. ("Felix Mendelssohn-Bartholdy, Briefe und Erinnerungen, Köln 1874)
In den 70ziger Jahren des 19 Jahrhunderts
verfielen Rezensenten zunehmend darauf, Mendelssohns Klavierwerke explizit in
den Rang oberflächlich brillianten Demonstrationsrepertoires pianistischer
Fähigkeiten von Nachwuchskünstlerinnen zu erheben. So schrieb die "Tonhalle"
im April des Jahres 1870:
"Fräulein Mehlig spielte die Pianopartie
des schönen Es-Dur Trios, Phantasiestücke von Schumann, Präludium
und Fuge von Mendelssohn (...) Hier war ein grosses Feld reicher Kontraste! Schumanns
tief innerliches Phantasiestück neben Mendelssohns massvollem und glattem
Präludium".
Am 2.ten November heisst es ebenda:
"Wenn wir in dem herrlichen Bachschen Präludium und Fuge, (...) von den grossartig unruhigen Tonwellen und dem markigen Fugenthema fortgerissen wurden, so war auch die Klangwirkung des Mendelssohnschen Adagios von dem weichesten Charakter durchweht."
Am 7. Dezember schrieb die "Tonhalle" wiederum:
"Einen höchst erfreulichen poetischen Reiz gewährten die Claviervorträge der sechzehnjährigen Frl. Emma Brandes aus Schwerin. Wenn eine so jugendliche Persönlichkeit sich an ein Stück wagt, wie das G-Moll-Concert von Mendelssohn, (...) so will das viel sagen. (...) Wir mussten uns bei dem Spiel der Frl. Brandes gestehen, was zu ahnen noch kein Künstler bei uns veranlasst hatte, daß das G-Moll-Concert dem Ausführenden, wenn er von musikalischer Intuition durchdrungen ist, bei dem Spielen dieses scheinbar mehr für die glänzende Entwicklung wahrer Technik geschriebenen Stückes Gelegenheit giebt, alle Vorzüge eines vortrefflichen Clavierspielers zu offenbaren.
Abschliessend sei die Ausgabe
vom 14.12.1870 zitiert:
"Die noch im kindlichen Alter stehende Pianistin
Laura Kahrer, welche sich bereits in mehreren bedeutenden Städten mit Erfolg
produziert hat, gab ein Concert, das in vieler Beziehung Staunen zu erregen geeignet
war. (...) Die Handgelenke (...) sind auffallend elastisch und befähigen
zu erstaunlich leichtem und graciösem Octavenstaccato und überhaupt
leise über die Tasten hingehenden sogenannten Mendelssohnschen Clavierfiguren."
10.
Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben!
"Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben, aber Liebe Glück und Kunst haben es aus Licht und Wärme Dir gewoben! Zieh hin und sinke, wenn es sein muß, wie alles Schöne im Frühlinge dahin!"
Euphemistisch belegt Adele Schopenhauer die ausserordentlichen Wirkung, welche der 12-jährige Knabe Felix auf die Schwester des Philosophen und allgemein ausübte. Darüber hinaus nimmt sie prophetisch die Geschicke Felix Mendelssohns in zwiefacher Hinsicht vorweg. Den Lebensweg des Komponisten zum einen; äusserlich wahrnehmbar scheinbar ein einziger Höhenflug.
Zum zweiten: den stereotypen Rückschluss von privilegierter Biographie auf die musikalische Substanz von Kompositionen, welcher sich in zunehmend veräusserlichter Betrachtung des Sujets durch Musikologen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete. Vom 3. Weg, dem inneren Weg des musikalischen Humanisten in eine substantielle emotionale und musikalische Melancholie hinein, in die Gewissheit um das Vergehen einer Epoche, welche entscheidende gesellschaftliche Veränderung durch Kultur und Bildung für möglich hielt; in die finale Gewissheit, versagt, das Hauptziel, vermittels Musik die Menschen innerlich zur Vervollkommnung und Erkenntnis anzuleiten, nicht erreicht zu haben, konnte Adele Schopenhauer nichts vorausahnen, wollten besagte Musikologen nichts erahnen.
Sie
überlagern sich mit der sachfremden Argumentation einer Musikwissenschaft
späterer Zeiten, welche die idealisierte Gleichsetzung der Betrachtung von
Werk und Person eines Komponisten zum Dogma erhob.
Bedeutsame Musik: komponiert von einem Menschen, dem es, frei von materiellen Sorgen, geliebt, künstlerisch von jeher gefördert und vorbehaltlos akzeptiert, nachweislich immer wohlerging? Wie wäre das möglich?
In einer übersteigert-romantischen Vorstellung jener Jahre von Kunst als entsagungsvoller Verpflichtung rang das wahre Genie - der Heros des Judenaufsatzes - abseits von Anerkennung oder Lebensglück um meisterliche musikalische Wahrheit. Erst spät oder niemals fand so das Werk bedeutender Künstler zu Lebzeiten Anerkennung. Das persönliche Leid des Künstlers als zuverlässigster Indikator künstlerischer Größe, dem Maßstab einer beinahe mathematisch vorgenommenen Relativierung unterworfen: Je mehr persönliches Leid, desto bedeutsamer das Werk.
Wies nicht allein der Vorname Mendelssohns symbolträchtig darauf hin, wie sehr sich Gedanken an Genialität und Meisterschaft hinsichtlich seines Werkes ausschlossen: "Felix" - "der Glückliche"!
Intermezzo
II: "Felix! Tust Du nichts?!"
rief Mutter Lea stets, wenn der Knabe sich ins Plaudern verstieg und er sich somit des Müssiggangs hingab. Auch der zum Manne herangereifte Felix Mendelssohn mochte diesen zu unablässigem Bildungsfleisse anspornenden Ruf innerlich noch oftmals vernommen haben.
"Nun ist Glückhaben noch kein persönliches Verdienst; entscheidend ist, wie einer sein Glück empfängt und verwaltet (...) Betrachten wir also die Lebensstationen dieses in der Tat vom Glück begünstigten Künstlers, der (...) das ihm Zugefallene täglich in harter Arbeit bis zur Erschöpfung sicherte, (...) der mit der Bürde "Glück" in einem nur kurzen, sich selbst verzehrenden Leben fertig werden musste." gibt Eduard Kleßmann in "Die Mendelssohns - Bilder einer deutschen Familie" im Hinblick auf die tiefschichtiger erkennbaren Aspekte eines Felix Mendelssohn Bartholdy zuerkannten Übermasses glücklicher Lebensumstände zu bedenken.
Das stereotyp wiedergegebene Genrebild vollendeter Sorgenlosigkeit ignoriert demzufolge das Desinteresse Mendelssohns an potentiellem grossbürgerlich-materiellem Müssiggang.
Allein die Leipziger Jahre zeigen Momente einer Schaffensverpflichtung auf, welche nahezu etwas getriebenes, psychopathologisches in sich tragen. Die Vermutung, daß die Ruhelosigkeit eines im innersten Wesen zutiefst unsicheren Menschen, die sich auch in leichter Reizbarkeit, den verbürgten raschen Dirigiertempi und der Häufigkeit der Tempovorgaben Presto, Molto vivace, Molto allegro con fuoco in den Kompositionen äusserte, zu Überarbeitung, Depression und vorzeitigem Tode des Komponisten beitrugen, liegt nahe.
Das Klischee schmerzgeboren titanesker Kreativität des Genies, welchem ein in pastoral-ätherischer Idyllik dargestellter "Felixissimus" nicht zu genügen vermochte, wurde von der Musikpublizistin La Mara in ihrer Darstellung von "Musikalischen Studienköpfen" trefflichst bedient. Auch hier firmiert nicht der wahre Name einer Autorin; die eigentlich auf den Namen Marie Lipsius hörte. Gleich zu Beginn ihrer Darstellung heisst es:
"Auf lichten Höhen wandelte er sorglos dahin, unangefochten von Nöthen und Bedrängnissen des gemeinen Lebens, frei von Zwiespalt und Kampf, wie sie die Künstlerseele so häufig beschweren".
Als ob ästhetisches Räsonieren und kreatives Handeln den Anforderungen des Kriegsfalles unterworfen sei, der Künstler sich in Wahrheit also am Massstab vaterländischen Gemeindienstes als substanziell erzeigte, behauptet La Mara Lipsius in wahrhaft martialischer Gestimmheit:
"Ein Heldencharakter freilich wird nicht im Sonnenlichte gezeitigt, er bedarf der Schatten und Kämpfe von grossen Schmerzen. So ist auch Mendelssohn kein Heldencharakter geworden, nicht das, was man einen Heros der Töne nennt. Ihm fehlt die genialische Überfülle, die himmelanstürmende Kraft, die kühne Ursprünglichkeit, die jenen macht. Nicht in die nächtigen Tiefen innerlichen Ringens und Kämpfens ist er hinabgestiegen, eine Welt in sich befriedeter Schönheit und wolkenloser Klarheit ist es, darin seine Musse zu verweilen pflegt.
Aus solch Zerrbildnis heraus betrachtet, überzogenen Ansprüchen an Allgemeinverbindlichkeit kulturellen Wirkens sowie Versäumnissen hinsichtlich biographischer Wahrheitspflicht geschuldet, war wohl kaum noch angemessene Darstellung der Oeuvres eines so beschriebenen Kompositeurs vorstellbar.
La Mara leistet viel eher einem verhängsnisvollen Kulturdarwinismus vom Schlage Freigedank/ Wagners Vorschub, welcher die Künste dem Gesetz des Pathos unterwarf. Das Pathetische allein ist diesem zufolge gross und wahr; nur der Künstler, welcher des Lebens Mühsal den Pathos abrang.
Das von La Mara vorgestellte Bild gemahnt an die symbolträchtige Fabel von der Grille und der Ameise. Letztere bemüht sich im Verborgen und finsteren um überlebenswichtiges Gut, während die Grille sich Sommers tändelnd, musizierend im flüchtigen Beifalle sonnt und den Winter nicht zu überstehen vermag.
11.
Von der E-Musik und der U-Musik
Auch die Kluft zwischen den Ebenen Populärmusik und Hochkultur bestärkte eine Musikwissenschaft, welche Werk- und Rezeptionsästhetik von Musik als selbst-verständliche Einheit auffasste, in ihrem Vorbehalt, es letztendlich nicht mit einem E- sondern mit einem U-Musiker zu tun zu haben. Die akademische Musikpflege durch Musikologen, Rezensenten und professionelle Instrumentalisten begann das Bild Mendelssohns als "Epigonen, faden "Klassizisten" und "schwindender Grösse" festzuschreiben. Die Präsenz seiner Werke auf den Konzertpodien schwand. Chorgesänge und Klavierkompositionen erfreuten sich in der Haus- und Volksmusik hingegen ungebrochener Beliebtheit.
Nun offenbart sich darin eine aus allen kulturellen Traditionen vertraute Tendenz intellektueller akademischer Erhabenheit, welche sich mit Heranbildung und dem wachsenden gesellschaftlichen Einfluss bildungsbürgerlicher Strukturen ausprägte.
Es war im 18. und frühen 19. Jahrhundert weniger Ausnahme als Regel, daß Kompositionen der bedeutensten Tonschöpfer Volkstümlichkeit erlangten oder gar gezielt für den populär- oder semipopulärmusikalischen Bereich entstanden. Mozart hatte keinerlei Schwierigkeiten, neben den erschütternden psychischen Vertiefungen des "Requiem" und der Titusoper auch Vogelfängerarien für die Wiener Vorstadt zu schreiben. Mozart-Kompositionen wie das nurmehr volksliedhaft rezipierte "Komm, lieber Mai und mache....", das berückende "Rondo alla turca" für Klavier sowie die Streicherserenade "Eine kleine Nachtmusik gingen ins bürgerliche Populärmusikgut ein.
Auch das Schaffen Haydns ("Meine Mutter schickt mich her, ob der Kaffee..." nach der Symphony Nr. 94 "Mit dem Paukenschlag" und jenes Beethovens ("Für Elise") blieben nicht ohne Einfluss darauf. Melodien aus Carl Maria von Webers "Der Freischütz" wurden bereits Tage nach dem überwältigenden Premierenerfolg in den Strassen Berlins nachgesungen und -gepfiffen. Lieder wie "Der Lindenbaum", "Das Wandern ist des Müllers Lust" von Franz Schubert oder "Guten Abend. Gute Nacht" von Johannes Brahms zählten im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Volksliedgut. Die Musikforschung hantiert hier offenkundig mit zweierlei Maß.
Der Vorwurf bezeichnender, exorbitanter Popularität einzelner Mendelssohn-Kompositionen lässt vielmehr Subjektivismus, Voreingenommenheit erkennen. So bleibt nur noch eines von Interesse: wann der gemeinhin sanktionierte Bruch zwischen populär- musikalischer und neuzeitlich professionell aufgefasster Musiktradition exakt einsetzte; wen der akademische Bannstrahl traf, wen er verschonte. Eric Werner definiert die Auflösung gemeinschaftlicher Verwurzelung von "Kunst" und "Gebrauchsmusik" in der Tradition höfischen Musizierens in der sich zunehmend verbürgerlichenden Ägide Franz Schuberts, also den Zeiten des Metternichregimes in den Jahren um 1820. Die Instrumentalmusik spaltete sich demzufolge in die nunmehr unvereinbaren, autonom sich fortentwickelnden "Ebenen der "reinen" Kunst, die klassisch-romantische Kammer- und Symphoniemusik sowie die Ebene des Populären jedweder Operetten- und Tanzmusik jener Zeit und der Salonmusik für Klavier, Harfe oder das kleine Ensemble der Gartenrestaurants"
Die auf solch chronologischer, kulturgeschichtlicher Betrachtung beruhende Analyse musste also resümieren, das Mendelssohn als "seriöser" Musiker den "Fehler" beging, diverse, nurmehr "Kleinmeistern" zuerkannte, Populärmetiers wie romantische Männerchöre, "Lieder, im Freien zu Singen", Duette und Quartette, Klavierminiaturen etc. weiterhin bedient zu haben. Möglicherweise mit dem Drang zu solchen Formen gar seinen wahren künstlerischen Gehalt aufgedeckt zu haben. Aber auch dieser Weg führt in der Frage: definitive Einschätzung eines Komponisten aus seinem kleinteiligen Füllwerk heraus keineswegs weiter. Andere Komponisten haben eine Unzahl von Gelegenheitskompositionen geschrieben oder mit ihrem Werk dezidiert auf Populärformen Bezug genommen, ohne im Ansehen im Mindesten Schaden genommen zu haben.
Schubert, Schumann und Brahms haben gleichwohl Vokalduette und -Quartette und Männer-, Frauen-, Gemischtchorsätze a capella bzw. instrumental minimal begleitet komponiert, Klavierpoesien schätzen wir vergleichbar bei Robert Schumann. Gerade das Oeuvre Richard Wagners weist einen immensen Bestand von Gelegenheitskompositionen, Repräsentativ-Chören und -Märschen etc. auf; Werken, welche dem musikalischen Niveau des eigentlichen Musikdramatikers in keiner Weise entsprechen und demzufolge heute vergessen sind. Das kammermusikalisch als hochstehend eingestufte "Siegfried-Idyll" entstand nachweislich als improvisiert, im Treppenhause dargebotenes Gebrurtstagsständchen an Wagners Gattin Cosima. "Sowohl der "Pilgerchor" und der "Einzug der Gäste auf Wartburg" aus der Oper "Tannhäuser", als auch die Chorensembles des "Fliegenden Holländer", die Vasallenchöre in "Lohengrin" orientierten sich unmittelbar am Vorbild Mendelssohnscher Männerchortableaus; der von Mendelssohnscher Feiermusik inspirierte Brautchor im 3. Akt Lohengrins zählt neben dem Hochzeitsmarsch aus der "Sommernachtstraum"-Musik zum Archetyp romantischer Hochzeitspiècen.
Des Weiteren gehören die "Holländer" und "Tannhäuserchöre" zumindest noch heute zum Kernrepertoire grösserer Feuerwehr-, Polizei- und Volkschorvereinigungen. Welche seriöse Musikrezeption sähe den Wert zahlreicher Opern vor allem der mittleren Periode von Verdis Schaffen dadurch geschmälert, daß sie sich exzessiv des hochpopulären Idioms italienischer Banda-Musik bedienten. Der grosse Johann Strauss II hat kaum anders als für populär- oder repräsentativmusikalische Anlässe geschrieben und gehört selbstverständlich zum Repertoire führenden Symphonyorchester aller Länder und Kontinente. Die Beliebtheit der Mendelssohn-Chöre: Oh, Täler weit, oh Höhen...", "Wer hat Dich, Du schöner Wald...", der Lieder: "Es ist bestimmt in Gottes Rath...", "Auf Flügeln des Gesanges...", des "Frühlingsliedes" und anderer nachträglich mit Texten versehenen "Lieder ohne Worte" sowie des anrührend-ätherischen Weihnachtsliedes "Hark, the herald angels sings..." verliehen Mendelssohns Schaffen in den Augen der Musikwissenschaft in steigendem Masse etwas anrüchiges.
Das Phänomen ist erneut dem Heroisierunggedanken von Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschuldet. Musikern, die als "deutsch", als "Heros" geschätzt wurden, die um ihr Werk "gerungen", "gelitten" hatten, gestand man den "reinen Volkston" in den Populäräusserungen als wahre und authentische Äusserung bedeutender Meister zu. Die Populärnummern derselben wurden quasi durch den idealen Tiefgang reinen absoluten Schaffens kanonisiert. Wie wenig zuvor dargestellt, stellte man Mendelssohns Musik seinerzeit in Gesamtheit als "fein-empfindsam, "sentimental", "weibisch", "geschmacksgefährlich" und somit "jüdisch" dar. Da dem Konzertwerk Mendelssohn Bartholdys die genannten Attribute "Genios" etc. weitestgehend abgesprochen wurde, mochte man die Populärwerke demzufolge für die übelsten sentimentalsten Auswüchse eines in sich fragwürdigen, seichten Schaffens nehmen.
Hellsichtig verwies der Musikpublizist Wilhelm Heinrich Riehl bereits im Jahre 1850 auf jene Aspekte einer kultursoziologische Biographie Mendelssohns, welche dessen postmortale Reputation durch "sachfremde" Erörterung und Rückschlag auf das musikalische Resultat zu gefährden imstande war.
Riehl veröffentlichte in diesem Jahre innerhalb seiner Anthologie von Musikalischen Charakterköpfen den Essay "Bach und Mendelssohn aus dem socialen Gesichtspunkte", welcher sowohl als Nachruf auf Felix Mendelssohn als auch eine Würdigung des Thomaskantors Bach zu dessen 100. Todestag verfasst wurde. Riehl zählte eingangs als Unbefangener wahrheitsgemäss die humanen und soziologischen Vorzüge des Tonschöpfers Mendelssohn auf. Diese wurden später in den Werken anderer Autoren, in vergleichbarer rhetorischer Konzentrierung oder besser; Überspitzung vorgebracht und sollten der musikbiographisch stereotyp vorgebrachten Entwertung, ja Karikierung des Vorbildes dienen. Mendelssohn war somit "ein vielseitig gebildeter, gesellschaftlich gewandter, wohlhabender, fein gesitteter Mann, in fast ganz Deutschland bekannt, in allen auserlesenen Zirkeln gesucht."
Wenngleich Riehl auch die Darlegung, wie sich "jüdelnde Schreibart" jener Tage musikalisch darstellte, schuldig bleibt; umreisst er doch schlüssig die integrale Position Mendelssohns innerhalb eines zunehmend von bildungsbürgerlichen Idealen ausgeprägten und getragenen Musiklebens des frühen 19. Jahrhunderts.
"Er war der erste Musiker, welcher so recht für die "feine" Gesellschaft - im guten Sinne des Wortes musizierte. (...) So schrieb auch Mendelssohn im Geiste dieser gebildeten Gesellschaft, die sich jetzt ausgleichend und vermittelnd über alle Stände hinzieht (...) Es war bei seinem Auftreten etwas ganz neues, einem modern eleganten Musiker zu begegnen (...), der Lieder setzte, ohne sich die einfältigsten Texte zu wählen, der Kammermusik schrieb, ohne langweilig, und Salonmusik, ohne frivol zu sein, einen Tondichter jüdischer Abstammung, der nicht jüdelte, während fast alle christlichen Lieblingskomponisten des Tages jüdelten. (...) Keine andere Kunst hat einen Mann aufzuweisen, der in seinem künstlerischen Schaffen so ganz inmitten des sozialen Lebens unserer gebildeten Kreise gestanden hätte und wiederum so von diesen verstanden und gewürdigt worden wäre wie Mendelssohn".
Die augenscheinliche Affinität Mendelssohns zu seiner bildungsbürgerlich-musikalischen Umgebung, erweist sich auch in der fruchtbaren Tätigkeit des sich dezidiert als Humanisten und Citoyen verstehenden Komponisten in Leipzigs Klima aufgeklärten bürgerlichen Selbstbewusstseins. Im Gegensatz dazu sollte das Modell einer zentralen, königlich preussischen Musikdirektion in Berlin, welche Friedrich Wilhelm IV. von Preussen dem Komponisten andiente, so gar nicht funktionieren. Nicht allein daher, weil diese den aktuellen Entwicklungen im Kulturbetrieb nicht mehr entsprach.
James Webster legte das primitiv konstruierte Schema, aufgrunddesssen sich im späten 19. sowie im 20. Jahrhundert in semantischer Deckungsgleichheit bildungsbürgerlicher Relevanzen Vorurteile gegen Felix Mendelssohn herleiteten, in einem präzise erstellten Diagramm dar:
Vorstellungen, die zum "Problem
Mendelssohn" beitragen:
Kultur und Ideologie; Herkunft bzw. Persönlichkeit
Bürgerlichkeit
Reichtum; begünstigter sozialer Status
Zugang
zu bedeutenden musikalischen Persönlichkeiten
Harmonisches Leben, ohne
Kampf und Leid
Jüdische Abstammung
Wunderkind; Leichtigkeit beim Komponieren
Erfolg
Bemühungen um Erfolg; Anpassung an die Zuhörer
Ideologie der Bejahung; Aufrichtigkeit; christliche Frömmigkeit
Musikgeschichte
Klassizistisch im Stil bzw. in der Wahl der Gattungen
Gründliche konservative
Musikerziehung; Pflege alter Musik
Analyse (=Ästhetik)
Thematische
Konstruktion
Melodisch; gleichmässig; korrekter, kunstvoller Satz
Mangel an Prozessualität bzw. Problematisierung, Pflege alter Musik
Rhythmus
Periodengebunden; einheitlich
Einförmig bzw. undynamisch
Form
traditionell; übersichtlich
Überkommen; blosses "Gehäuse";
undramatisch; unklassisch
Kammermusik
Faktur zu orchestral (z. B.
Tremolo)
Innennstimmen "zu viel", dem bescheidenen Inhalt bzw. Dynamik
gemäss
Folgerungen für die Beurteilung von Mendelssohns Musik
Oberflächlichkeit; konventionell; sentimental
Mangel an künstlerischer
Authentizität (Gewicht, Ausdruck, Tiefe)
Mangel an historischer Authentizität
(unzeitgemäss; epigonal)
Naiv (im Schillerschen Sinne); Mangel an Besonnenheit
Gattungsunterschiede
Nur kleinere bzw. periphere Gattungen ganz erfolgreich;
"Elfenmusik, Scherzi, Programmouvertüren, Lieder ohne Worte
"Zentrale"
Gattungen nur bedingt erfolgreich: Sinfonie, Konzert, Kammermusik,
grössere
Vokalwerke
"Weiblich" und/oder "jüdisch" eingestuft
12.
Der schönste Zwischenfall der deutschen Musik
Was mag in der Psyche derjenigen, welche dieses auf pseudorevolutionär genialisch ausgeprägter Kulturdoktrin beruhende Schema konzipierten sowie derer, welche es in allgemeiner Übereinkunft bereitwillig rezipierten, eigentlich vor sich gegangen sein?
Im Vorwurf mangelnder künstlerischer Substanz Mendelssohns, welche sich angeblich vermittels Anbiederung an herrschende Gesellschaftschichten und den vorherrschenden Publikumsgeschmack zu kompensieren trachte, manifestierte sich vor allem folgendes: ein Dilemma stetigen Missverhältnisses zwischen künstlerischen Anspruch und dem Zustand bürgerlichen Seins neudeutscher Musiker und deren Umfeld.
Wie die Biographien führender Repräsentanten derselben zeigen, waren jene materialistischer oder politischer Konformität keineswegs abhold (Wagner, Liszt). Waren zu jener wahren Höhe, welche man einem Mendelssohn - genanntem Schema folgend - insistierend absprach, selbst nicht berufen. (Dr. Eduard Krüger, Dr. Franz Brendel, Theodor Uhlig, Hans von Bülow, Cosima Wagner).
Eine Systematik egozentrischer Schizophrenie deutet sich an: diejenigen, welche Kunst in der Funktion unausgesetzten gesellschaftlichen Widerstandes begriffen, auf ästhetischen Fortschritt, politische Umwälzung drängten, zielten gleichzeitig aber auf künstlerische Akzeptanz und Vormacht sowie stetige mäzentische Förderung durch kulturbewegte Bourgeoisie und das Feudalsystem ab.
Mit der symbolträchtig systematischen Anprangerung mendelssohnscher Gesellschaftsrelevanz leisteten jene vor allem eines: die öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung eines Problems ästhetischer und gesellschaftlicher Arriviertheit, welches sie letztendlich nur mit sich selbst auszuhandeln hatten.
Der Dirigent Hans von Bülow, einstmals ein Pionier gezielter Mendelssohn- und Schumann-Attacke, wurde in dem Masse zum erklärten Propagandisten Mendelssohnschen Orchesterwerkes (ab Mitte der 70ziger d. 19. Jhdts.), wie er sich aus dem Schatten Wagners zu lösen vermochte. Und so ist in den Frankkfurter Notizen des Klavierschülers Vianna Da Motte aus dem Frühjahr des Jahres 1887 ein so viel milderes Mendelssohn-Wort von Bülows als jene in stürmischer Jugendzeit geäusserten verbürgt:
"Ein Lied ohne Worte von Mendelssohn ist für mich ebenso klassisch, wie ein Gedicht von Goethe".
Die Musikpublizistik jener Jahre, als
Genre nicht eigentlich künstlerisch tätig, war zu dieser Zeit in einem
existentiellen Dilemma expandierender musikalischer Expressivität und strikten
bürgerlichen Konventionen befangen. Dem grossbürgerlichen Hörer
entsprechend war sie, angesichts des Phänomens Mendelssohn Bartholdy, mehr
denn je einer Situation signifikanter Schizophrenie unterworfen.
Elementen
wie materieller Sicherheit, einer penibel nach Ständen und Schichten separierenden
Sozialordnung und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt, erwartete der grossbürgerliche
Musikbetrieb vom Künstler als pittoresk präsentiertem Enfant Terrible
in staunender, erschauernder Ergriffenheit genialische Extraordinarität und
soziale Nonkonformität. Folgerichtig ward dem "Künstler" Mendelssohn
also verargt, vermittels glücklich geführter Ehe, beschaulichem Hausstande
und umfassender gesellschaftlicher Integrität exakt die Dinge zu symbolisieren,
welche in sonstigen Lebensbereichen als Dogma bürgerlicher Lebensführung
sanktioniert wurden.
Uneingestandenen, unartikulierten Ansprüchen geschuldeter Zwiespältigkeit unwillkürlich hingegeben, war sich das bis zum Anbruch der "Informationsgesellschaft" tonangebende Grossbürgertum über seine Erwartungshaltung an den Künstler und Musiker aber scheinbar niemals gänzlich im klaren.
Den aktenkundigen Finanzschmarotzern,
Schürzenjägern und Umstürzlern in Persönlichkeiten wie Richard
Wagner, eigenbrötlerisch verschroben, bindungsunfähig lebenswandelnden
Komponisten wie Beethoven, Schubert und Bruckner bis zum heutigen Tage frenetisch
ergeben, verwehrte es dem Generalmusikdirektor König Friedrich Wilhelms IV.
von Preussen und des Gewandhauses, Ehrendoktor der Universität Leipzig und
Familienvater den Einzug in den musikalischen Olymp. Desgleichen bescheidet es
einer grossen deutschen Mimin wie Elisabeth Flickenschild wie seinerzeit jener
Hamburger Honoratior: An Kaspers vermieten wir nicht!
Im Jahre 1886
gab Friedrich Nietzsche in der Denkschrift: Jenseits von Gut und Böse demzufolge
ein folgenschwer-geflügeltes Mendelssohn-Wort vor:
" Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten als im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wahren Musikern wenig in Betracht kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell verehrt und schnell vergessen wurde: als der schönste Zwischenfall der deutschen Musik."
Nietzsche führt Mendelssohn dabei als Belastungszeugen gegen die Romantik Webers, Spohrs, Marschners, Schumanns und Wagners heran, zeigt aber wahrhaftig, wie nachhaltig sich das von Neudeutschen lancierte Bild des heiteren Sentimentalisten, der nur die Aufgabe wahrnahm, die Überleitung vom Genie Mozarts und Beethovens zum Genie Wagner herzustellen, damals bereits einprägte.
13.
Geschmacksgefährliche Lieder und Duette
"Diese
gewisse Weichheit bildet einen Grundzug von Mendelssohns Wesen, dem nur das Graziöse,
Capricciöse und Brillante soweit den Widerpart halten, daß es nicht
als Weichlichkeit und Sentimentalität erscheint. (...) Im kleinen Rahmen
(...) nicht nur mit seinen "Liedern ohne Worte", sondern auch mit seinen
Liedern, besonders aber den Duetten (...) ist Mendelssohn unleugbar sogar geschmacksgefährlich
geworden."
Als Herausgeber einer neben "Musik in Geschichte
und Gegenwart" (MGG) bis zum heutigen Tage führenden Enzyklopädie
des Musiklebens schreibt die Autorität Hugo Riemann im Jahre 1901 eine Sichtweise
voller Widersprüche fest. Bezüglich des Instrumentalwerkes beruft Riemann
sich zwar auf Robert Schumanns Eloge vom "Mozarts unseres Jahrhunderts",
brandmarkt andererseits aber "Weichlichkeit und Sentimentalität"
der "im kleinen Rahmen" der Hausmusik verdächtig erfolgreichen
musikalischen Aussage Mendelssohns, welchen Wagner in seinem zuvor als "überscharf"
und "ungerecht" eingestuften Pamphlet dankenswerterweise Einhalt geboten
habe.
Darüberhinaus trägt Riemanns Beurteilung der Tendenz romantisierenden
Musizierens jener Tage "vermittels starker Verbreiterung der Tempi, agogischer
Verzögerungen in den Kadenzen" (K.-H. Köhler) keinerlei Rechnung.
Jene liessen durch Überbetonung chromatischer Stilistiken in Melodieführung
und Harmonik die Musik Mendelssohns fernab kompositorischer Absicht sentimentalisiert-persiflierend
erklingen. Riemanns Einschätzung prägte gleichsam als Kathederwort die
Mendelssohn Rezeption innerhalb der deutschen Musikwissenschaft für Jahrzehnte.
14.
Denkmäler
Im Jahre 1868 trat in Leipzig anlässlich des 125 jährigen Bestehens der Gewandhauskonzerte und der 25 jährigen Gründungsfeier des Konservatoriums ein Komitee für "die Errichtung eines dem Gedächtnis Felix Mendelssohn Bartholdys gewidmeten Denkmals" erstmalig zusammen. Es eröffnete damit ein wenig rühmliches Kapitel in der Beziehung dieser hochrangigen Musikstadt zu ihrem entschiedensten Mentor.
Da es sich um eine Privatinitiative Leipziger Honoratioren handelte, standen keine öffentlichen Mittel für Planung und Durchführung des Projektes zur Verfügung, dessen Kosten auf 45000 Taler veranschlagt wurden. Der Vorstand des Komitees stellte daher einen Finanzplan auf, welcher vorsah, die Summe u. a. durch die Erträge lokal und überregional ergehender Spendenaufrufe sowie durch die Veranstaltung von Benefizkonzerten und Vermögensveranlagungen aufzubringen. Spendenaufrufe wie jener wurden somit in der regionalen und überregionalen Presse als repräsentative Annonce abgedruckt:
"Das Interesse
für den Mann, dem die ganze musikalische Welt zu so grossem Dank verbunden
ist, findet also seinen Mittelpunkt in dem Leipziger Leben des Künstlers
und Menschen, dessen Bedeutung die Nachwelt durch ein dem Wirken desselben angemessenes
Denkmal zu würdigen die Pflicht hat. Um diese längst erkannte Ehrenschuld
abzutragen, sind die Unterzeichneten zu einem Verein zusammengetreten und fordern
alle Freunde des Meisters auf, in zweckdienlicher Weise die beabsichtigte Errichtung
einen Felix Mendelssohn-Bartholdy-Denkmals in Leipzig fördern zu helfen.
Insbesondere werden Chor-Gesellschaften und Gesangsvereine ersucht, zu dem angegebenen
Zwecke Aufführungen zu veranstalten und den Ertrag derselben an den unterzeichneten
Verein einsenden zu wollen".
Die Finanzierung des Vorhabens vollzog sich schleppend; im Verlaufe eines 24 jährigen Prozesses von der Stiftungsinitiative bis zur Denkmalseinweihung offenbarte sich ein trübes bürgerliches Klima, welches die einstmals liberale Bürgerstadt Leipzig zunehmend prägte.
Am
Ende dieses quälenden Vorgangs war deutlich, das der Zeitgeist die Verbundenheit
der lokalen Bürgergesellschaft einem wesentlichen Repräsentanten grossbürgerlicher
Kultur gegenüber aufgekündigt hatte und sich einer vom Komitee per Annonce
konstatierten "Ehrenschuld" nicht mehr bewusst war.
Im Jahre 1869
waren erst 1400 Taler eingegangen, welche sich kaum aus Bürgerspenden zusammensetzten,
vielmehr von der vereinsnah einzuschätzenden Konzertdirektion des Gewandhauses
und Erlösen eines Benefizkonzertes eingebracht wurden.
Die vollständige Abkehr des Leipziger Publikums vom Werke Mendelssohns in den 70ziger Jahren verdeutlicht kaum eine Begebenheit trefflicher als jene: Hans von Bülow absolvierte im Jahre 1872 als Pianist eine Tournee, welche von Berlin über Warschau, Hamburg, Hannover und Düsseldorf bis nach Aachen zahlreiche deutsche Städte umfasste. In Berlin und Leipzig gab von Bülow jeweils einen dem Klavierwerke Felix Mendelssohns gewidmeten Konzertabend. Fritjof Haas schreibt dazu in seiner von Bülow-Biographie: "Zu seiner (von Bülows) grossen Enttäuschung hatte der Komponist seit seinem Tod gerade in Leipzig, dem Ort seines Wirkens, an Beliebtheit verloren. In der Presse war zu lesen, kein Pianist ausser von Bülow könne es heute wagen, zwei Stunden lang nur Mendelssohn zu spielen!"
Die darauffolgenden Jahre führten zu keinem erhöhten Stiftungsaufkommen aus der Stadt Leipzig selbst heraus, vielmehr engagierten sich Musikliebhaber aus ganz Deutschland vermittels Personenspenden oder Benefizinitiativen. Sogar in den Metropolen London und Paris wurden durch Benefizkonzerte Gelder zugunsten des Denkmals eingeworben. Ein betrüblicher Aspekt am Rande der Konzertinitiativen zugunsten eines Denkmals des Komponisten ist zweifellos, daß erst jene auch dessen Musik wieder stärker in den Vordergrund zu stellen vermochten.
Der Hausverlag Felix Mendelssohns, das renommierte Unternehmen Breitkopf & Härtel suchte im Jahre 1875 helfend einzugreifen und publizierte eine Sonderbeilage. Diese wurde allen Neuauflagen der Kompositionen Mendelssohn beigefügt und warben im Namen des Komitees um Zuwendungen.
Im Jahre 1878 entspann
sich ein Presseeklat in Leipzig um die Arbeit des Komitees und brachte das lokale
Spendenaufkommen vorerst vollends zum versiegen. Die Presse thematisierte dabei
u. a. den merkwürdigen Umstand, das die dem Komittee verpflichteten Honoratioren
zwar allenthalben um Gelder warben, selbst aber bisher nichts dem Fond beigesteuert
hatten.
Angesichts dessen nimmt es nicht verwunder, daß Felix Mendelssohn
Bartholdy die erste Gedenkstätte denn auch anderwärts errichtet wurde;
es entstand bereits im Jahre 1860 in England, wo die Bürger der Stadt Snydenham
ein Standbild des Komponisten auf der Terrasse des dortigen Kristallpalastes errichteten.
Ines
Reich vertritt in ihrem Beitrag "In Stein und Bronze - Zur Geschichte des
Mendelssohn-Denkmals" zum Leipziger Mendelssohn-Kolloquium folgende Thesen:
Waren es Ende der 60ziger Jahre des 19 Jahrhunderts noch Gründe verminderter
Wahrnehmung des Komponisten aufgrund der von der Neudeutschen Schule geschürten
Querelen um dessen Musik, lässt sich das Desinteresse der 70ziger und 80ziger
Jahre eindeutig auf den unverhohlenen Judenhass zurückführen, welcher
sich der Bürgerschaft zunehmend bemächtigte. Leipzig sollte sich in
jenen Jahren zu einer Hochburg geistigen Antisemitismus entwickeln, welcher sich
von der diffus protorassistischen Antipathie der Revolutionsjahre nunmehr zur
Reinform erklärten Rassenhasses der Gründerzeit ausprägte. Publikationen,
welche unter Antisemiten reichsweit als Standardlektüre galten, wurden in
Leipzig konzipiert und verlegt.
"Die Gartenlaube", ein Massenblatt kleinbürgerlicher Belehrung und rührenden Familiensentiments, wurde in Leipzig herausgegeben und bot der Leserschaft u. a. auch eine Fortsetzungsserie antisemitischer Aufklärung. Diese legte dem Publikum beispielsweise dar dass, "die soziale Frage (...) im wesentlichen eine Judenfrage (sei), alles übrige ist Schwindel." Theodor Fritsch, ein führender Publizist und Ideologe des, als alleinigen "Zweck seines Lebens" erachteten deutschen Antisemitismus, betrieb von Leipzig aus die Geschäfte des Hammer-Verlages. Publikationen waren u. a. "Der falsche Gott", "Das Rätsel des jüdischen Erfolges", "Mein Streit mit dem Hause Warburg", Die Sünden der Grossfinanz"; "Anti-Rathenau". Mit dem im Jahre 1887 herausgegebenen Antisemiten-Katechismus; welcher später zu einem Handbuch der Judenfrage expandieren sollte, versorgte der Hammer-Verlag die antisemitische Bewegung Deutschlands von der wilhelminischen Ära bishin zum Anbruch des "III. Reiches" mit oftmals von Fritsch in Personalunion von Autor und Verleger vorgelegten Bekenntnis- und Glaubensschriften.
Frau Reich führt zum Beweis ihrer schlüssig vertretenen Theorie dezidiert ausgeprägten Leipziger Lokalantisemitismus der 70ziger und 80ziger Jahre des 19. Jahrhunderts Fakten heran, welche für sich sprechen: Andere Vorhaben, welche vergleichbar auf die Spendenbereitschaft Leipziger Bürger reflektierten, kamen wesentlich zügiger voran. So wurden im Jahre 1883 "recht hohe Summen" für die Errichtung eines Leibnitz-Denkmals sowie einer Reformationsgedenkstätte zum Gedenken an das Wirken Dr. Martin Luther mit "verblüffender" Schnelligkeit zusammengetragen.
Ein
weiterer charakteristischer Vorfall liess dass das Benehmen der Leipziger Bourgeoisie,
sich vom Stande emanzipierten jüdischen Grossbürgertums abzusetzen,
welchem ja auch die Familie Mendelssohn seit Jahrhundertbeginn angehörte,
demonstrativ erkennen.
Der in den Jahren 1882 - 1884 konzipierte und ausgeführte klassizistische Repräsentationsbau eines neuen "zweiten" Gewandhauses wurde durchaus auch als Mittelpunkt grossbürgerlicher Selbstdarstellung im allgemeinen wie individuellen aufgefasst. Er umfasste geschätzte Baukosten von 900 000 M und wurde nachhaltig von Zuwendungen grossbürgerlicher Familien finanziert, welche für ein Denkmal Mendelssohns kaum aufkamen. Dies geht aus damaligen Spendenverzeichnissen eindeutig hervor.
Um das Denkmalsvorhaben angesichts des Klimas latenten Antisemitismus nicht dauerhaft zu gefährden, suchte das Komitee, dem auch prominente jüdische Persönlichkeiten aus dem unmittelbaren Freundeskreis Mendelssohns wie Ignaz Moscheles und Ferdinand David sowie Salomon Jadasson angehörten, jedem Anschein offizieller jüdischer Partizipation vorzeitig zu wehren. Somit kam eine Zusammenarbeit mit der renommierten Mendelssohn-Stiftung zur Förderung begabter Pianisten und Dirigenten, welche im Jahre 1863 von der Jüdischen Gemeinde ins Leben gerufen wurde und bis 1933 bestand, nicht zustande.
Im Jahre 1889 - nach nunmehr 20 Jahren -
waren schliesslich 40000 Taler zusammengetragen, welche zur endgültigen Durchführung
noch nicht ausreichten.
Das Komitee wandte sich mit der Bilanz an die Öffentlichkeit
und beklagte dabei: "daß die eingegangenen Beiträge ungefähr
"zur Hälfte" von auswärtigen Corporationen und Privatpersonen
eingesandt" worden seien. Die fehlenden 5000 Taler wurden schlesisch von
der Stadtverwaltung beigesteuert.
3 Jahre später, am 26. Mai 1892, wurde das Denkmal, gleichsam die Erinnerung an einen ungeliebten "Judensohn" der Stadt, feierlich eröffnet. Die Honoratioren stellten sich ein und hielten der Pflicht, dem Dank und der Tugend emphatische Laudates, welche hinsichtlich einer wahrhaft fatalen Sammlungshistorie von 40000 Taler keinen besonderen Kommentar benötigen:
"Leipzig möge es - und sie wird es behüten in Bestätigung des Dankes, welchen unsere Stadt Ihm schuldet, dessen Namen wir nennen in Liebe und Verehrung" (Leipziger Tagblatt, Morgenausgabe, 27.5.1892) verkündete Otto Günther, der Vorsitzende des Komitees und damalige Direktor des Konservatoriums.
"Mit der Vollendung dieses Denkmals ist uns nun das drückende Gefühl vom Herzen genommen, dass dem Manne, der uns so grosses und Schönes gegeben hat, das verdiente äussere Zeichen unvergänglichen Dankes noch nicht gewidmet sei. Dieses Gefühl der Dankesschuld hat unsre Stadt auch als Gemeinwesen empfinden müssen (...)
Die Stadt wird
es sich deshalb auch, daran zweifle ich nicht, stets zur Ehrensache machen, dieses
Denkmal würdig zu erhalten, und ich nehme daher die mir ausgesprochene Übergabe
im Namen der Stadt und im ausdrücklichen Auftrag des Rates mit herzlichen
Dank hiermit an..." (Otto Georgi; Reden und Ansprachen des Oberbürgermeisters...;
Lpz. 1899) beschwor Oberbürgermeister Georgi das beiderseitige Vermächtnis.
Im Inneren des Gewandhauses, welches bereits seit nahezu zehn Jahren errichtet stand, ehrte man Mendelssohn musikalisch. Auf der Violine, mit einer Interpretation des erhabenen Konzertes Op. 64 legte der einstige Weggefährte Joseph Joachim ein wohl wahrhaftigeres Plädoyer für den Mann des Tages ab.
Danach schwand das Denkmal aus dem Blickfeld allgemeiner öffentlicher Wahrnehmung. Zwei kriminelle Gewaltakte, welches zum einen in den 20ziger Jahren und zum anderen im Jahre 1936 des vergangenen Jahrhunderts auf den Bestand desselben abzielten, brachte es einzig nachhaltiger in Erinnerung.
15.
Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier...
Um 1879 herum prägte sich in den chauvinistischen Gesellschaften der bourgeoisen Berliner Intelligenz die Moderne völkisch-rassistischen Antisemitismus endgültig heraus, welche sich im 20. Jahrhundert schliesslich vermittels "Reichskristallnacht", Deportation und Genozid nachhaltig manifestieren sollte. Auch der neuzeitliche Begriff des "Antisemitismus" definierte sich erst in der um den Berliner Geistlichen Wilhelm Marr entstandenen Gesellschaft und fand somit 1879 Eingang in die Allgemeinsprache.
Ab ca. 1880 fanden anthropologisch-rassistische Theorien des Schriftstellers und Diplomaten Joseph Arthur Graf Gobineau über den Bayreuther Kreis um Richard Wagner und nach dessen Tode um Cosima Wagner, den Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain sowie Wagner Biograph Carl Friedrich Glasenapp verstärkt Aufmerksamkeit in Deutschland. Gobineau hatte bereits in den Jahren 1853 - 55 den 4-bändigen Essay "sur l`inegàlité des races humaines" herausgegeben, welcher die elitäre Bevorrechtigung der "Arier"-Rasse und sozialdarwinistische Moralvorstellungen konstatierte sowie die Vernichtung des "Weissrassigen" durch Blutvermengung vermittels Geschlechtsverkehr mit "Fremdrassigen" prophezeite. Der Essay war in Deutschland bereits ab dem Jahre 1856 in einer Bearbeitung durch den Philologen August Friedrich Potts unter dem Titel "Die Ungleichheit menschlicher Rassen; hauptsächl. vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter bes. Berücks. von d. Grafen von Gobineau gleichnamigem Werke"; Lemgo 1856 ff. verfügbar.
Der Rassefanatiker Houston Stewart Chamberlain paraphrasierte Gobineaus Theorien in zahlreichen Schriften. So bestritt er im Hauptwerk seiner Rassenveranschaulichungen "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" vehement: "die Wahrscheinlichkeit das Jesus (k)ein Jude war" und behauptete ferner "das er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in den Adern hatte"; es käme vielmehr der Gewissheit gleich "das Jesus Christus... der jüdischen Rasse nicht angehörte, kann als sicher betrachtet werden. Jede weitere Behauptung bedeutet eine willkürliche Annahme,"
Weitere Publikationen Chamberlains sind:
Rasse und Nation / von H. St. Chamberlain München : Lehmanns, 1918
Rasse und Persönlichkeit : Aufsätze / von Houston Stewart Chamberlain Aufsätze München : Bruckmann. - 200 S
Arische Weltanschauung / Houston Stewart Chamberlain. - 4. Aufl. München : Bruckmann, 1917. - 94 S.,
Dillettantismus - Rasse - Monotheismus - Rom : Vorwort zur 4. Auflage der Grundlagen des 19. Jahrhunderts / Houston Stewart Chamberlain, München : Bruckmann 1899
Im Jahre 1880 initiierten der Gymnasiallehrer Bernhard Förster und der Premierleutnant Liebermann von Sonnenberg als Repräsentanten der deutsch-sozialen Partei die Verbreitung einer antisemitischen Petition an Reichskanzler Otto von Bismarck. Diese beklagte die Schädlichkeit der jüdischen Rasse für die Wohlfahrt und Kultur des deutschen Volkes und forderte die Eliminierung der Juden aus Staats- und Schuldienst, Zensus der jüdischen Bevölkerung und Einwanderungsbeschränkung. Sie wurde in Berlin von 250000 Bürgern unterzeichnet.
Im Jahre 1889 fand die neugotische Umgestaltung der Thomaskirche in Leipzig ihren Abschluss. Im Zuge dessen waren farbige, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte wie Martin Luther, Johann Sebastian Bach und Gustav Adolph von Schweden zugeeignete Memorialfenster ausgeführt worden. Auch der Bachrestaurator und Gewandhauskapellmeister Mendelssohn sollte ursprünglich gewürdigt werden. Doch bald erhob ein sog. Deutscher Reformverein seine Stimme so vehement gegen das Vorhaben, "einen Juden in einer protestantischen Kirche ehren zu wollen", das die Realisierung des Mendelssohn-Fensters unterblieb. Erst das Jahr 1997 liess das Vorhaben, dank einer Schenkung der ehemaligen Thomasschüler Wolfgang und Klaus Jentzsch, Wirklichkeit werden.
In den 90ziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden auch vom Auslande her erhebliche Ressentiments von prominenter Seite in die Mendelssohn-Rezeption eingebracht. George Bernhard Shaw war nicht nur ein bedeutender Dramatiker des europäischen Theaters; er hatte sich mit der Zeit auch zu einem rückhaltlosen Bewunderer des Wagnerschen Musik-Dramas und Verfechter Wagnerscher Kathederlehren entwickelt und erwies sich antisemitischen Tendenzen gegenüber keineswegs verschlossen. Dem grossen Vorbilde publizistisch entsprechend, betätigte sich auch Shaw als Autor musikkritischer Rezensionen, welche unter dem Pseudonym "Corno di Bassetto" herausgegeben wurden. Der bezüglich Mendelssohn-Rezeption gepflogene Ton war ein herablassender, von jener Art beissender Häme, wie sie jedwedem Dilletantismuss viktorianischer Snobs in den Bühnenwerkens Shaws stets gewidmet ist. Auch hier liegen die Gründe offensiver publizistischer Negierung im aussermusikalischen, im Bereich gesellschaftskritischer Hinterfragung repräsentativen Viktorianismus, auf welchen Shaw das Wirken Mendelssohns nachhaltig zu reduzieren trachtete.
Gleichsam in den 90ziger Jahren
des vorvorigen Jahrhunderts zeichnet der impressionistische Lyriker Detlev von
Liliencron, vor ähnlichem Hintergrunde wie Shaw, im Gedicht Reinigung die
Karikatur eines Lieferanten sentimentaler Piecen kleinbürgerlich-bildungsbeflissener
Zerstreuung jüdischen Namens, dessen Vorbild damals wie heute leicht zu erkennen
ist:
"Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier,
der lange Leutnant
mit dem Ordensbändel;
das alte Fräulein brütet Rätseleier,
besorgt
den Tee und duftet nach Lavendel.
(...)
Weh mir, wie langsam schwingt
der Abendpendel!
Zu Ende. Gott sei dank: ich atme freier,
und bade mich
daheim in Bach und Händel".
In seiner "Illustrierten Geschichte
der Musik" aus dem Jahre 1903 dokumentiert der Musikwissenschaftler Otto
Keller folgerichtig die Geringschätzung jener Jahre anschaulich:
"In
den beiden Oratorien fehlt das Dramatische, das Leidenschaftliche, aber Mendelssohn
hatte nicht die Gabe, sich stark und unmittelbar auszusprechen. Und trotzdem liegt
in dieser Musik etwas Sonniges, das uns so angenehm berührt, wie ein schöner
Sommertag, weil sie in ihrer Einfachheit befriedigt und gar keine Leidenschaften
auslöst. Seine Kammermusik ist gänzlich verschwunden, seine Klavierwerke
gehen auch nicht tief, seine Lieder ohne Worte haben eine Ära seichter Salonmusik
heraufbeschworen, die besser ungeschrieben geblieben wäre. Sein ganzer Lebenslauf
war sonnig vom Urbeginne, er hatte nie Sorgen kennengelernt wie Mozart, man darf
sich daher auch nicht wundern, daß die Sonnigkeit seines Lebens auch in
den Werken zum Ausdruck kam".
16.
Keine Kosten und Mühen wurden gescheut...
Im darauffolgenden Jahr legte die Muthsche Verlagshandlung in Stuttgart eine Geschichte der Musik vor, die der Musikpublizist Dr. Karl Storck in populärwissenschaftlichem, spürbar subjektivem Tonfall verfasst hatte. In der repräsentativen Ausstattung vermittels Jugendstilprägung des Einbandes und graphisch-allegorischer Textillustration sowie hinsichtlich eines Textumfanges von über 800 Seiten ist er der Illustrierten Geschichte der Musik Otto Kellers vergleichbar. Dr. Storck trat des weiteren auch noch als Verfasser von Opernführern hervor, welche bis in die 40ziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nachgedruckt wurden.
Storck´s Referat über Leben und Musik Felix Mendelssohns setzt in der Rezeptionsgeschichte inhaltlich keine neuen qualitativen Masstäbe in negativer Hinsicht; es wird lediglich der Katalog einschlägiger Stereotypen erneut repetiert.
Formell
sprengt der entschieden polemische Tonfall Storcks allerdings den bis dahin von
einer um Seriosität bemühten Musikpublizistik vorgegebenen Rahmen. In
Zeiten nationaler Erhebung 10 Jahre vor dem Grossen Kriege verfällt Storck
in eine Sprechweise, deren Zielrichtung dezidierter Polarisierung sich erst in
den Jahren ab 1933 vollendet herausbilden sollte. Des Weiteren stechen der Hang
zu unausgesetzt aufgestellter spekulativer Behauptung sowie gleichermassen die
Formulierung in der negativen Superlative hervor.
Erwägungen wie jener Abgleich der Elemente Felix Nomen est Omen, früher Tod und die Prophezeiung eines unzweifelhaften, gegebenenfalls noch in den Reife- und Altersjahren Mendelssohns erfolgenden Niedergangs seines Renommees führen Storcks Darlegungen schliesslich in die Bereiche des Zynismus. All dies versetzt nicht allein Storcks publizistisches Wirken insgesamt in ein fragwürdiges Licht. Die unrezensierte Reflektion desselben in einem opulent aufbereiteten bildungsbürgerlichen Musik-Familienhausbuch vermittelt eindringlich den Geist, welcher die Jahre vor dem 1. Weltkriege zu prägen schien. Ob Dr. Storck dabei von subjektivem Widerwillen gegen Person und Tonsprache Mendelssohns oder antisemitischer Ereiferung angeleitet wurde, muss dabei offenbleiben.
Hier nun Storck´s Mendelssohn-Vortrag in Auszügen:
Zu Werdegang und Rezeption:
"Zum Kreis der Romantiker
wird auch Felix Mendelssohn-Bartholdy gerechnet. Ich möchte da von einer
Romantik aus Bildung sprechen. (...) Unsere deutsche Kunstgeschichte wird überhaupt
unter ihren bekannten Künstlern kaum noch einen Mann nennen können,
dessen Entwicklung so glatt verlief, so gar nichts von Kampf, von problematischem
zeigt, wie die seine. Das könnte ein Ideal sein, (...) wenn es nicht leider
Oberflächlichkeit bedeutete. Es werden immer wieder bei den ja recht selten
gewordenen Aufführungen Mendelssohnscher Werke Stimmen laut, die eine Neubelebung
seiner Kunst erhoffen. Im Ernst kann man daran kaum glauben, so leicht begreiflich
es auch ist, daß man (...) seine einfachen und auf das vornehme Gesellschaftsleben
abgestimmten Werke als Erholung empfinden kann. (...)
Zum Elternhause:
Felix
Mendelssohn ist ein Enkel des jüdischen Reformators und Philosophen Moses
Mendelssohn (...). Es war schon dem Philosophen gelungen, aus der Armut zum Reichtum
zu gelangen, und unseres Felix Vater hatte den so vermehrt, daß er 1809
in Berlin das noch heute blühende Bankgeschäft gründen konnte.
(...) Keine Mühe, keine Kosten wurden gescheut, jegliche Gabe, die sich bei
dem Kinde zeigte, aufs sorgsamste auszubilden(...)
Zum "Felixissimus":
Am
4. November 1847 erlag er einem Nervenschlag. Von künstlerischem Standpunkt
aus könnte man wohl sagen, daß auch in diesem frühen Tode sein
Vornahme "Felix" die glückliche Bedeutung für sein Leben behielt.
Denn es wäre Mendelssohn kaum erspart geblieben, daß er seinen Ruhm
wohl bald überlebt gehabt hätte. (...)
Zu Werk und Musik:
Mendelssohns
grösstes Verdienst liegt zweifellos in seiner Hebung des öffentlichen
Konzertlebens; durch ihn sind die Werke der Klassiker in den Mittelpunkt desselben
gerückt worden. (...) Doch zeigt sich auch in dieser Tätigkeit die Schwäche
Mendelssohns, die freilich akademischen Naturen gar als Vorzug erscheinen mag.
Mendelssohn ist immer und überall der wohlerzogene Sohn des wohlhabenden,
auf den äusseren "Dekor" in jeglicher Lebenslage bedachten Hauses.
Wäre nicht die gründliche Bildung, man würde den Mangel
jeder überschäumenden Kraft, jedes persönlichen Hervortretens noch
viel störender empfinden. Denn darüber muss man sich klar sein: Mendelssohns
Ruhe und Abgeklärtheit ist nicht die Ruhe nach dem Sturm, sondern die eines
Mannes, dem das äussere Leben jeden Kampf ersparte, der auch innerlich niemals
zum Ringen kam. (...) Sein Gefühl für das Volkstum blieb doch recht
äusserlich, was schon die Tatsache zeit, daß Schumann in der schottischen
Symphonie die italienische vermuten konnte. Das Schaffen Mendelssohns ist doch
im wesentlichen formal. Der Inhalt (...) ist nirgends stark, aber es entsteht
bei diesem gebildeten Mann doch auch nie eine wirkliche Leere. Wie äusserlich
sein Verhältnis zur Form aber doch oft war, zeigt die Übernahme des
Erzählers und des Gemeindechorals aus der alten Passion ins Oratorium (...)
wogegen in der Musik zur "Antigone" und dem "Ödipus"
das schwächliche Philologentum, wie man es geradezu nennen könnte, gegenüber
dem gewaltigen Empfindungsgehalt der Antike arg zurückbleibt.
Die um den 3. Februar des Jahres 1909 herum pflichtgemäß abgeleisteten Gedächtnisfeierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erregten angesichts dessen wiederum Befremden in der europäischen Öffentlichkeit. Ernest Walker kommentiert im "Manchester Guardian" vom 3. Februar 1909:
"Mendelssohn, einer der ehrlichsten Menschen, hätte es tausendmal vorgezogen, daß sein Ruhm ungerechterweise untergegangen wäre, als daß er durch heuchlerische und unwahre Mittel gerettet würde."
17.
Eine Lanze für Felix Mendelssohn
Die späten 90ziger
Jahre, die Jahrhundertwende, aber auch die Jahre bis in die Weimarer Republik
hinein, brachten nichtsdestotrotz vermehrt Plädoyers namhafter Persönlichkeiten
kulturellen Lebens zugunsten Mendelssohns mit sich. So engagierten sich die Komponisten
Max Reger. Camille Saint-Saens, Ferruccio Busoni, und Alfredo Casella, die Dichter
Theodor Fontane und Romain Rolland, die Musiker Johannes Brahms und Hans von Bülow
sowie der Musikwissenschaftler und Intendant des Wiesbadener Staatstheaters Paul
Bekker, und der Musikhistoriker Heinrich Schenker für die ästhetische
Neubewertung eines "feinsinnige(n), gemütswarme(n), grosse(n) Meister(s)",
der "fast vergessen, jedenfalls total unterschätzt wurde und wird"
(Reger).
Max Reger empfahl des weiteren "all den verwirrten (...) jungen Übermenschen, bei denen Musik überhaupt erst beim achten Horn, beim vierfachen Holz, bei vierundsechzig Schlaginstrumenten (...) beginnt" eingehendere Beschäftigung mit "der Vollendung des klaviertechnischen Materials" und "der absolute(n) Beherrschung des musikalisch-formellen Elements" (Wirth Max Reger Reinbek 1973) Mendelssohn´scher Kompositionen.
Der
Musikpublizist Adolf Weißmann befreite die musikalische Entwicklung Richard
Strauss und Max Regers aus dem übermächtigen Einflussbereich Wagners,
in welchem öffentliche Wahrnehmung sie bislang ansiedelte und führte
den musikalischen Ursprung derselben wieder stärker den eigentlichen Vorbildern
Felix Mendelssohn und Johannes Brahms zu.
Paul Bekker wiederum erkannte
Felix Mendelssohn den Rang eines selbständigen Nachfahren Beethovens zu.
Busoni ehrte Felix Mendelssohn nicht nur als "einzigen wahren Schüler
Mozarts neben Rossini und Cherubini". Mit dem formal-komplex polyphonen Tondrama
Dr. Faust hatte Busoni ein epochales Werk früher Moderne unvollendet hinterlassen
und sich parallel dazu, gegen Ende seines Lebens, die "seichte Salonmusik"
der "Lieder ohne Worte" zu erneutem, intensivem Studium vorgelegt.
Die Jahre des 1. Weltkrieges; die Ernüchterung unabsehbar fortdauernden Kriegsschreckens, brachten hingegen vermehrte Abkehr von allzu heroisch-simplifizierenden kulturellen Nationalismen in der Musik und auf der Bühne. Nicht von ungefähr reduzierte sich somit auch die Aufführungszahl des bislang stilistisch dominierenden Wagner-Werkes erstmals auf einen Gleichstand innerhalb gewohnten Mischrepertoires.
18.
Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur
Der Komponist
und Musikpublizist Max Chop, seinerzeit als Liszt-Authorität gewürdigt,
wurde Musikfreunden unserer Zeit hauptsächlich durch historische Veröffentlichungen
innerhalb der traditioinsreichen Universal-Bibliothek des Hauses Reclam geläufig.
In den Jahren 1900 bis ca. 1920 legte er zahlreiche fundiert recherchierte Einzelstudien
von Standardwerken des Opernrepertoires und Komponistenbiographien vor. Ob ihm
im Zuge dessen auch die Erarbeitung eines Felix Mendelssohn-Portraits übertragen
wurde, wäre noch herauszufinden, aber keineswegs zu hoffen.
Ein
von Max Chop im Jahre 1916 erstveröffentlichter Führer durch die Musikgeschichte
zumindest entwickelt bereits in der komprimierten Behandlung des Sujets einschlägig-perfide
Dialektik von neuer unvermuteter Qualität.
Der Wagnerianer Chop sucht
die Person, den Menschen Felix Mendelssohn nachhaltig zu minimieren, um - quasi
vermittels eines Phänomens umgekehrter Relativierung - das Idol des Musikdramatikers
daran ins unermessliche zu erheben.
Nach dem klug disponierten Verweis
auf Parteienstreit und musikalisch indifferente Diffamie greift Chop selbst sogleich
zu der zuvor angeprangerten Methodik.
Originäre Qualität entwickelt
dabei eine Praxis inkriminierender Verfälschung biographischer Fakten, Verkürzung
und Umkehrung von Zusammenhängen, ja fiktiver Behauptungen: musik-"wissenschaftlicher"
Methoden also, welcher sich einzig der Nationalsozialismus noch vergleichbar bedienen
sollte.
Daher seien den demagogischen Wendungen auch Verweise auf die biographische,
musikhistorische Sachlage entgegengestellt.
Das von Chop nachfolgend imaginierte
Zerrbild eines kleinlichen, eifersüchtigen, eitlen Musikfunktionärs,
das beim zeitgenössischen Leser massiv hervorgerufene Ressentiment gegenüber
der Person des Komponisten, negiert die im Anschluss dargelegte verhaltene, um
Differenzierung bemühte, stellenweise bewundernde Sichtweise auf dessen Musik
denn auch erheblich.
"Die künstlerische Persönlichkeit (...)
Felix Mendelssohns sachlich zu erörtern, ist (...) eine nicht eben leichte
Aufgabe, weil der Streit der Parteien und Meinungen schärfer denn je um die
Werke und deren ästhetische Werte entbrannt ist". (...) Ohne Frage hat
(...) die tendenziöse Mache und Propaganda gewisser Kreise der ruhigen Abwägung
viel geschadet (...), indem (das ästhetische Sentiment) Mendelssohn gegen
die neudeutsche Kunst ausspielte und seine Stellung Wagner gegenüber ihm
(...) zum Vorwurf (machte). Gewiss: Mendelssohn liebte Wagner durchaus nicht,
vielleicht, weil er von der ersten Bekanntschaft (...) an, das ihn selbst in seiner
Machtstellung gefährdende, kunstrevolutionär gesonnene Genie erkannte.
Er dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouverture im Gewandhause als
"warnendes Beispiel" (...) und tröstete den Komponisten des "Fliegenden
Holländers" bei der Dresdner Erstaufführung des Werkes durch den
etwas schadenfrohen Zuspruch: Er könne ganz zufrieden sein mit der Aufnahme,
denn sie sei ja, alles in allem, kein vollständiges Fiasko gewesen".
(Mendelssohn wohnte der Berliner Premiere des "Holländers"
im Januar 1844 bei und "kam nach der Vorstellung auf die Bühne, umarmte
mich und gratulierte mir sehr herzlich." Richard an Minna Wagner; 8.1.1844)
"Indessen lagen solche Äusserungen in einer menschlichen Schwäche begründet, die von jeher bei Musikern und Tondichtern fruchtbaren Boden gefunden hat. (...) Mendelssohn (...) konnte es nicht verwinden, einen Künstler neben sich zu sehen, der die öffentliche Aufmerksamkeit von ihm auf sich selbst ablenkte. Selbst für Robert Schumann hatte er kaum ein freundliches Wort übrig,
(Uraufführung der 1. "Frühlings"-Symphonie und der 2. "C-Dur"-Symphony durch Felix Mendelssohn im Gewandhaus)
Chopin bespöttelte er als "Chopinetto" , Liszt war ihm gänzlich unsympathisch und Berlioz nannte er "eine vollständige Karikatur ohne einen Funken von Talent".
(Den Zeitgenossen Schumann, Wagner und Brahms vergleichbar sind ästhetische Vorbehalte Mendelssohns gegen andere musikalische Auffassungen selbstverständlich schriftlich belegt; Chopin, Liszt und Berlioz waren in den Jahren 1840 und 1843 als Interpreten eigenen Repertoires Gäste des Gewandhauses. Integrität, menschliches, musikalisches sowie - im Falle des Gewandhausskandales um Franz Liszt nahezu extraordinär erwiesenes - organisatorisches Engagement des Gastgebers Felix Mendelssohn sind jeweils in fundierteren Biographien und Autobiographien der Genannten nachgewiesen.)
(...) Zwischen beiden (Wagner und Mendelssohn) bestand der (...) Unterschied, daß der eine das (...) künstlerische Vermächtnis eines Bach, Händel, Beethoven (...) sich zu eigen gemacht hatte, ohne (...) Konsequenzen in einem dem Zeitgeiste angepassten Sinne zu ziehen, während beim anderen sich aus dem völligen Aufgehen in den genannten Meistern heilige Feuer entzündeten, deren leuchtender Schein schon damals seine Reflexe weit voraus warf.
(Wagners Bekenntnis zum Werk Beethovens ist verbürgt; eine Affinität zum "akademisch" und "historisch" apostrophierten Werk Bachs und Händels bestand nicht.)
"Wohl die grössten Antipoden...- selbst in der äusseren Gestaltung des Lebens, das dem einen lachenden Sonnenschein und Anerkennung, dem anderen Kampf, Not und Verkennung schickte! Mendelssohn eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur, - Wagner ein herber, kraftvoller, zäher, dem Explosiven zuneigender Charakter! (Max Chop; Führer durch die Musikgeschichte, Berlin 1916, ebda. 1922)
Intermezzo
III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause...
Die
"Tannhäuser"-Ouvertüre wurde am 12.2.1846 im Rahmen eines
Sonderkonzertes zugunsten des Pensionsfonds des Gewandhausorchesters als Werk
zeitgenössisch-avantgardistischer Tonkunst angesetzt und vom Publikum ausgezischt.
Es dirigierte Eric Werner zufolge Ferdinand Hiller.
Mendelssohn wirkte nachweislich
als Pianist (Beethovens 32 Klaviervariationen in C-Moll, Op. 36) an diesem Konzerte
mit. Bedauerlicherweise verzichtete Werner auf einen Verweis, woher er die Information
eines Hillerschen Dirigates bezog und verwechselt darüberhinaus Hiller möglicherweise
mit einem der anderen als Stellvertreter Mendelssohns tätigen Kapellmeister
wie Gade.
Hiller dirigierte die Gewandhauskonzerte stellvertretend während
des ersten Berliner Engagements Mendelssohns, also von April des Jahres 1841 bis
Oktober des Jahres 1842; nahm aber, nach vermeintlichem Zerwürfnis mit Mendelssohn,
im Jahre 1844 eine Verpflichtung als Kapellmeister in Dresden an. Möglicherweise
dirigierte Hiller bis zum Tode Mendelssohns oder gar darüberhinaus also niemals
mehr am Gewandhause. In der Saison 1845/ 46 indessen teilte sich Niels W. Gade
nachweislich mit Mendelssohn in die Leitung des Leipziger Konzertwesens.
Da
gemeinhin Felix Mendelssohn als Dirigent der verunglückten Leipziger Vorstellung
genannt und darüberhinaus auch das Datum diffus gehandhabt wird (so nennt
Karl-Heinz Köhler fälschlicherweise März 1845), liegt möglicherweise
der Lapsus einer genuin aus der Wagner-Literatur hervor- und in die biographische
Mendelssohn-Rezeption übergegangenen, allgemeinhin tradierten Gleichsetzung
von Ort und Person vor.
Wagner selbst hatte von dem Konzert lediglich
nachträglich aus zweiter Hand erfahren. In seiner nahezu 20 Jahre später
verfassten Autobiographie "Mein Leben" gibt er Mendelssohns Dirigat
hingegen als Fakt wieder. Da Wagner in "Mein Leben" zahlreichen Autographen
der Jahre 1842-47 von seiner Hand (vor allem den an Felix Mendelssohn gerichteten
Briefen) offenkundig widerspricht, scheidet dieselbe als seriöse Informationsquelle
zu Leben und Werk Mendelssohns grösstenteils aus.
Der spätere Dirigent Hans von Bülow hingegen wohnte als Augenzeuge jenem Konzerte bei und berichtete 5 Jahre später darüber in dem Essay "Das musikalische Leipzig und sein Verhältnis zu Richard Wagner" aus dem Jahre 1851:
"Um sich nicht dem Vorwurfe eines grundlosen Verdammungsurtheils, d. h. grundsätzlichen Ignorierens der Wagnerschen Musik auszusetzen, beschloss man daher, die Ouvertüre zum Tannhäuser, als ein grösseres, abgeschlossenes Tonstück, das in Dresden Furore gemacht, in einem Concerte zu Gehör zu bringen.
Die Aufführung dieses sehr schwierigen, aber bei gehörigem Fleisse und Sorgfalt im Einstudieren auch höchst dankbaren und unvergleichlich wirksamen Musikstückes, war über alle Maßen unerquicklich, eine Execution , im besonderen Wortsinne. Es hätte einer solchen (...) Verhunzung - nicht einmal bedurft, um die Composition fallen zu lassen: die missmuthige Miene des Dirigenten autorisierte gewissermaßen schon das Publikum zur Missfallensbezeugung. Mendelssohn hat durch jene herzlichen Worte, welche er nach einer Aufführung des Tannhäuser in Dresden mit sichtlicher Ergriffenheit an Wagner richtete, sich vollkommen von diesem trüben Flecken gereinigt; von Leipzig würden wir es aber recht taktvoll gehandelt wissen, wenn es Wagner eine réparátion d´honneur (...) nicht länger schuldig bliebe".
Nicht allein jenes im Nachsatz vorgebrachtes Resümee lässt wenig auf eine Interpretationsverantwortung des Gewandhausdirektors für jenen Konzertteil schliessen; vielmehr widersprechen die Verweise auf offenkundig ermangelnden "gehörige(n) Fleisse und Sorgfalt im Einstudieren" respektive "unerquickliche" Ausführung eigentlich allen überlieferten musikalischen Prinzipien des Dirigenten Mendelssohn hinsichtlich Sorgfalt in der Orchesterarbeit und unbedingter Aufführungsqualität.
Darüberhinaus stellen auch die Originalrezensionen des Pensionsfondkonzertes in den führenden Leipziger Fachpublikationen und die im Jubiläumsalmanach des Gewandhauses vom 1898 enthaltene Konzertchronik ein Dirigat Mendelssohns im Nachhinein erheblich in Zweifel.
Die Rezensionen in der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" aus Leipzig sowie in der NZfM schweigen sich über den Abenddirigenten vollkommen aus.
Das liesse, Mendelssohn am Pult vorausgesetzt, in beiden Fällen
erheblich verwundern. In der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" zeichnete
der Lokal-Rezensent L. R. in den letzten Arbeitsjahren Mendelssohns für die
Berichterstattung der Gewandhauskonzerte alleinverantwortlich. Er liess es sich
zur Gepflogenheit werden, das Dirigat Mendelssohns jeweils nicht allein dezidiert
zu kommentieren, sondern dessen Namen in der Rezension gar kursiv hervorzuheben.
Das Unterschlagen einer musikalischen Leitung durch Mendelssohn fiele bei diesem
Rezensenten also vollständig aus dem Rahmen.
Einzig die Besprechung
des berüchtigten Novemberkonzertes gleichen Jahres, mit einer missglückten
Uraufführung der C-Dur-Symphony Schumanns und darauffolgenden, auf die Person
Mendelssohns abzielenden "mosaischen" Unterstellungen der Presse, schweigt
sich über den Abenddirigenten aus.
Allerdings erfolgte zwischen
den beiden Ereignissen ein Redaktionswechsel in der "Allgemeinen musikalischen
Zeitung", der Rezensent der Gewandhauskonzerte wurde fürderhin nicht
mehr genannt und hatte möglicherweise gleichsam gewechselt.
Interessanter in diesem Zusammenhang ist eher noch die Besprechung der gleichen Veranstaltung durch die NZFM, welche Franz Brendel höchstselbst vornahm. Auch dieser lässt den Dirigenten unerwähnt. Nach allem, was bislang über die publizistische Position Brendels im Leipziger Musikleben erörtert wurde, lässt sich kaum annehmen, daß in einem renommierten "neudeutschen" Fachorgan die vermeintlich exemplarische "Verhunzung" eines wesentlichen Meilensteines der "Neudeutschen Schule" durch den führenden Kopf der Leipziger "Traditionalisten" taktvoll unter den Tisch fallen gelassen wurde.
Während die genannte Orchesterchronik die detaillierten Konzertberichte oftmalig mit der Verlautbarung: Mendelssohn dirigierte, Hiller dirigierte abschloss, wird auch dort kein musikalischer Leiter besagten Pensionsfondkonzertes genannt. Dies legt die Vermutung nahe, daß sich, da Mendelssohn und Gade (Viola-Partie im Quartett-Konzert für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Orchester von Ludwig Spohr) sich ja auch als Instrumentalsolisten in das Konzert einbanden, beide möglicherweise als A- oder B-Dirigenten des Gewandhauses in die Veranstaltung teilten.
Publikumsverstörung und Skandal rief die Aufführung der Ouvertüre in jenen Jahren auch in anderen Musikstädten Europas hervor.
Als Generalmusikdirektor Franz
Lachner das Werk am 1. November des Jahres 1852 im Rahmen eines Odeon-Konzertes
erstmalig in München vorstellte, wurde es vom Auditorium einhellig ausgezischt.
Hans von Bülow erhob die Stadt München in einer umfassenden Kolumne
polemischer Essays in der NZfM daraufhin eilfertig in den hohen Rang einer Ordensburg
musikalischer Reaktion und eines Zentrums der "Opposition in Süddeutschland"
(NZfM, Nr. 22 - 26, 25.11. - 23.12.1853). Auditoriumseklats infolge konzertanter
und szenischer Darbietungen Wagnerschen Werkes auch in einem vom jungen Hans von
Bülow selbst geleiteten Konzert ("Tannhäuser"-Ouvertüre),
des gleichen in Wien (dito) und Luzern ("Der Fliegende Holländer").
Eine im Jahre 1850 geplante Aufführung der "Tannhäuser"-Ouvertüre
in der Union Musicale in Paris scheiterte bereits im Vorfeld am Desinteresse des
Orchesters.
19.
Nur in einem Abstand zu nennen
Als originärster Beitrag der Zwanziger und frühen Dreissiger Jahre zu stereotyper Mendelssohn Negation in Schlagworten kann jenes des "Abstands" gelten, die zahlreich publizierte Behauptung: nur in einigem Abstand zu anerkannten Meistern der europäischen Musikgeschichte könne Mendelssohn ja rezipiert werden.
So hebt Prof. Dr. Ludwig Schiedermeyer in der Monographie "Die Deutsche Oper" (Quelle & Mayer, Leipzig 1930) gleich zu Beginn einer vergleichenden Darstellung Schuberts und Mendelssohns als Problemkindern deutschsprachigen Musiktheaters divergierende Rezeptionsebenen als quasi selbstverständlich hervor:
"In einer gewissen Ähnlichkeit mit Schubert hatten auch Felix Mendelssohn-Bartholdy, der nur in einem Abstand von diesem genannt werden darf, immer wieder Opernpläne beschäftigt. (...) Das Missgeschick, das "Die Hochzeit des Camacho" trotz aller Anerkennung der Mendelssohnschen Verwandtschaft bei der Erstaufführung im Berliner Schauspielhause (1827) ereilte, enttäuschte den sensiblen, überempfindlichen Jungen so schwer, daß er fortan nicht mehr ohne Voreingenommenheit (...) der Oper gegenübertrat".
Auch im weiteren Verlaufe der Schiedermayerschen Nationaloperngeschichte wird Mendelssohn als Massstab der Mittelmässigkeit angeführt, wenn es beispielsweise gilt, Schwächen in der Tonsprache des jungen Richard Strauss zu indizieren."
"Mit der musikalischen Umwandlung, der "Läuterung" der Salome, gelangt nun der Täufer in den Vordergrund des Dramas, (...). Allein das Jochanaan-Drama setzt sich nicht durch, da ihm musikalisch wohl gefühlsselige, pastorale Melodien der Mendelssohnschen Sphäre zugeleitet werden, aber jene Charakterisierung (...) eine(s) Felsen (in) der Umgebung allgemeiner Verderbnis (vorenthalten bleibt)".
Die Suggestion der Zwangsläufigkeit, Naturbedingtheit einer niederen Positionierung Felix Mendelssohns, welche die Wortmacht Schiedermayers unwillkürlich hervorruft, ist keineswegs als Marginalie oder Zufallsprodukt aufzufassen. Es bezeugt vielmehr die komplexe Doppeldeutigkeit chauvinistischer Rhetorik in jener Zeit vor dem Nationalsozialismus., auf welchen dieselbe bereits hinwies. Wenige Jahre später mochte Dr. Ludwig Schiedermayer, Prof. der MW an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm.-Universität. Bonn Überzeugungen wie jene , eine Jude sei aus rassischen, also biologischen Gründen "natürlich" weit unterhalb des Ariers anzusiedeln, unumwundener zum Ausdruck gebracht haben. Beauftragt, gemeinsam mit den Kapazitäten Friedrich Blume, Gotthold Frotscher und Karl Hasse die Ausstellung "Entartete Musik" im Mai des Jahres 1938 wissenschaftlich zu betreuen, hatte er ja exakt zu diesem und anderen Aspekten einschlägig Stellung zu nehmen.
20.
Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten!
In
den 20ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte der Musikpublizist
Walter Dahms bemerkenswerte Monographien über die Komponisten Franz Schubert,
Robert Schumann und Felix Mendelssohn. Diese erschienen in einer vom Verlag Schuster
& Loeffler in Berlin konzipierten "Sammlung" von "Meister-Biographien"
hochrangiger Komponisten. Co-Autoren der Reihe war u. a. der namhafte zeitgenössische
Musikschriftsteller Julius Kapp. Die Popularität der Sammlung bezeugt allein
schon der Fakt reichhaltiger Verfügbarkeit der Bände im aktuellen Antiquariat.
Die Veröffentlichungen Walter Dahms zeichnen sich durch einen verblüffenden
Ansatz kompetenter, umfassender Darstellung des jeweiligen Sujets auf der Grundlage
präziser Recherche aus. Zeittypisch andererseits sind Einseitigkeit, mangelnde
Objektivität in der Sichtweise kontroverser, problematischer künstlerischer
Standortbestimmungen des dargestellten Komponisten. Die stilistische Einordnung
des Schumannschen und Mendelssohnschen Werkes erfolgen somit vornehmlich aus der
nationalkonservativen Perspektive heraus.
Gleich zu Beginn der Mendelssohn-Monographie, im "Präludium" sah sich der Autor daher der obligaten Notwendigkeit einer "rassischen Einordnung" Mendelsohn´schen Oeuvres ausgesetzt. Karl-Heinz Köhler nannte es im Jahre 1972 zutreffend: "den merkwürdigen...Versuch..., auf antisemitisch-rassenbiologischer Grundlage von Mendelssohns Werk zu retten, was zu retten ist" und verweist auf den nachhaltig hervorgerufenen Eindruck "daß hier ein positives Plätzchen für Mendelssohn gesucht wird." Hauptinstrument des Konstruktes deutschnationaler Vereinnahmung der Komponisten Mendelssohn (und Schumann) ist die gesuchte Absetzung dessen Werkes von jenem Giacomo Meyerbeers; die Konstatierung, Mendelssohns Musik sei in letztendlicher Betrachtung als "deutsch und rein", das Werk Meyerbeers hingegen als unverkennbar "jüdisch" einzuordnen.
Dahms begibt sich somit voll Bedauerns in die Verpflichtung "nun von dem Judentum Mendelssohns sprechen" zu müssen, "nicht, wie um etwas Unangenehmes oder Peinliches, von dem doch nun einmal die Rede sein muss, möglichst rasch zu erledigen, sondern um von vornherein den richtigen Standpunkt in einer so wesentlichen Frage zu gewinnen. (...) Wir wissen längst, daß das Jüdische keine Sache der Religion, sondern der Rasse ist. Die Forscher auf beiden Seiten, der Juden und Nichtjuden (...) haben uns genugsam belehrt (...) daß die Wahrheit in der Mitte liegt. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten.
Deshalb dürfen wir auch Richard Wagners Schrift über das Judentum in der Musik nicht ohne Vorbehalt unterschreiben und unerwähnt lassen. (...) Denn Wagner wusste ebensogut wie wir, daß Mendelssohns Musik unbeschadet der Würde der deutschen Kunst und Kultur neben der seinen bestehen konnte (...). Denn Meyerbeeers musikalische Leichtfertigkeit und die Skrupellosigkeit seiner Mittel sind zu offensichtlich, um geleugnet zu werden. (...) Mendelssohn dagegen ist der einzige grosse und ernste, für alle Zeiten bleibende Meister, den die Juden der Musik geschenkt haben. Seine Musik hat deutschen Charakter. Ihn aus der Reihe der "deutschen" Meister auszuschliessen, wäre eine Verblendung, die nur aus einer gründlichen Verkennung des vielseitigen Wesens des Deutschtums zu erklären wäre."
Nach
einer durchaus zutreffenden Betrachtung und Herleitung der Mendelssohnschen Entwicklung
gänzlich aus der musikalischen Tradition sowie dem romantischem Ideal heraus,
konzentriert sich Dahms schliesslich auf die diskreditierende Analyse eines semitisch-idiomatischen
Konterparts, dem Mendelssohn keinesfalls zuzuordnen sei.
"Finden
wir etwa in seinem Schaffen die von Nietzsche gekennzeichneten Eigenschaften der
Semiten: "die furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die Freudenschauer,
die Plötzlichkeit? (...) In seiner Stellung zur Romantik lässt sich
(...) vielleicht ein Mangel an typisch deutschen Eigenschaften finden. (...) Wir
stossen noch einmal auf Nitzsche, wie er von Mendelssohn spricht, "an dem
sie die Kraft des elementaren Erschütterns (beiläufig gesagt)t: das
Talent der Juden des alten Testaments) vermissen (...) Einem Meyerbeer gegenüber
dürfen wir, Wagner Folge leistend, unserem Unwillen freien Lauf lassen. Aber
wir müssen uns hüten, Erfahrungen, die wir in der Missgeburt der "großen"
Oper mit "jüdischen" Eigenschaften gemacht haben, (...) auf einen
Meister wie Mendelssohn zu übertragen. (...)
Ein Meyerbeer und noch viel weniger spätere jüdische Komponisten (möglicherweise eine Anspielung auf Schönberg, Weill und Schreker, Anm. d. Verf.) dürfen uns den Blick für Mendelssohns Reinheit und Seelengrösse nicht trüben. Vorausgesetzt, daß wir überhaupt ein Interesse daran haben, das Jüdische in der Musik besonders zu untersuchen...wie es eben Wagner getan hat."
Bemerkenswerterweise begibt sich Dahms im Versuch semtitisch-musikalischer Analyse in eklatanten Widerspruch zur gängigen Sichtweise des "Judentums in der Musik" im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In Bezug auf Nietzsche stellt er "furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die Freudenschauer, die Plötzlichkeit" sowie "die Kraft elementaren Erschütterns", eines "Talentes des alten Testaments" als wesentlichstes Merkmal des semitischen Idioms heraus. Wie im Vergangenen ausgiebig dargelegt, hiess es doch, das die Kraft "zu ergreifen, ja zu erschüttern" sowie das "Dramatische, das Leidenschaftliche", also die Extase emotionaler Höhen und Tiefen der Musik Mendelssohns hauptsächlich deswegen abgehe, weil "der Jude", kosmopolitischer Beseeligung unzugänglich, leidenschaftslos, im Synagogalidiom befangen komponiere und die Vorbilder europäischer Musik daher glatt und kalt kopiere.
Nun argumentieren Nietzsche und Dahms, das dem "Deutschen" Felix Mendelssohn die semitische Kraft, Emotion und Schroffheit vollständig fehle, sein Werk daher von "marmorner, kalter Schönheit" (Dahms) sei. Die von Nitzsche genannten (alttestamentarischen) Idiome widerum träfen sicher - unbesehen übernommen - in grossen Teilen auf die Wagnersche "Ring des Nibelungen"-Musik zu, nicht nur in jenen Momenten potentieller semitischer Karikaturen in den Personen Mime, Alberich etc.
Somit hätte der von Wagner dezidiert als Jude hervorgehobene "Deutsche"
Felix Mendelssohn unjüdische, der Vollender der Deutschen Oper wiederum "jüdische"
Musik geschrieben?
Da Walter Dahms mit dieser Sichtweise schwerlich eine Neuerörterung des Problems vermeintlicher musikalischer Idiome in Gang setzte, gibt er lediglich Zeugnis von der Fragwürdigkeit und Willkür derartiger Zuordnungen. Oder besser davon; das sich Wagner, Nietzsche, Dahms u. a. offensichtlich den "Deutschen" oder "Juden" zurechtlegten, der ihren Zielen jeweils zuförderlichst war.
Im Jahre 1928 veröffentlichte ein Autor namens Anton Mayer in der Deutschen Buchgemeinschaft GmbH, Berlin eine Geschichte der Musik. Diese war mit ca. 340 Seiten überschaubar gehalten und zeichnet sich dadurch aus, Musik und Wirken Felix Mendelssohns mit keinem Wort zu erwähnen. Demgegenüber wird dem Schaffen Richard Wagners die Ehre einer nahezu eigenständigen, umfassenden Abhandlung über 30 Seiten hinweg eingeräumt. Also nahezu ein Zehntel des Umfanges einer Schrift, welche die Musikgeschichte von der griechischen Antike bis zur musikalischen Moderne zur Darstellung zu bringen beabsichtigte.
In seiner im US-amerikanischen Exil vorgelegten Abhandlung "Grösse in der Musik" legt der bedeutende deutsche Musikwissenschaftler und Mozartbiograph Alfred Einstein vom Status Quo der deutschen Mendelssohn-Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trefflich Zeugnis ab:
Was ist mit der Büste Mendelssohns? Es versteht sich wohl von selbst, daß wir uns bemühen müssen, ihm die richtige Stellung zuzuweisen: die Überschätzung zu vermeiden, die ihm zu Lebzeiten (...) in Deutschland und England zuteil geworden ist, die Unterschätzung, deren Urheber oder Repräsentant Wagner gewesen ist. Sie könnte heute zu einer neuen Überschätzung führen; aber sie wäre wohltätig, wenn sie zu einer neuen Schätzung oder Wertung Mendelssohns führen würde, auf der Grundlage neuer Kenntnis. Denn er ist heute einer der unbekanntesten Musiker der Vergangenheit. Man kennt von ihm gerade das Unbedeutenste am besten, die Stücke, die von mittelmässigen Musikern am meisten nachgeahmt worden sind, weil sie dem bürgerlich-romantischen Geist der Zeit am meisten entsprachen."
Angesichts einer niederschmetternden Realität nahezu vollendeter Mendelssohn-Verdrängung
und Verleugnung der zwanziger bis vierziger Jahre musste Einstein mit dieser (dem
Wirken Mendelssohn´s gegenüber keineswegs unkritischer) Meinung somit
zwangsläufig ein einsamer Rufer in der Wüste bleiben - wenn er denn
die Möglichkeit gehabt hätte, in Deutschland im Jahre 1941 vernommen
zu werden.
21.
Eine grossartige Lösung
In der Aufklärungsschrift
an die Nation "Erkenne Dich selbst", im Jahre 1881 in den Bayreuther
Blättern veröffentlicht, gemahnte Richard Wagner erneut eindringlich
des Juden als "plastischen Dämons des Verfalles der Menschheit in triumphaler
Sicherheit."
Er geisselt darin des weiteren den Pluralismus eines Systems
wiederstreitender politischer Parteien als Verderber "ächten deutschen
Instinkts" und heimlichen Deckmantel prosperierenden jüdischen Lebens
in Deutschland.
Er fordert die Deutschen daher auf, diesen Parteienstreit zu überwinden und sich, "im Erwachen zu (...) einfach-heiliger" (nationaler) "Würde", vaterländisch einmütig zusammenzuschliessen. Abschliessend konstatiert er: "nur aber, wann der Dämon, der jene Rasenden im Wahnsinne des Parteienkampfes um sich erhält, kein Wo und Wann zu seiner Bergung" unter den Deutschen "mehr aufzufinden vermag, wird es auch keinen Juden mehr geben". Den Deutschen könne somit "gerade aus der Veranlassung der gegenwärtigen, nur eben unter uns wiederum denkbaren" (antisemitischen) "Bewegung" eine "grossartige Lösung eher als jeder anderen Nation ermöglicht" sein, "sobald sie ohne Scheu, bis aufs innerste Mark unseres Bestehens das Erkenne-Dich-selbst vollzögen, vor der letzten Erkenntnis nicht zurückwichen".
Ob aus diesen bedachtsam verschlüsselt vorgelegten Äusserungen Phantasien von gewaltsamer Deportation der Juden oder Genozidhandlungen sprechen, ist Gegenstand germanistischer und musikgeschichtlicher Erörterung. Daß Wagner im Gedanken eines "Erwachen" Deutschlands im "Erkenne Dich selbst" die Ereignisse des Jahres 1933 - Zerschlagung des Parteienpluralismus sowie der parlamentarischen Demokratie und triumphales Erstarken einer chauvinistisch-nationalen deutschen Erhebung - ideologisch-literarisch vorwegdenkt, geht aus der Lektüre des Traktates eindeutig hervor.
Adepten des Bayreuther Meisters wussten dessen Gedankengängen denn auch zielgerecht zu entsprechen, der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts schliesslich schwang sich zur "letzten Erkenntnis" empor und war zu einer "grossen Lösung" vermeintlicher Judenfrage auf politischem und kulturellem Gebiet bereit.
"Anders liegen meines Erachtens die Fälle von Felix Mendelssohn und Joseph Joachim, die man kaum fremdvölkischen Musikgeschichten in dem Maße wie ihre vorgenannten Rassegenossen zurechnen kann. Mendelssohns beste Werke (...) haben im künstlerischen Weltbild deutscher Meister wie Schumann, Brahms, Bülow, Bruch und Reger ausdrücklich eine Rolle gespielt, die zu den musikgeschichtlichen Tatsachen jener Zeit gehört. (...) Wenn also auch diese beiden seit 1933 praktisch für Deutschland ausfallen, so jedenfalls mehr aus der staatspolitischen Notwendigkeit einer Gesamthaftung des Judentums für die versuchte Überfremdung deutscher Kultur, als wegen eines absoluten Unwerts jener Werke und ihres praktisch-künstlerischen Bemühens. (...) Niemand hat ihn wärmer bewundert als Schumann, Brahms, Bülow und Reger - das sollte jenen zu Denken geben, die einen M. heute wegen seiner Rasse glauben herabmindern zu müssen. "
In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes war der Umgang der Repräsentanten deutschen Musikbetriebs mit dem als klassisch verstandenen Oeuvre der nunmehr als jüdisch apostrophierten Komponisten Felix Mendelssohn, Gustav Mahler und Jaques Offenbach von Unsicherheit geprägt. Es lagen vielerorts noch keine Erfahrungswerte vor, was weiterhin gestattet sei oder nachhaltig zu unterbinden wäre. So war schwerlich einzuschätzen, wie weit die Forderungen der Machthaber in den Kontext traditionellen E-Musik-Repertoires einzugreifen beabsichtigten. Ob man sich mit der Negation der Avantgarde und "Musikzersetzung" jüngeren und jüngsten Datums befrieden, die Konterbewegung vor dem Reiche der Tonalität zum Stillstand kommen würde.
Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Moser, legte somit im Jahre 1938 eine "Kleine deutsche Musikgeschichte" vor. Mit Worten wie den soeben zitierten, tastete er sich vorsichtig in vermeintliche Terra incognita vor, an das "Problem Mendelssohn", wie man es hier einmal zu Recht benennen könnte, heran. In zahlreichen Fällen blieben Schriften wie diese, Aufführungen Mendelssohn´scher Werke gar, ohne Folgen für Autoren und Musiker. In anderen Fällen erfolgte die Reaktion rasch und unmissverständlich, stellten sich die Negativerfahrungswerte mit den Prämissen völkischer Kulturpropaganda postwendend ein.
So auch im Falle der "Kleinen deutschen
Musikgeschichte" Mosers:
"Wer eine kleine Musikgeschichte schreibt,
hat die Juden aus seinen Darlegungen zwangsläufig auszuschalten." beschied
eine Rezension im Westdeutschen Beobachter dem als "kulturpolitisch unzuverlässig"
apostrophierten Verfasser.
Moser hatte diesen Wink offensichtlich verstanden
und beherzigt. Wenige Jahre später trat er widerum als Publizist von Schriften,
welche sich mit rassebiologischen und musikalischen Fragen auseinandersetzten
sowie als Generalsekretär der "Reichsstelle für Musikbearbeitungen"
in Erscheinung. Letzteres stand für eine Behörde, welche Werken des
Opern-, Operetten- und Chorrepertoires vermittels Umdichtung und Bearbeitung von
Text und Handlung völkischen, antisemitischen Charakter verlieh.
Andere aber sahen sich vom nunmehr vorherrschenden Ungeist sogleich zu deutlichem Worte beflügelt. So stellt Dr. Fritz Stege im Mai des Jahres 1933 in der Zeitschrift für Musik Betrachtungen über die "Zukunftsaufgaben der Musikwissenschaft" an und kommt dabei u. a. zu folgendem Ergebnis:
"Aber wie es einzelne Meister der Tonkunst gibt, die dem vollendetztem Rassetypus entsprechen, so unterstehen auch ganze Perioden der Musikgeschichte besonderen Rasseeinflüssen. In geistvoller Weise hat Richard Eichenauer den Nachweis erbracht, wie sich der nordische Geist der polyphonen Form bemächtigte, während im Gregorianischen Gesang orientalische Eigenheiten zum Ausdruck kommen. (...) Und nun werden wir vom Rassestandpunkt aus auch die verschiedenen Strömungen unseres heutigen Musiklebens viel besser verstehen und beurteilen. Der Einbruch vorderasiatischer Rassenmerkmale in den Geist unserer Tonkunst hat zu einer Auflösung des abendländischen Harmoniegefühls beigetragen."
Dr. Stege unterläuft allerdings, vom Eifer der von
rassebiologischer Lehren motivierten Herabsetzung von Musik beflügelt, ein
eklatanter musikhistorischer Fehler. Er behauptet, dass ein Komponist von vermeintlich
vorderasiatischer Herkunft wie Mendelssohn, als welchen das III. Reich diesen
einzuordnen pflegte, die Auflösung abendländischen Harmoniegefühls
betrieben habe. Der sich selbst als Traditionalist verstehende Mendelssohn habe
also letztlich der Auflösung der Tonalität Vorschub geleistet.
Es
ist musikgeschichtliches Allgemeingut, dass die Harmonik und somit die Tonalität
in der deutschen Musik von der Oper "Tristan und Isolde" des "Vollariers"
und präpotenten geistigen Dramaturgen des III. Reiches, Richard Wagner aufgebrochen
und somit infrage gestellt wurde.
Ein Weg, der in den Werken der Spätromantiker Gustav Mahler, Richard Strauss sowie des frühen Schönbergs bis in die Atonalität und Zwölftonmusik des 20. Jahrhunderts hinein konsequent Fortsetzung fand. Der "Vorderasiate" und "Orientale" Felix Mendelssohn hingegen tat (wie die infolgedessen agierenden Komponisten Robert Schumann und Johannes Brahms auch) alles in seiner Macht stehende, um das abendländische Kulturerbe der Harmonielehre und Tonalität vor potentiellen Zersetzungen zu schützen und zu bewahren. Solcherart Irrtümer also sind die Folgen, wenn Rassenhass, Ideologie und Demagogie anstelle objektiver musikwissenschaftlicher und musikhistorischer Darlegung und Beurteilung treten.
Im Jahre 1934 forderte
der Dirigent und Fachgruppenleiter Musik des "Kampfbundes der Deutschen Kultur"
(KfdK) auf einer Landestagung der "Reichsmusikkammer" (RMK) in Dresden
die Anwesenden dazu auf, Mendelssohn als Vergangenheit, überholte Musikgeschichte
zu betrachten und statt seiner künftig neue Komponisten aufzuführen.
Die Orientierungslosigkeit musikalisch tätiger Entscheidungsträger,
der Dirigenten, Hochschuldirektoren, Chorleiter, Musikpublizisten etc. wurde erheblich
gefördert durch den Kompetenzwirrwarr und Machtkämpfe, welchen sich
die unterschiedlichen Partei- und Regierungsorganisationen kulturellen Zuschnitts
unausgesetzt hingaben.
Gerade in den ersten Jahren nationalsozialistischen
Machtvollzugs rivalisierten parteieigene Organisationen ohne Regierungsbeteiligung
wie der Kampfbund für deutsche Kultur (KfdK) des NS-Strategen Alfred Rosenberg
mit Regimefunktionären gesamtstaatlicher, regionaler oder lokaler Zuständigkeit
um Majoritätsfragen bezüglich zukünftigen völkischen Kulturbetriebs.
Führungskräfte des Regimes wie Joseph Goebbels indes waren bestrebt,
die Kompetenzen durch die Einrichtung von Ministerien wie jenes für "Volksaufklärung
und Propaganda" vollständig an sich zu reissen. Als Propagandaminister
und Chef der "Reichskulturkammer" (Rkk) betrieb Goebbels die Einrichtung
einer "Reichsmusikkammer" (RMK) innerhalb der RKK, welche alle Fragen
des Musiklebens in seinen persönlichen Entscheidungsbereich bringen sollte
und im November 1933 offiziell eingesetzt wurde.
Nach einem vergleichsweise kurzen und in jeder Hinsicht unrühmlichen Interegium des Komponisten Richard Strauss als Präsidenten der RMK, stand ab Mitte 1935 mit Peter Raabe ein Seniordirigent und Prof. Emeritus der TU Aachen und überzeugter Nationalsozialist der "Reichsmusikammer" vor. Da Goebbels Ende des Jahres 1936 die Errichtung einer Musikabteilung des Propagandaministeriums verfügte, als deren Leiter der Dirigent Heinz Drewes fungierte, sah sich Raabe als Präsident der RMK mit einem weiteren Generalbevollmächtigten Musik im Weisungsbereich Minister Goebbels konfrontiert. Drewes unterstand als Leiter der Musikabteilung ausschließlich der Person des Ministers, war aber als Mitglied der RMK widerum partiell den Anordnungen Raabes als deren Vorstand unterworfen. Die Supervision des Bereiches Musik unterlag daher in letzter Konsequenz dem Propagandaminister selbst.
Da aber die beiden Funktionäre die Richtlinienkompetenz ihrer Positionen grösstmöglich auszureizen trachteten und sich somit gegenseitig blockierten, liegt die Neutralisierung und Ineffektivität der Behörde auf der Hand.
Darüberhinaus
befehdeten sich die auf gleicher Partei- und Verwaltungsebene angesiedelten NS-Funktionäre
auch untereinander. Es verwundert daher nicht, das neben Goebbels auch der Preussische
Ministerpräsident und Generalluftmarschall Hermann Göring als Generalintendant
aller preussischen Theater kulturelle Kompetenzen beanspruchte und auch der preussische
Kultusminister und spätere Reichsminister für Wissenschaft, Kunst und
Volksbildung Bernhard Rust über erhebliche Weisungsbefugnis im kulturellen
Bereich verfügte. Auf persönlichen Wunsch Adolf Hitlers wurde im Jahre
1934 widerum das Amt Rosenberg ins Leben gerufen, da Hitler sich dem zunehmenden
Machtbereich seines Propagandaministers gegenüber abzusichern trachtete.
Rosenberg, der Vorkämpfer des von Goebbels institutionell neutralisierten KfdK erhielt somit als "Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der N.S.D.A.P." erneut Kompetenzen, welche in der Folgewirkung auf die von Hitler angestrebte vollständige ideologische Nivellierung europäischen Kulturerbes der Bereiche Kunst und Wissenschaft abzielen sollte. Da die genannten Einrichtungen mit unterschiedlichen Kompetenzen versehen administrativ im gleichen Revier, dem Bereich Musik agierten, waren die Amtsleiter jeweils in kleinlicher Eifersüchtelei auf Besitzstandswahrung und gesteigerte öffentliche Einflussnahme bedacht. Somit herrschte - den erklärten Zielen vollständiger ideologischer Kontrolle öffentlichen Lebens gänzlich zuwiderlaufend - stellenweise ein Richtlinienwirrwarr vor, welches der einflussreiche Berliner Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt nach dem Kriege als "ganz schwammig, im Grunde unverständlich" charakterisieren sollte.
Das es somit in den ersten Jahren des Regimes noch zu vereinzelter Propagierung Mendelssohnscher Musik kommen konnte, ist keinesfalls etwaigen anteilig-libertinären Grundzügen desselben geschuldet. Das Phänomen resultiert vielmehr aus einer, letztendlich bis zum Untergang des III. Reiches vorherrschenden, Unfähigkeit der NS-Administration, die Durchsetzung ideologischer Prämisse wirkungsvoll bis in alle Teilbereiche alltäglichen Lebens durchzuführen.
Möglicherweise spielten auch strategische Erwägungen, Vorbehalte, in das Bemühen um eine nachhaltige nationalsozialistische Revision des kulturellen Lebens in Deutschland hinein. "Darf bei Veranstaltungen der N.S.D.A.P. nicht gesungen werden", hiess es bezüglich des Mendelssohnschen Chorwerks zurückhaltend im Jahre 1934, als das Regime möglicherweise noch auf Überzeugungsarbeit und Konsens bei den wertkonservativ-bildungsbürgerlich ausgeprägten Bevölkerungsschichten bedacht war.
"Eine grosse Zeit duldet keine Kompromisse. Wenn konfessionelle Kirchenchöre das nicht begreifen wollen und, wie kürzlich in einer rheinischen Stadt geschehen, ihren Mendelssohn einfach ohne Nennung des Namens in ein Konzert einschmuggeln, erhebt sich die Frage nach der politischen Zuverlässigkeit solcher Dirigenten, denen dann das letzte Hintertürchen für ihre bewusste Sabotage der musikalischen Reinigungsbestrebungen energisch zugeschlagen wird. Solche Handlungen, die sich durch ihre Feigheit selbst richten, sind Ausnahmen, die wir nur registrieren, um zu zeigen, daß das Fischen im Trüben stets den Dunkelmann trifft."
...gab der Hauptschriftleiter Musik F. W. Herzog im Jahre 1937 zu verstehen, als sich das Regime bis in alle Lebensbereiche hinein verfestigte und qua Diktat über etwaige bildungsbürgerliche Ressentiments nunmehr gänzlich hinwegsetzen konnte.
Der Meininger Kapellmeister Gustav Adolf Schlemm wurde im Jahre 1933 seines Postens enthoben, weil er eine Mendelssohn-Komposition, das Klavierkonzert Op. 25 ins Programm eines am 7. Februar im Landestheater gegebenen Jugendkonzertes genommen hatte; sein Handeln vom Leiter des "Gaukulturamtes der N.S.D.A.P"., Hans Severus Ziegler als Brunnenvergiftung deutscher Jugend gegeisselt. Der Frankfurter Dirigent Joachim Martini verdeutlicht in seinem Beitrag zum 1. Leipziger Mendelssohn-Kolloquium im Juni 1993 präzise die Perfidie, mythologische Sublimität und implizite psychologische Nachhaltigkeit dieser Metapher: "Bösartig, denn das Bild suggeriert nicht nur die seit Jahrhunderten zu Pogromen Anlass gebende Fantasie des Ritual- und...Massenmordes, sondern unterstellt gleichzeitig dem Komponisten die abgefeimte Intention, die Jugend, die Blüte, die Hoffnung der Nation mit seinem Pesthauch korrumpieren zu wollen".
Der Doyen damaligen deutschen Dirigententums, Wilhelm
Furtwängler, hielt in den Jahren 1933 und 1934 in den Programmen der von
ihm geleiteten Berliner Philharmoniker noch an Mendelssohnschen Orchesterwerken
fest. So ist vom Februar des Jahres 1933 eine Aufführung der Schauspielmusik
zum "Sommernachtstraum" überliefert.
Die im Jahre 1933
in der Leipziger Thomaskirche aufgeführte Sylvestermotette des Thomanerchores
brachte u. a. das Neujahrslied "Mit der Freude zieht der Schmerz" von
Felix Mendelssohn zu Gehör, ohne das NS-Behörden dem Chor zu diesem
Zeitpunkt deswegen Schwierigkeiten bereitet hätten.
Die Rezensentin
Grete Altstadt Schütze bezeugt im gleichen Jahre im Märzheft der Zeitschrift
für Musik eine zeitnahe Aufführung des Violinkonzertes Op. 64 in Wiesbaden.
Demonstrativ stellt sie sich dabei an die Seite des "aus innerstem Adel musizierenden
Prof. Georg Kulenkampff,...der bewies, dass man Mendelssohns Violinkonzert in
solch meisterlicher Aufmachung noch lieben könne".
Gleichsam
in Wiesbaden kam es zu Beginn des Jahres 1934 zu erneuter Aufführung des
Violinkonzertes, ohne das die Ausführenden vorab oder im Nachhinein mit Repressalien
konfrontiert wurden. Es spielte der junge Wolfgang Schneiderhan, am Pult stand
Carl Schuricht; beide nach dem Kriege, in den 50ziger und 60ziger Jahren Kapazitäten
ihres Faches.
Anfang des Jahres 1935 stellte der Engländer Frederic
Lamont in Berlin ein Programm vor, das ausschliesslich aus Werken Mendelssohns
bestand.
Im Februar des gleichen Jahres brachte der Thomanerchor in Leipzig
noch einmal den Psalm 43 op. 78 Nr. 2 zu Gehör, obgleich mit Karl Straube
ein altverdientes Parteimitglied (Parteieintritt i. J. 1926) die musikalische
Leitung des Chores wahrnahm, welcher im Jahre 1937 denn auch der HJ gleichgeschaltet
wurde.
Wie stellt sich die publizistische Abhandlung des Sujets Mendelssohn, nunmehr dem von den Machthabern propagierten "rassebiologischen" Aspekt unterworfen, in der Frühzeit des Regimes dar?
Hans Mersmann vermengt in "Eine deutsche Musikgeschichte" zeitgeistgerecht die "rassische" Belange des musikalischen Vorfalls Mendelssohn mit den tradierten bioigraphisch-musikalischen Stereotypen Familienclan, Reichtum, omnipotente musikalische Protektion, Frühreife und -stagnation, formaltechnisch vollendeter Leerlauf, Klein-(kunst)-meister etc. Wie zahlreiche Musikpublizisten paraphrasiert Mersmann dabei Thesen aus Wagner/ Freigedanks Traktat. So spricht Mersmann Mendelssohn die "stetige wärmende Kraft" ab, welche Wagner/ Freigedank zufolge nur in der Verwurzelung im deutschen Volke reüssieren könne, welche Mendelssohn als Jude ja von Grund auf verwehrt sei. Die These von der "technischen Meisterschaft", welche "bisweilen schon als Leerlauf" empfunden würde spielt wiederum auf Wagner/ Freigedank Invektive der seelenlos, technisch vollendeter Kälte in der Musik jüdischer Komponisten.
So heisst es auf Seite 419 ff:
"...Der Enkel von Moses Mendelssohn...war Träger einer...ausgeprägt jüdischen Familienkultur, in welcher die Musik von jeher eine Rolle spielte. (...) alle Schwierigkeiten wurden aus dem Weg geräumt. (...) Und so erreichte er verhältnismässsig früh einen Grad von Vollendung, den eine spätere Entwicklung nicht mehr übertraf. Mehrere Vorzeichen treffen zusammen: Rasse, schöpferische Begabung, Überzüchtung und eine schon zur Dekadenz hinüberneigende Familienkultur...: er beginnt mit genialem Schwung (...) und hat dann Mühe, die immer wieder hinabgleitende Höhe zu halten. (...) Aber hinter dem Werke lebt nicht mehr die stetige, wärmende Kraft und seine vollendete technische Meisterschaft wirkt bisweilen schon als Leerlauf. (...) Er ist der erste, dessen entscheidende Äusserungen in der Kleinkunst liegen.
Der "Westdeutsche Beobachter" veröffentlichte am 10.3.1935 ein Traktat Dr. Karl Grunskys; welcher sich, gänzlich zeitgeistgerecht, "Gedanken über Mendelssohn" ge- macht hatte. Grunsky, ein vormals in Stuttgart ansässiger Musikschriftsteller und Bruckner-Experte, war bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik als Vorkämpfer einer "musikalische(n) Erneuerungsbewegung vor der deutschen Revolution" mit der Publikation antisemitischer Musikrezensionen hervorgetreten. Mit der Publikation von "Abwehrschriften", welcher der Komponist Hans Gansser in der Septemberausgabe der "Zeitschrift für Musik" von 1935 "höchst wertvoll und aufschlussreich" bezeichnete. So veröffentlichte Dr. Grunsky um 1920 herum eine Studie, welche sich dem einschlägig bewährten Thema "Richard Wagner und die Juden" widmete und von Rezensent Gassner als "deutsche Tat von bemerkenswerter Zivilcourage!" eingeschätzt wurde.
Des Weiteren versuchte sich Dr. Grunsky bereits im Jahre der "Machtergreifung" in der Rolle einer publizistischen Denunziation missliebiger Kollegen des akademischen und ausübenden Musikbereichs.
In einer Schrift mit dem martialisch vorgeprägten Titel "Der Kampf um deutsche Musik. Der Aufschwung", erschienen im Jahre 1933 in Stuttgart, suchte Grunsky in anmassend -subjektiver Schreibweise erfolglos Komponisten wie Hugo Herrmann und Wolfgang Fortner, Funktionäre wie Prof. Fritz Jöde und Prof. Leo Kestenberg sowie auch den Dirigenten Wilhelm Furtwängler als wesenssynonym jüdisch und sozialdemokratisch, als unbelehrbare Propagandisten sozialistischen Musikgutes sowie Marxisten zu diffamieren.
Kaum verwunderlich, daß
Grunskys "Gedanken über Mendelssohn" somit nur von brachial zu
Werke gehender Subjektivität und Polemik sowie ungeschlachter Redeweise geprägt
sein konnten:
"Die "Lieder ohne Worte" (schon der Titelwitz
verstimmt!) haben eine überlange Zeit hindurch den musikalischen Geschmack
bestimmt, das heisst verderbt; denn was am Klavier als am Tonwerkzeug des häuslichen
Alltags erklang, musste sich auf alle anderen Neigungen auswirken (...) Die Wut
musste einen packen, wenn diese geschwätzigen Auslassungen wegen besserer
Verständlichkeit hoch über Beethoven emporgerückt wurden. Und spielte
die Tochter des Hauses mit einer Freundin gar vierhändig, so mussten es Mendelssohns
Sinfonien sein, weil sie so plätschrig dahinflossen (....)
Damit,
daß Mendelssohn als Ersatz für deutsche Meister in unser Musikleben
eindrang, sind wir an dem entscheidenden Punkte angelangt, der unser Verhalten
künftig regelt; wir brauchen solchen Ersatz nicht mehr, weder im Konzertsaal
noch im Hause! Auch nicht in der Kirche! Als Übungsstoff kam Mendelssohn
vielleicht in Betracht, aber nie als gleichwertige Offenbarung (...)
Nicht
zu rechtfertigen ist also die Überschätzung, die unsere Musikwelt Mendelssohn
auf jedem Gebiete zugestanden hat. In Kretschmars "Führer durch den
Konzertsaal" sind Mendelssohns 5 Sinfonien zusammen 11 Seiten gewidmet; 7
Sinfonien Bruckners, die vor 1890 entstanden waren, werden auf wenig mehr als
einer Seite erledigt, ein krasser Fall des Mißverhältnisses zwischen
Jüdischem und Arischem in einem deutschen Buche!"
Im Jahre 1935
legte Christa Maria Rock einen enzyklopädischen Konstrukt vor, welcher sich
bereits im Titel "Judentum und Musik: mit dem ABC jüdischer und nichtarischer
Musik" als Paraphrase der historischen Publikationen Wagners und Fritschs
ausweist.
Als Co-Autor firmiert Hans Brückner; die Herausgeber verweisen
auf die Auswertung "authentischer Unterlagen." Das Buch erreichte bis
zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur eine Auflagenhöhe von insgesamt
etwa 200000 Exemplaren. Tendentiell liegt es ganz auf der Linie jener zahlreichen,
im Zeitraum von 1934 - 40 veröffentlichten einschlägigen Publikationen
hinsichtlich musikanthropologisch bemühter "Beweisführung"
einer "rassisch" bedingten arischen Überlegenheit sowie der "semitischen"
Befähigung zur Unterwanderung gewachsener "völkischer" Strukturen
im musikalischen Bereich.
Rhetorisch indeß vollends dilettantisch
ausgeführt, trachtet es, dem Leser vermittels dezidiert diffamierender Entstellung
und Verzeichnung deutsch-jüdischer Vergangen-heit, Persönlichkeiten
wie Mendelssohn nachhaltig zu entfremden. Wie deutlich ersichtlich, beruft Rock
sich, im Tonfall der Übersteigerung und Nachereiferung klassisch-subalternen
Adeptentums verhaftet, auf den überkommenen Schlagwort-katalog der Freigedank/
Wagnerschen Argumentationskette: Mendelssohn = Jude = Ekklektizist = geschmäcklerisch,
insubstantiell.
Aber auch die von B. A. Marx (Mendelssohn-Synonym: weibisch)
und Theodor Uhlig (Mendelssohn-Synonym: Schaffenwollen und Nicht-Schaffen-Können)
seinerzeit ausgeprägten Rezeptionsstereotypen finden in nahezu identischer
Wiederholung Anwendung.
"Felix Mendelssohn Bartholdy (...) war ein
Vollblutjude und der Enkel des als Philosoph gepriesenen Moses Mendelssohn. (...)
Seine Frau war die Tochter eines evangelischen Predigers aus Frankfurt (Main),
Cecilie Jeanrenaud, zu deutsch: Johann Fuchs, der vielleicht auch nicht so ganz
rasserein war. Bei Mendelssohns Tod wurden die Zipfel des Leichentuches von den
echten Juden, seinen Freunden Ignaz Moscheles, David Moritz Hauptmann und Gade
getragen.
(Den demagogischen Praktiken derartigen Schrifttums gemäss unterschlägt Rock dabei die Sargträger Robert Schumann und Julius Rietz. Anderseits entgeht ihr der "Semite" Ferdinand David. Gade und Hauptmann wiederum waren keineswegs jüdischer Abstammung. Anmerk. d. Verf.)
Mendelssohn ist der Begründer des Sammelsurium-Stils, der dann von den nachfolgenden Juden noch weiter verwässert wurde. Er gefiel sich besonders in Monster-Vorstellungen, ein typisch jüdischer Geschmack, der dann auch von Mahler besonders übertrieben wurde. Mendelssohns Musik ist überwiegend schwärmerisch und sentimental, fast weibisch. Sein Schaffen zeigt immer wieder die Rasseeigentümlichkeit, die gesuchte Anhäufung aller denkbaren Instrumentaleffekte. Immer zeigt sich in ihm der Konflikt des Schaffenwollens und Nicht-Schaffen-Könnens. Rein jüdisch war auch seine Abneigung gegen Wagner und gegen Beethoven. (...) Ihm fehlt Naturlaut. Er war nur ein Kolorist der Tonkunst".
Rock biegt sich dabei die musikgeschichtliche Sachlage, ganz dem propagandistischen Zwecke des Buches unterworfen, mit Brachialgewalt zurecht und befleißigt sich stellenweise der reinen Unwahrheit . Mendelssohns Musik ist von der Stringenz und Transparenz überschaubarer Besetzungen bei der Vorgabe rascher Tempi geprägt. "Monster Veranstaltungen" laufen dem musikalischen Idiom der Mendelsohn´schen Musik geradezu zuwider. Der Sittenstrenge humanistischen Komponierens verhaftet, verwahrte sich Mendelssohn gegenüber jedwedem illustrem musikalischen Affektes, welcher ihm letztendlich (auch in den Werken andere Komponisten) als unseriös erscheinen mußte. Eine Abneigung Mendelssohns Beethoven gegenüber entspringt des Weiteren der puren Erfindung Rocks. Beethovens Symphonien spielten eine wesentliche Rolle in der Konzeption der Gewandhausprogramme Mendelssohns, Beethovens Vorbild war in zahlreichen Kompositionen desselben lebendig.
Die Publikation Rocks und Brückners war in der Lesart und Recherche allerdings derart schlampig verfertigt, daß das Autorenpaar eine Reihe von Prozessen auf sich zog, angestrengt von Personen und Einrichtungen, welche sich durch eine irrtümliche Konstatierung jüdischer Identität in diesem Buch in ihrem Ruf geschädigt sahen.
Im Sommer des gleichen Jahres leitete Franz von Hoeßlin im Schlossgarten
der Hohenzollern in Breslau ein Serenadenkonzert, welches u. a. auch Scherzo und
Notturno aus der "Sommernachtstraum"-Musik zu Gehör brachte. Die
Presse kommentierte diese Aufführung zweier Kompositionen eines zunehmend
als Juden verfemten Musikers dessen ungeachtet als "unvergänglich schön".
Gleichsam im Sommer des Jahres 1935 trat die Frankfurter Museumsgesellschaft
(eine noch heute bestehende grossbürgerliche Konzertgesellschaft) in ausserordentlicher
Mitgliederversammlung mit dem Ziele zusammen, das Konzertprogramm der nächsten
Saison festzulegen. Der Komponist Dr. phil. h.c. Alexander Friedrich Prinz von
Hessen riet der Versammlung dabei nachdrücklich, "in Zukunft auch wieder
dem Werk Mendelssohns gebührende Beachtung zu schenken" (Prieberg),
ohne sich mit dieser Position bei der Museumsgesellschaft durchsetzen zu können.
Fred Prieberg, dessen, im einschlägigen Themenbereich langjährig führenden Studie "Musik im NS-Staat" die Daten regimekontroverser Aufführungen von Mendelssohn-Musik grösstenteils entnommen wurde, listet des weiteren folgende Theateraufführungen des "Sommernachtstraums" mit der Mendelssohnschen Schauspielmusik auf: 1934 vom Friedrich-Theater in einer im Dessauer Luisum veranstalteten Vorstellung; im April des gleichen Jahres in Ulm, in den Ostertagen des Jahres 1935 in Meinigen. Dem standen im gleichen Zeitraum aber bereits von der NS-Kulturpolitik initiierte Surrogat-Untermalungen mit Grammophonplatten (so am Freilichttheater Märkisches Museum in Berlin), mit Instumentalmusik aus Purcells "The Fairy Queen" bei den Heidelberger Schlossgastspielen des Jahres 1934, mit einer nicht näher genannten Barockmusik an der Naturbühne in Thale/ Harz sowie eine von Erwin Baltzer mit Ausschnitten von Carl Maria von Webers "Oberon" am Neuen Stadttheater Greifswald zusammengestellte Kompilationsmusik. Die wahrscheinlich letzte Aufführung des Schauspiels in der Vertonung Mendelssohns im Nationalsozialismus fand im Juni des Jahres 1937 am Stadttheater Brandenburg/ Havel statt.
Auch im Verlagswesen konnte sich Mendelssohns Werk noch einige Jahre behaupten. Die Verlage nutzten dabei offenkundig ein Schlupfloch innerhalb nationalsozialistischer Verordnungen, welche ein Angebot von Musikmaterialien jüdischer Komponisten für eine bestimmte Übergangszeit scheinbar zu dulden gestatteten. Hören wir dazu Joseph Goebbels in einem Artikel der Zeitschrift für Musik aus Regensburg vom 1. Januar 1936.
Er verfügte darin: "daß wegen allenfallsiger Schädigung der betreffenden Verlage und aus der Erwägung heraus, daß die Bekanntgabe von Werken jüdischer Komponisten weder deren Ankauf noch deren Aufführung zufolge haben wird, ein Verbot der betreffenden Verlagsverzeichnisse nicht ausgesprochen wird.
Für
die Zukunft jedoch hat bei Neudruck von Katalogen selbstverständlich jedwedes
Anbieten von Werken nicht erwünschter Komponisten zu unterbleiben.
So
bot der Musikverlag Hampe weiterhin ein Posaunenchorarrangement des Kriegsmarsches
der Priester aus Mendelssohns Schauspielmusik zu Racine`s Drama "Athalia"
zur Aufführung an. Ein Katalog des namhaften Musikverlages Bote & Bock
in Berlin wiederum bot Musikalben an, welche Mendelssohn´sche Kompositionen
und jene anderer jüdischer Tonsetzer gar mit Werken nationalsozialistischer
Komponisten wie Georg Blumensaat, Johannes Günther und Hans Miessner vereinten.
Im Jahre 1939 erklang Mendelssohn noch einmal an der Musikhochschule in
Weimar. Der Direktor des Instituts, Felix Oberborbeck, wurde daraufhin von seinem
Posten suspendiert Österreichische NS-Funktionäre erschlossen ihm daraufhin
einen neuen Wirkungsbereich an der Musikhochschule in Graz.
22.
Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen
Die Reichsleitung der N.S.D.A.P. war von den Vorgängen um die dillettierenden Publizisten Rock und Brückner hinreichend gewarnt; diese hatten beträchtliche Zahlungsbefehle hinsichtlich Schadensersatz gegen NS-treue Verlage mit sich gebracht und diskreditierten das Unterfangen antisemitischer "Säuberung" der deutschen Kultur in Gesamtheit im Vorfeld erheblich. Also beschloss die ranghöchste Ebene der NS-Kulturpropaganda die Vorlage eines von offizieller Seite initiierten musikalischen Judenkatechismus: des "Lexikon der Juden in der Musik"
In den Jahren 1934/35 erschien ein Hauptwerk aggressiven nationalsozialistischen Rassenschrifttums unter dem Titel "Handbuch der Judenfrage". Wie im Titel bereits verdeutlicht, handelt es sich dabei um eine aktualisierte, dem NS-Gedankengut spezifisch Rechnung tragende Bearbeitung des berüchtigte "Handbuch der Judenfrage", welches der Antisemit Theodor Friztsch bereits im Jahre 1887 erstveröffentlichte. Da das Handbuch der antisemitischen Breitenbewegung Deutschlands seit jeher als Zentralorgan galt, hatte es bis zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Wiederauflagen erfahren: Allein bis zum Jahre 1907, also für einen Zeitraum von nur 20 Jahren, werden 26 Auflagen genannt.
Ob bereits die Neupublikation des "Handbuch der Judenfrage" auf Initiative und Förderung der NS-Administration zurückging, ist nicht klar. Offiziellen Rang erhielt es allerdings bereits dadurch, daß es in den Bestand sämtlicher Bibliotheken in Deutschland einzog.
Im "Handbuch der Judenfrage"
von 1935 greift Hans Koeltzsch in einem Kapitel gleichen Namens auch den Gedanken
vom "Judentum in der Musik" erneut auf.
Im Verweis auf Aspekte
wie: "Glanz und Glitter des Theaters" (ein Beitrag über Giacomo
Meyerbeer); "Frivolität, Zynismus und Erotik" (...über Jaques
Offenbach); "Operettenschmierer" (...über jüdische Operettenkomponisten);
"Oberflächliches Mitmachen jeder Stilsensation" (...über Kurt
Weill) betreibt er darin detaillgenaue Demontage jüdischer Komponisten und
deren Werke:
"Judentum in der Musik, das ist eine kurze, erschreckende
und sehr vielfältige Geschichte von Aufnahme fremden Gedankengutes, bar jeder
urtümlichen Schöpferkraft; von grösseren jüdischen Meistern
(Mendelssohn, Mahler) in schmerzlicher Tragik empfunden, gegen die anzukämpfen
vergeblich blieb. (...) Fassen wir zusammen: auch in der Musik hat der Jude nie
Kulturwerte geschaffen. (...) Darum kann es im weiteren Felde des neuen deutschen
Musiklebens keine "Politik der mittleren Linie" mehr geben, keine Duldung,
Verständigung, keine Humanität; wir alle haben vielmehr...die Pflicht,
das Judentum in der Musik restlos auszuschalten".
Der Autor dieser
Zeilen reüssierte nach 1945 als "namhafter Hamburger Musikwissenschaftler"
und Chefredakteur des 2. UKW-Programms des Nordwestdeutschen Rundfunks Hamburg.
Er veröffentlichte u.a. in den 60ziger Jahren einen Standardopernführer,
der über Buchgemeinschaften verlegt, zahllosen Haushalten zum Allgemeingut
wurde und unentwegt vernichtende Urteile bezüglich "Sommernachtstraum"
und Meyerbeers gesamtes Opernschaffen verkündet.
Die von der nationalsozialistischen Propaganda synonym zu "jüdisch" aufgewandten Begriffe "Atonalität" und "Entartet" waren der Entwöhnung von den harmonisch-melodischen Kompositionen des Spätklassizisten Mendelssohn wenig dienlich. Zwang administrativer Verordnung trat an die Stelle propagandistischer Rhetorik. Musikvereine, Orchester und Konservatorien liessen vom Werke Mendelssohns ab und seine Musik verstummte in Deutschland und Hitler-Europa für nahezu 12 Jahre.
Das im Jahre
1912 in der Berliner Staatsbibliothek zur Aufnahme und Exposition des Nachlasses
errichtete Mendelssohn-Zimmer wurde im Jahre 1933 umbenannt, die im Jahre 1878
von den Erben und dem Preussischen Staat errichtete Mendelssohn-Stiftung zur Förderung
begabter Studenten der Fächer Komposition, Dirigat und Klavier 1934 eingezogen.
Der umsichtigen Sorge des Musikwissenschaftlers und Musikfunktionärs
Prof. Georg Schünemann als Direktor der Handschriftensammlung der Berliner
Staatsbibliothek ist es einzig zu verdanken, daß der unmittelbare schriftliche
und musikalische Nachlass Felix Mendelssohns die Zeiten des III. Reiches und des
II. Weltkrieges weitgehend unbeschadet überstand.
Auch die Musikstadt
Leipzig hatte sich der Erinnerung an den bedeutenden einstigen Mentor hiesigen
Musiklebens rasch entledigt, eine Entwicklung, der mit der Vernichtung des Mendelssohn-Denkmals
vor dem Gewandhause öffentlichkeitswirksam besiegelt wurde.
Zum Beweis
dessen ein Blick in zwei Publikationen des maßgeblich auf die Initiative
Felix Mendelssohns im Jahre 1843 gegründeten und von diesem bis zum Todesjahre
1847 geleiteten Leipziger Konservatoriums.
Direktor Prof. Walther Davisson
umriss in jenen Jahren in einem Editorial unter dem Titel: "Das Landeskonservatorium"
(ohne Datumsangabe) die Geschichte seines Hauses folgendermassen: "
"Drei
grosse Institute: Thomaskirche, Gewandhaus und Konservatorium haben den Ruf Leipzigs
als Musikstadt begründet und tragen heute noch Leipzigs Künstlernamen
in alle Welt. Das Landeskonservatorium nimmt unter ihnen als Musikbildungsstätte
eine sehr wichtige Stellung ein.
Es wurde am 2. April 1843 als erstes
grosses deutsches Musikerziehungsinstitut mit der Bezeichnung "Konservatorium
für Musik" eröffnet und unterstand der Aufsicht der Gewandhausdirektion.
Unter den ersten Lehrern finden wir Namen wie: Moritz Hauptmann, Dr. Robert Schumann,
Christian August Pohlenz, Carl Ferdinand Becher, Ernst Friedrich Richter und Nils
W. Gade.
Das nachfolgend wiedergegebene Eröffnungsprogramm, das
in seinen Hauptgedanken noch bis zum heutigen tage Gültigkeit hat, zeigt
uns, daß schon die Gründer der neuen Musikschule von der Notwendigkeit
einer umfassenden künstlerischen Ausbildung überzeugt waren: Der zu
erteilende Unterricht umfasst folgende Gegenstände: Komposition, Violinspiel,
Klavierspiel, Orgelspiel und Gesang. (...) Als Bildungsmittel für die Zöglinge
bieten sich ferner dar: der unentgeltliche Besuch der in jedem Jahr stattfindenden
Abonnemontskonzerte im Gewandhaus und der diesfälligen Proben sowie der Quartettunterhaltungen.
Auch der Besuch der vom Thomanerchor allwöchentlich aufgeführten Kirchenmusiken und der Vorstellungen der städtischen Oper wird zur musikalischen Fortbildung beitragen können".
Davisson streicht dabei in erheblichem Maße die auf Felix Mendelssohn Bartholdys Wirken beruhende ungebrochene musikalische Tradition Leipzigs, die historische Bedeutung des Konservatoriums, den Modellcharakter des im Jahre 1843 vorgelegten Ausbildungskonzeptes heraus. Des weiteren scheute er keineswegs das umfangreiche, anonyme wortwörtliche Zitat aus dem Programm, welches der totgeschwiegene oder mit der Chiffre "Gewandhausdirektion" verkleidete Direktor Felix Mendelssohn zur Eröffnung des Instituts verfasste.
Davisson geriet einige Zeit nach Vorlage des Artikels selbst in politische Schwierigkeiten, da Zweifel an seiner "arischen" Herkunft aufkamen. Obgleich er die Anfechtung der "Reinrassigkeit" stets durch die Pflege dezidiert völkischer Rhetorik zu entkräften suchte, wurde er infolge des Verdachtes der Leitung des Konservatoriums enthoben, das Institut einer kommisarischen Leitung anvertraut.
Getreu der Joseph Goebbels-Losung: "Judentum und deutsche Musik, das sind Gegensätze, die ihrer Natur nach in schroffstem Widerspruch zu einander stehen" erging an die Musikwissenschaft der Auftrag, das Idiom deutscher Musik zu definieren. Dies vermochte sie ebenso wenig auf der Basis empirisch gesicherter Erkenntnisse zu leisten, wie Freigedank/ Wagner seinerzeit ein vermeintlich semitisches Idiom von Glätte, Kälte, seelenlos-perfektionistischer Eleganz im Werk Mendelssohns seriös nachweisen konnte.
Im Zuge dessen bemühte sich beispielsweise der Musikwissenschaftler Robert Pessenlehner "Vom Wesen der deutschen Musik" (Gustav Bosse Verlag, Regensburg, 1937) ultimative Kunde zu geben.
Er stellt darin die Behauptung daß "die höchste Formvollendung in den Werken aller Zeiten und Epochen (...) nur in den Werken der Deutschen Tonkunst" gleichsam als zentrale These, als Losung über die gesamte Thematik auf. .
An zahlreichen Fallbeispielen sucht Pessenlehner, die vom Propagandaministerium eingeforderte Beweisführung einer spezifischen Vorrangstellung Deutscher Tonkunst im Konzert der Völker und Nationen vorzunehmen.
So beklagt er eine "allmähliche Umwandlung des arischen Rhythmusgesetzes in ein ausserarisches" als vormals schädlichen Prozess, zersetzend für die Deutsche Tonkunst und stellt dieser Entwicklung einen Kanon unverbrüchlich-ewiggültiger "Wesensmerkmale - Symbole der Deutschen Musik" entgegen. Als grundlegendes "Wesensmerkmal", als "Symbol" hebt er beispielsweise die Synkope hervor.
Der Fall Mendelssohn, des "Kronzeuge(n) für die jüdische Musik, die erkenntlich ist am Fehlen der deutschen Symbole, vor allem der Synkope", dessen Musik ja "jeglicher Synkopen" ermangele, erledige sich im Benehmen, jener sei vorgeblich ein Deutscher Komponist gewesen, somit ja von alleine.
Thesen wie jene, "innerhalb der deutschen Musikwelt" sei es das Phänomen der Synkope, welches "ganz besonders arische und nichtarische Tonsetzer" unterscheide, oder Betrachtungen wie "Deutsch sein heisst unklar scheinen" schliessen sich an.
Die Subjektivität, der vordringlich im Obsessiven,
Pathologischen wurzelnde Versuch um die Definition eines einzigartigen Idioms
deutscher Musik; das persönliche Scheitern Pessenlehners an dieser Aufgabe,
ja die Vergeblichkeit derselben, streicht jener selbst unzweideutig hervor:
Die Erklärung der "Merkmale der Deutschen Musik" wäre
letztendlich "nach dem Stande der gegenwärtigen Forschung auch nicht
einzig und allein dem Rassengrundsatz (zu) übertragen (...) Gewiss ist die
Scheidung zwischen arischer und nichtarischer Rasse die Grundlage für die
gesamte Abhandlung. Aber innerhalb der arischen Rasse ergeben sich von der Musik
her Abwandlungen, für deren Bestimmung die bisherigen Ergebnisse der Rassenforschung
nicht ausreichen."
Wolfgang Boettcher, dessen Funktion innerhalb der
nationalsozialistischen Rezeption Felix Mendelssohns noch ausführlich zur
Sprache kommen soll, hebt in einem im März des Jahres 1938 im Monatsheft
"Die Musik" des Gustav Bosse Verlages Regensburg erschienenen Essay
denn auch die Fragwürdigkeit des Pessenlehnerschen Versuches unmissverständlich
hervor. Begreiflicherweise kapriziert sich der Habilitant Boettcher, der nach
1945 eine ausgewiesene musikwissenschaftliche Karriere durchlief, vorwiegend auf
die Wahrung musikakademischer Belange.
"Wenn man Pessenlehners Buch
zur Hand nimmt, stellen sich zunächst Zweifel ein, ob man es mit einer ernstgemeinten
Darstellung zu tun hat oder ob sich der Verfasser (...) in karnevalistischer ironisierender
Form mit Fragen beschäftigt, die nur von höchster fachlicher und weltanschaulicher
Warte aus beantwortet werden können.
Das Buch ist vom Verfasser ernst
gemeint. Das geht nicht zuletzt aus der Selbstsicherheit , mit der Pessenlehner
(bis dato der deutschen Musikwelt ein Unbekannter) sich selbst auf einem ganzseitigen
Bilde - dem einzigen des 193 Seiten starken Buches - darbietet. (...)
Nach
schweren Angriffen auf die deutsche Musikkultur der Gegenwart (...) kommt bei
Pessenlehner die deutsche Musikwissenschaft unters Messer (...) Pessenlehner meint
ironisch: "Die Männer, die einst an der Zeitschrift der Internationalen
Musikgesellschaft mitschufen", behaupteten im Januar 1934, sie hätten
"den Ruf", sich "zu neuer nationaler Einheit und Geschlossenheit
zusammenzufinden, wohl verstanden. Er entlarvt den "Ungeist", der die
Deutsche Musikwissenschaft seit ihrer Entstehung durchzieht" (...) Während
er dem Deutsche Musikgelehrten die Ehre abschneidet, berührt es peinlich,
daß er den Juden Moritz Bauer ( + 1932, u.a. seit 1918 Professor & Universitätsmusikdirektor
in Frankfurt a. M., Widmungsträger der Dissertation Pessenlehners) aus begreiflichen
Motiven kein einziges Mal erwähnt".
Während zahlreiche Autoren in Kampfschriften das Phänomen einer vermeintlich nachhaltig "durchrassten" Deutschen Tonkunst blosszulegen trachteten, negierte eine systemkonforme, übergreifend agierende Musikwissenschaft das Lebenswerk Felix Mendelssohns vollständig.
"Es ist nicht Aufgabe einer deutschen Musikgeschichte, sich mit ihm und seinen Ouvertüren, Sinfonien und Oratorien, seinen Liedern und seiner Klaviermusik zu befassen" (Josef Müller-Blattau, Professor der MW in Frankfurt (1935) und Freiburg (1937) in seiner "Geschichte der deutschen Musik", Berlin 1938) Sie gewärtigte sich des Weiteren des Problems: Ist das Judentum eines musikgeschichtlich unumgänglich aufzuführenden Komponisten durch die Formulierung "der Jude Mendelssohn, der Jude Mahler" oder durch Voranstellung eines Davidsterns oder in Klammern gesetzten J`s in Text oder Register hervorzuheben?
Die Zerstörung des klassizistischen Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhause zu Leipzig im November 1936 - von jener wird noch ausführlicher die Rede sein - initiierte, einer Initialzündung entsprechend, gleichsam eine Flut Deutscher Musikgeschichten, welche das erklärte Bemühen um rassemusikalische Deutungen und Verurteilungen Felix Mendelssohns vorzunehmen trachteten. Es scheint fast - nun das Denkmal gefallen und damit ein Damm gebrochen, welcher Verunsicherte und zögernde bislang in Bann hielt -, als ob sich ein Exorzismus, ein Massenphänomen gleichsam entfesselte, der deutschen Tonkunst den bislang arrivierten, verehrten Musikjuden ein für alle Mal auszutreiben.
Im gleichen Jahre referierte der Komponist und Musikdozent Walter Trienes - er war seit 1925 Mitarbeiter des Konservatoriums in Hagen - in der Septemberausgabe des "Repetorium(s) der Musikgeschichte. Das Wichtigste aus der Musikgeschichte aller Kulturvölker in Frage und Antwort", welche in Köln erschien, über das Thema "Die Entwicklung des Judentums in der Musik seit der Emanzipation". Trienes konstruiert in diesem Beitrag das Unternehmen eines jüdischen "Vormarschs...um die Herrschaft in der Musik".
Das
Oeuvre Mendelssohns immerhin war dem Autor dabei eine "siebende und sichtende
Prüfung" wert, mit der Zielsetzung "welchen Wert wir den eigenen
Leistungen des Tonsetzers bei(zu)messen" fürderhin imstande zu sein
vermögen".
Das Resultat entsprach vollständig den Vorgaben
der von den Machthabern propagierten völkischen Ideologie: Musikalischen
Charaktermangel und musikalisches Unvermögen attestierte Trienes dem Mendelssohnschen
Schaffen und streicht erneut - die Musikwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts
paraphrasierend - die fehlende "Kraft, wirklich zu erschüttern"
hervor. Auch die Analyse anderer Meister jüdischen Glaubens oder jüdischer
Herkunft resultiert somit in Verurteilung und Diskreditierung derselben. So repräsentiere
die Grand Opera Meyerbeeers irreversibel nur "hohles Pathos", habe Mahler
sich in seinem Schaffen lediglich einer "stetigen Selbsttäuschung"
hingegeben, wenngleich trienes der Person Mahlers mehr Charakterfülle als
jener Mendelssohns zugesteht.
Trienes Darlegungen eines vermeintlichen
Phänomens unausgesetzten Bemühens um feindliche Übernahme des europäischen
Geisteserbes durch "das Judentum", sekundiert von "Stimmungsmache"
durch jüdische Pressemagnaten und eines erfolgreichen "Geschichtsbetrugs"
kulminieren schliesslich in der apokalyptisch anmutenden Gewissheit des vollendeten
Triumphes dezidiert jüdisch-kulturpessimistischer Strategien: "Der Steilabhang
führte über die "Versachlichung" und Vernüchterung, über
die Ausmerzung der Werte des Charakters, der Kriegserklärung allem Gefühlsmässigen,
der Objektivierung und Mechanisierung, über die Entfesselung von rhythmischen
Orgien zu dem absoluten Tiefstand ethischer Zersetzung...."
Trienes
Argumentationsgang zufolge war es also Mendelssohn, welcher vermittels "Versachlichung
und Vernüchterung" (leere Formverbundenheit), "Ausmerzung der Werte
des Charakters" (anämische Schöngeistigkeit), der "Kriegserklärung
allem Gefühlsmäßigen" (Aversion gegenüber dem Affekthaften,
innere Kälte) sowie Objektivierung und Mechanisierung (Unterordnung des musikalischen
Ideals unter sachfremd philosophische; formelle Konventionalität) die deutsche
Musik nachhaltig auf den Weg zum "absoluten Tiefstand ethischer Zersetzung"
brachte. Diesen sah Trienes schliesslich im Werke Kurt Weills erreicht.
Nimmt
man Trienes indes als Autor eines nationalsozialistisch-völkischen Traktates
wahr, verdeutlicht sich rasch die Affinität jener Mendelssohn-These zu den
bekannten Freigedank/ Wagnerschen Stereotypen vom seelenfremden jüdischen
Objektivierer und Kopisten deutscher Kunst.
Gleichsam im Jahre 1936 befasste sich Richard Litterscheid in der Märzausgabe der "Musik" mit der Frage nach "spezifisch jüdischem Formwillen" oder dem "Schöpfertum aus zweiter Hand", dargestellt an den Beispielen Mendelssohn und Gustav Mahler.
"So gesehen besteht kein Zweifel, dass auch Mendelssohns Schöpferkraft davor versagt hat, ganz und gar in der großen deutschen Gefühls- und Formsprache zu reden (...) Seine Werke vermögen trotz ihrer klassischen Haltung - an welchen Vorbildern auch konnten Sie sich bilden! - vor einer strengen Prüfung nicht zu bestehen
(...) Die Lieder ohne Worte, einst die bevorzugte
Hausmusik gefühlvoller Backfische, besitzen des Unechten, Sentimentalen zuviel;
sein sonst über alles gelobtes Violinkonzert rutscht in den grossen Kantilenen
immer wieder ins Gefühlsselige aus; seine "Sommernachtstraum"-Musik
bleibt (...) ohne schöpferische Stoßkraft in musikalisches Neuland
entworfen (...) in ihren Gefühlswerten unecht. Man wende nicht ein, daß
es gleichzeitig auch deutsche "Sentimentaliker" gegeben habe. (...)
Mendelssohn (...) der nicht neben sie, sondern neben Schubert und Schumann gestellt
zu werden pflegt, muss und kann nur mit diesen deutschen Meistern verglichen werden".
Nach der Definierung Mendelssohns als "Sentimentaliker", wendet sich Litterscheid der vermeintlichen Ursache solch auffälligen Sentiments zu, welche der Autor zwangsläufig im Rassenproblem erkannte. Wenig verwunderlich, daß dabei auch wieder Wagner/ Freigedanksche Thesen paraphrasiert werden.
"Dann aber enthüllt sich die wahre Seele der Mendelssohnschen Musik, nicht als die eines anderen Charakters, nein, eben als die einer anderen Rasse (...) Doch zu eigner jüdischer Musik drang Mendelssohn eben nicht vor und zur vollendeten Gestaltung im Sinne des deutschen Gastvolkes aus dessen spezifischem Gefühlsleben auch nicht. So ist die Berechtigung gegeben, trotz der relativ großen Leistung dieses Mannes davon zu sprechen, daß der Jude nicht eigenschöpferisch, jedenfalls nicht wie das deutsche Genie (...) ist, und niemals sein kann".
Im Jahre 1937 erörterte Richard Eichenauer in nationalsozialistischem
Geiste Sachgebiete wie "Musik und Rasse". Dieser Versuch akribisch vorgenommener
Definition eines Phänomens "musikalischen Judentums" auf der Grundlage
rassebiologischer Theorien, unterteilte jüdische Herkunft und Wesensart pauschal
in 2 Kategorien: ein "vorderasiatisches" und ein "orientalisches"
Judentum. In der rassistischen Interpretation der jeweiligen Lebensumstände
ordnete Eichenauer die herausragenden Persönlichkeiten jüdischer Herkunft
in der Musikgeschichte einem der genannten "Stämme" zu.
Person
und Wirken Felix Mendelssohns hingegen ordnete der Autor gar beiden genannten
"Stämmen" zu. Den Schwerpunkt jener vermeintlich semitischen Kontur
in Person und Musik Mendelssohns, die Ursache der von Eichenauer erneut paraphrasierten
Freigedank/ Wagnerschen Invektiven von "Glätte", "Kälte";
"Nachprägung" sowie einer vorgeblich seichten Emotionalität
Mendelssohnscher Kompositionen sah er aber in der spezifischen Verwurzelung in
der "vorderasiatischen" Wesensart.
"Felix Mendelssohn
Bartholdy zeigt körperlich die Züge beider Hauptrassen des Judentums,
der vorderasiatischen und der orientalischen; dazu ist gerade bei ihm der starke
Umwelteinfluss höchstgesteigerten deutschen Geisteslebens nicht zu vergessen.
Aus ihm sprechen lauter vorderasiatische Rassenzüge: Gabe der Einfühlung in fremdes Seelenleben, der gefälligen Ausnutzung bestehender Formen, ein gewisser Mangel an jenem Schwergewicht, das für nordisches Empfinden zu einem "grossen" Menschen gehört".
Der Musikforscher Ernst Bücken bekundete wiederum in "Die Musik der Nationen. Eine Musikgeschichte", welche zeitgleich in Leipzig herausgegeben wurde, dass der "Grund einer gewissen Eintönigkeit" Mendelssohnscher Musik "in der oft leierig werdenden Rhytmik (liegt), die schon H. von Waltershausen als ein fühlbar durchschlagendes rassisches Merkmal" derselben "angesprochen hat".
Bücken veröffentlichte im Nationalsozialismus des Weiteren ein Wörterbuch der Musik, Leipzig 1940, eine "Musik des 19. Jahrhunderts", eine "Musik der Deutschen" Köln 1941, welche unausgesetzt gegen avantgardistische Musik agitieren und, wenig verwunderlich, von Thesen rassistisch-antisemitischer Prägung durchsetzt sind.
Im Jahre 1939 stellte Prof. Richard Blessinger - seit 1920 als Dozent an der Münchner Akademie für Tonkunst tätig - in der Denkschrift "Judentum und Musik Ein Beitrag zur Kultur- und Rassenpolitik" Felix Mendelssohn" explizit als Initiator einer "Zerstörungsarbeit des Judentums an unserer Musik" heraus. Vornehmlichstes Anliegen des Pamphletes war es denn auch anhand "des Wirkens dreier jüdischer Musiker (...) bestimmte Etappen dieses Zerstörungswerkes" zu veranschaulichen.
Blessinger behauptet infolgedessen, dass jene "drei Männer" (...) welche "dabei gleichzeitig in klarer Weise drei jüdische Typen darstellen, die an Gefährlichkeit einander gleich, im Auftreten und in den Methoden sich deutlich voneinander unterschieden. Mendelssohn, der das Zerstörungswerk eingeleitet hat, erscheint als der Typus des sogenannten Assimilationsjuden; Meyerbeer, der mächtigste Mann der zweiten Etappe, ist der skrupellose Geschäftsjude; Mahler, der Beherrscher des dritten Stadiums, stellt den fanatischen Typus des ostdeutschen Rabbiner dar".
Dem bis in die Titelgebung des Pamphlets hinein offenkundig reflektierten Vorbilde Freigedank/ Wagner gemäss, übte Blessinger sich in der Konstruktion eines mit wissenschaftlicher Akribie aufgeführten antisemitischen Argumentationsgebäudes, welches er vermittels historischen Querverweisen anthropologisch zu untermauern trachtete. So wird die Lyrik des märkischen Dichters Theodor Fontane dazu missbraucht, die Denunziation des "Juden als Kulturparasiten" durch die Aussage einer unangezweifelten Autorität zu sanktionieren.
Blessinger geht in der Recherche seines Konstruktes tief in die deutsche Geschichte zurück. Die Aufhebung der jüdischen Ghettos habe somit die voranschreitende Infiltrierung des europäischen Geisteserbes vermittels Taktik und Tarnung bedingt. Eine massgebliche Funktion dabei erkannte Blessinger Mendelssohns Grossvater, dem Philosophen Moses Mendelssohn zu, dem es "in der Hauptsache zuzuschreiben (wäre), daß die Juden, die unter rabbinischer Führung bisher geistig in ghettoartiger Abgeschlossenheit gelebt hatten, nun aus dieser heraustraten und eine neue Taktik, die der "Assimilation", der scheinbaren Angleichung an das Leben des Wirtsvolkes anwendeten, um ihr erstrebtes Weltherrschaftsziel zu erreichen"
Blessinger geisselt dabei im Besonderen Moses Mendelssohns "vollständige Umwertung des Begriffes der Philosophie" in den "geistreichen Plauderton einer "gebildeten Konversation", welche alleinig beabsichtige "immer recht zu behalten, auch wenn der andere im recht ist".
Die Folgewirkungen dessen monierte Blessinger am Phänomen des jüdischen Salons, einer vermeintlichen Stätte subversiver Kultivierung des Degenerierens von Körper und Geist:: "Hier sehen wir ganz deutlich, worauf es den ,,Häuptern" ankam.: die Menschen bei ihren schwachen Seiten zu packen, diese Schwächen als etwas im Grunde genommen geradezu Wertvolles hinzustellen und sie dadurch innerlich zu spalten...Parasitäre Aneignung der Geschmackskultur durch die Juden" hätten somit wesentliche Bereiche grossbürgerlichen Lebens dahingehend "umgebogen", dass es einer "wirklich deutschen Romantik" nunmehr unmöglich gewesen sei "echte Tiefenwirkung" zu erreichen und "der Jude Mendelssohn" somit als "echtester musikalischer Künder (...) vielgepriesenen deutschen Gemüts" wahrgenommen wurde.
Einem Umriss nationalsozialistischer Rezeption von Person und Musik Felix Mendelssohn Bartholdys stellte Blessinger eine Analyse der "Machenschaften" durch den Funktionär Mendelssohn voran. Mit der Eloge vom "jüdischen Interesse", welches Mendelssohn angeleitet habe, knüpft er an das Verdikt des Leipziger Tagblattes von den "mosaischen Interessen" im November 1846, in Zeiten des Vormärz an und verdeutlicht somit die ungebrochene Tradition pathologisch übersteigerter deutscher Fremdenangst.
Mendelssohns Leistungen als Dirigent seien also "in Äusserlichkeiten" verblieben, hätten vielmehr "die tieferen Werte der Werke verschlechtert," Mendelssohns Musik hingegen "formalen Schematismus, (...) Mangel an wirklicher Schöpferkraft", Tonrede "ohne wirklich etwas zu sagen" demonstriert. Dabei handele es sich "in der Hauptsache (...) doch um eine Übertragung magischer Beschwörungsformeln des Orients in unseren Bereich, (...) einer Formel, die so unablässig wiederholt wird, prägt sich dem Hörer unauslöschlich ein, und will ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen". Infolgedessen habe "der Jude seinen Zweck erreicht,: seine Musik ergreift Besitz von den Menschen selbst wider deren Willen".
Wieder einmal vertieft sich ein Demagoge hier so sehr in den Gegenstand
seiner Betrachtung, dass er den Bezug zur Basis objektiver Betrachtung desselben
verlor und sich Aussagen somit in Gegensatz zur Intention des Autors stellen.
Als Verweis darauf, dass die von Blessinger angeführten Mendelssohnschen
Verführungstechniken wohl eher auf das Werk Richard Wagners zuträfen,
sei dessen These folgende Einschätzung des Wagner-Biographen Robert Gutman
entgegengestellt:
"Wagner sprach vom "unvergleichlichen Zauber"
seiner Werke - ihr stärkster Zauber war die Musik. Ein Prospero mit Buch
und Zauber-Musik, der zu herrschen suchte über eine Welt niederer Geister,
benutzte er die Musik, um die Sinne zu unterwerfen, um ein Publikum, dem er alle
Frage abgenommen hatte, zu fesseln, zu knebeln, zu belehren.
Seine Musik
zwang zum Glauben, ihre herrliche Instrumentierung geht - wie Nietzsche bemerkte
- aufs Nervensystem, sie hat die Kraft, das Rückenmark zu bezaubern und überredet
selbst noch die Eingeweide".
Auch Blessinger bemüht sich um
den Nachweis einer spezifisch rassischen Beschaffenheit in der Musik jüdischer
Komponisten. Dabei paraphrasiert er implizit die Theorien Wagner/ Freigedanks:
"Zwischen organischer Formgestaltung deutscher Art und jüdischer
Formkonstruktion besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Der schöpferische
deutsche Genius gestaltet ein Kunstwerk als Kosmos, der eine lebendige Einheit
bildet (...) und in dem jede Einzelheit trotz ihrer eigenständigen Bedeutung
in das Ganze sich einordnet.
Der Jude aber, unschöpferisch, wie er ist,
vermag nie die Einheit des Ganzen auch nur zu sehen., geschweige denn selbst zu
gestalten.
Für ihn löst sich das Ganze in einer Unmenge selbstständiger Einzelheiten auf, die höchstens durch künstliche Mittel, niemals aber organisch miteinander verbunden sind, (...) es ist im Grunde dasselbe, ob die Urheber des Talmud das "Gesetz" in eine unübersehbare Menge von Einzelvorschriften aufteilen, ob ein Moses Mendelssohn den geordneten Gang philosophischen Denkens durch geistreich sein sollende Einzelsätze stört, oder ob ein Felix Mendelssohn rein verstandesmässig aus dem Schaffensprinzip deutscher Tonmeister ein totes Formschema mechanisch herausdestilliert.
Und wenn heute noch immer Musiker und Musikfreunde es bedauern, dass ihre Lieblingskompositionen, die "Sommernachtstraum"-Ouvertüre, die Hebriden-Ouvertüre, das Violinkonzert usw. aus den Programmen verschwunden sind, so ist dem zuerst entgegenzuhalten, dass es unendlich viel bedauerlicher ist, daß hochbedeutende Werke deutscher Komponisten, wie das Schumannsche Violinkonzert, uns durch jüdische Machenschaften ganz verlorenzugehen drohten".
(Eine signifikante nationalsozialistische
Fehlinterpretation musikhistorischer Fakten: das Violinkonzert d-moll Schumanns
war von Clara Schumann, auf Anraten des jüdischen Violinvirtuosen Joseph
Joachim, postum von einer Veröffentlichung zurückgehalten worden, da
beide die hohe Qualität Schumannschen Schaffens in diesem Falle nicht mehr
gegeben sahen. Das Werk erfuhr eine propagandistisch-sensationell aufbereitete
Uraufführung im deutschen Nationalsozialismus des Jahres 1937. Der aus rein
künstlerischen Erwägungen heraus erteilte Rat des Robert und Clara Schumannfreundes
Joachim wurde also, im Hinblick auf dessen jüdische Herkunft, als einschlägiger
Beweis jener genannten "jüdischen Machenschaften" zu Lasten eines
bedeutenden deutschen Meisterwerkes; eines dezidiert vorgetragenen Anschlages
auf den Bestand der nationalen Tonkunst im Sinne rassisch-nationalsozialistischer
Propaganda missdeutet.)
Blessinger fährt fort:
"Und zum zweiten ist festzustellen, dass vor 1914 allgemein in Musikerkreisen die Musik Mendelssohns nicht mehr ernstgenommen wurde, dass man mit einem geringschätzigen Achselzucken über sie zur Tagesordnung überzugehen pflegte, und dass erst der unselige November 1918 diese Musik wieder in den Vordergrund stellte. Mendelssohn war, abgesehen von den Liedern ohne Worte in den Musikmappen der höheren Töchter und von dem Chor Wer hat Dich, Du schöner Wald vor dem ersten Weltkriege so gut wie vergessen.
Erst die Juden der Nachkriegszeit
haben versucht, ihn endgültig unsterblich zu machen. Machen wir uns ein für
alle Ml von dieser jüdischen Suggestion los, dass der Verzicht auf Mendelssohn
eine Verarmung unserer Musik bedeute".
Walter Trienes, jener Komponist, welcher der nationalsozialistischen These einer Verschwörung des Weltjudentums zur Infiltration und Vorherrschaft in der deutschen Musik bereits eigenständig publizistisch Vorschub leistete, rezensierte am 30. Januar 1939 im Westdeutschen Beobachter eine Veröffentlichung Blessingers, welche im Jahre 1938 unter dem Titel: "Mendelssohn, Meyerbeer und Mahler: drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zu Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts" in Berlin herausgegeben wurde.
Der Autor trachtete darin, die in "Musik und Rasse" erhobenen Theorien (Berlin 1938) in der Folge detailliert darzulegen und zu erhärten. Dem Geiste der eigenen Publikation und der NS-Ideologie gemäss, sekundiert Trienes dem Parteimitglied und "namhaften Münchner Wissenschaftler und Pädagogen" Blessinger bereitwillig. Das Hauptaugenmerk seiner Betrachtungen richtet Trienes somit auf den Komplex jener Verschwörungstheorien, welche auf Tendenzen jüdischer Beeinflussung, Beherrschung und Machtvervollkommnung innerhalb der deutschen Tonkunst reflektieren. Sie lassen sich in direkter Linie erneut auf das Motiv und die Argumentationsweise von Freigedank/ Wagners Traktat zurückführen.
Trienes schreibt also:
"In den drei Hauptvertretern
des Judentums in der Musik erblickt der namhafte Münchner Wissenschaftler
und Pädagoge Karl Blessinger den Schlüssel zur Musikgeschichte des 19.
Jahrhunderts. Vielleicht tut man den Juden zu viel Ehre an, wenn man ihnen für
diese erste Zeit bereits eine zentrale Stelle einräumt, die sie (...) in
Deutschland nach dem Weltkriege mehr und mehr einnehmen konnten. Ohne Zweifel
war ihre musikalische Machtposition allerdings auch in der Romantik schon weit
stärker, als es dem flüchtigen Blick infolge der geschickten Verschleierungskünste
ihrer wahren Absichten zunächst scheinen mag.
Der Verfasser enthüllt
uns eine Reihe dieser Tarnungsmanöver und deckt die heimlichen Regietricks
des Erfolgs auf, die den jüdischen Komponisten den entscheidenden Vorsprung
vor den nichtjüdischen sicherten. Mendelssohn wird ihm für diese Taktik
zu einem wichtigen Präzedenzfall. Blessinger kommt in einem besonderen Abschnitt
auf die Legende von Mendelssohns vorgeblichen Verdiensten um das Werk Bachs zurück.
(...) Aufschlußreich sind die Untersuchungen über seine Kompositionen,
über den Unterschied der Gefühlsäusserungen deutschen und jüdischen
Wesens in der Musik, den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen organischer
Formgestaltung deutscher Art und jüdischer Formkonstruktion und nicht zuletzt
die Herkunft seiner besten melodischen Einfälle.
23.
Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen
Der Generalsekretär des Salzburger Mozarteums Erich Valentin veröffentlichte im Jahre 1940 ein Musiklesebuch mit dem Titel "Ewig klingende Weise. Von deutscher Musik" (Regensburg). Der Verfasser lässt darin den gebotenen Anspruch objektiv musikalischer Betrachtungen vermissen und befleissigt sich vielmehr einer subaltern anderen Autoren nachempfundenen antisemitischen Attitüde. Er beklagt somit, der Jude habe den schwer um den Erfolg arbeitenden Deutschen stets um die Früchte seiner Arbeit zu berauben verstanden.
Daher habe auch der Komponist Felix
Mendelssohn - "Der Fremdling" - , wie die nachfolgend wiedergegebenen
Ausführungen Valentins denn auch überschrieben sind, mit leichter Hand
lediglich geerntet, was Heroen der Deutschen Musik wie Bach oder Mozart einst
mühsam gesät:
"In der Maske des Bettlers war er gekommen.
Nun betrat er geltungsheischend die Stufen von Theater und Konzertsaal, um über
sie zu den Stufen der Throne zu gelangen. (...) Das Zepter der musik ergriff einer,
dem das Kämpfertum wie allen seines Blutes, die nach ihm kamen, erspart blieb:
Felix Mendelssohn Bartholdy, der Bankierssohn, dem sich Ruhm, Glück, Erfolg
und Macht zuwandten. Alles, alles wurde ihm zugesprochen, selbst das verdienst
der Erweckung Johann Sebastian Bachs. (...) In mehr als einem Jahrtausend gewachsenes
sollte in die Hände des ungerufenen Fremdlings gegeben werden. An die Wurzeln
des kraftstrotzenden Baumes wurde die Axt angelegt.(...) Judentum, hiess der Fremdling.
(...) Weltbürgertum und Judentum - zwei Namen für den selben Begriff
- befleckten die Unantastbarkeit der ewig klingenden Weise. Der Kampf der hundert
Jahre nahm seinen Anfang."
Der Publizist Otto Schumann, (auf ihn soll aus gegebenem Anlass erst anlässlich einer seiner Nachkriegspublikationen detailliert eingegangen werden), veröffentlichte im Nationalsozialismus u. a. eine "Geschichte der Deutschen Musik" (bibliographisches Institut, Leipzig 1940) und "Meeres Opernbuch" (ebenda, 1935).
Die verfestigte
völkische Gesinnung Schumanns offenbart sich bereits im Vorwort der "Geschichte
der Deutschen Musik":
"Musik gilt dem Verfasser nicht als "tönend
bewegte Form", sondern als tönender Ausdruck eines geistigen Leitbildes.
Eine deutsche Musikgeschichte hat sich somit zu beschäftigen mit der Frage,
in welcher Weise die deutsche Tonübung im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende
das geistige Leitbild der deutschen Volkheit verwirklicht hat. Es muss also der
Versuch gemacht werden, nicht nur die Form, sondern vor allem auch den Inhalt
musikalischer Schöpfungen darzustellen.(...) Die Mittel dazu liefern uns
die neuzeitliche Ausdruckskunde und Rassenkunde. Während nun der Verfasser
das Ausdruckskundliche (...) mit gebotener Behutsamkeit eingearbeitet hat, wurde
im geschichtlichen Ablauf grösster Nachdruck auf das rassische Grundwesen
der deutschen Tonübung gelegt.
Die Beschäftigung mit rassekundlichen
Fragen ist (...) für den Verfasser zwangsläufig aus der Beschäftigung
mit der Tonkunst hervorgegangen: als sich auf Fragen, warum die Tonkunst bestimmter
Zeitalter (...) so und nicht anders geartet sei (...) keine befriedigende Antwort
mehr einstellte, wurde die (...) Rassenkunde herangezogen (...) Und wenn auch
das vorliegende Buch keine Rassegeschichte der deutschen Musik ist, (...) so ist
es doch eine deutsche Musikgeschichte auf rassekundlicher Grundlage."
Obgleich der Autor eine "zwangsläufig" aus "der Beschäftigung mit der Tonkunst" hervorgegangene, ihm also vom Sujet schlüssig vorgegebene Erörterung amusikalisch "rassekundlicher Fragen" beteuert, hat er in Wahrheit - neben Erich Valentin - erneut ein Werk vorgelegt, welches die "rassekundliche" Belange bereitwillig über jene der Musik stellte.
Dass
das Sujet Mendelssohn unter diesen Voraussetzungen nurmehr in zersetzender Weise
zur Erörterung kommen konnte, wenngleich es nicht totgeschwiegen wurde, wie
es im Opus Müller-Blattaus geschah, verwundert kaum. Im Kapitel "Beginnender
Einfluß des Judentums" erörtert Schumann zu Beginn den "Einbruch"
des "Judenproblems in die deutsche Musikgeschichte" in der " ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts" im Allgemeinen:
"Nach der
sogenannten Judenbefreiung tauchten sogleich in vielen künstlerischen (...)
Tätigkeitsbereichen jüdische Menschen auf, denen es gelang, in erstaunlich
kurzer Zeit erheblichen Einfluss auf das deutsche Geistesleben zu gewinnen. Namen
wie der des Popularphilosophen Moses Mendelssohn, der Schriftsteller Heine und
Börne, von Rahel Varnhagen und Henriette Herz, in deren "Salons"
die geistige Welt Berlins sich ein Stelldichein gab, kennzeichnen zur Genüge
den Einbruch jüdischen Wesens in die deutsche Welt."
Traditionsgemäss
greift der Autor wiederum auf zentrales Freigedank/ Wagnersches Gedankengut zurück;
der These vom Trieb jüdisch-deutschen Amalgamierens.
Thesen wie jene
hatten sich vermittels unausgesetzter unreflektierter Paraphrasierung zu diesem
Zeitpunkt offenkundig längst zu Klischee und Stereotyp vergröbert. Dennoch
erweist sich die grundlegende Bedeutung Freigedank/ Wagnerschen Denkens, die Rezeption
und Folgewirkung seiner von rassebiologischen Obsessionen durchprägten Kulturtheorien,
gleichsam in Vorlage, Verkündigung und posthumer Vollendung des Konzeptes
eines deutschen Radikalantisemitismus an diesem Beispiel eindeutig. Lesen wir
zuerst den Adepten des Jahres 1940:
"Erleichtert wurde ihnen das durch
die erstaunliche Fähigkeit des Juden (...) sich geschmeidig und schnell der
besonderen Artung des Volkes anzupassen, bei dem er lebt. Rechnet man dazu die
formale Gewandtheit des Juden, seine oft verblüffend wirkende zerglidernde
(...zersetzende) Denkweise und die Fähigkeit, nicht zusammengehörendes
zu einer Schein-Einheit zusammenzudenken, so begreift man, warum der Einfluss
jüdischen Wesens sich gerade während der Romantik, dem Zeitalter rassischer
Auflösung, so mächtig durchsetzen konnte".
Und nun
das Demagogenwort Freigedank/ Wagners aus dem Jahre 1850, welches sowohl jene
aktuell genannten, als auch im weiteren Verlaufe wiedergegebenen Aussagen Schumanns
bis ins kleinste Detail vorwegnimmt:
"Von nun an tritt also der "gebildete Jude" in unsrer Gesellschaft auf. (...) Der gebildete Jude hat sich die undenklichste Mühe gegeben, alle auffälligen Merkmale seiner niederen Glaubensgenossen von sich abzustreifen: in vielen Fällen hat er es selbst für zweckmässig gehalten, durch die christliche Taufe auf die Verwischung aller Spuren seiner Abkunft hinzuwirken. (...) Von dieser Gemeinsamkeit der Natur, (...) dem Zusammenhange mit seinem Stamme gänzlich herausgerissen, konnte dem vornehmeren Juden seine eigene erle4rnte und bezahlte Bildung nur als Luxus gelten . (...) Ein Teil dieser Bildung waren nun aber auch unsre modernen Künste geworden, (...) namentlich diejenige (...), die sich am leichtesten eben erlernen lässt, die "Musik" (...)
Was der gebildete Jude...auszusprechen hatte, wenn er künstlerisch
sich kundgeben wollte, konnte natürlich eben nur das Gleichgültige und
Triviale sein (...), unwillkürlich horcht er auf unser Kunstwesen (...) nur
ganz oberflächlich hin, (...) ihm wird daher die gefälligste Äusserlichkeit
der Erscheinungen auf unsrem musikalischen Lebens- und Kunstgebiete als deren
Wesen gelten müssen. (...) So wirft der jüdische Musiker auch die verschiedensten
Formen und Stilarten aller Meister und Zeiten durcheinander. (...)
Die Zerflossenheit
(...) unseres musikalischen Stiles ist durch Mendelssohns Bemühen, einen
unklaren, fast nichtigen Inhalt so interessant und geistblendend wie möglich
auszusprechen (...) auf die höchste Spitze gesteigert worden." (...)
Es ist zwecklos, den Aufwand künstlerischer Mittel zu beschreiben, deren
er (Meyerbeer, Anm. d. V.) sich bediente,(...) genug, daß er es (...) vollkommen
verstand, zu täuschen, (...) namentlich damit, daß er jenen (...) Jargon
(...) als modern pikante Aussprache aller Trivialitäten aufheftete"
(...)
So lange die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfnis in sich hatte, bis auf die Zeiten Mozarts und Beethovens, fand sich nirgends ein jüdischer Komponist: unmöglich konnte ein diesem Lebensorganismus gänzlich fremdes Element an den Bildungen dieses Lebens teilnehmen. Erst wenn der innere Tod eines Körpers offenbar wird, gewinnen (...) ausserhalb liegende Elemente die Kraft sich seiner zu bemächtigen, (...) um ihn zu zersetzen; dann löst sich...das Fleisch dieses Körpers in wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf. (...) Der Geist (...) floh von diesem Körper hinweg zu ( ..) Verwandtem, und dieses ist nur das Leben selbst: nur im wirklichen Leben können wir auch den Geist der Kunst wiederfinden, nicht bei Ihrer würmer-zerfressenen Leiche."
Von solcher Lehre
durchdrungen wendet sich Schumann nunmehr Felix Mendelssohn zu:
"Felix
Mendelssohn...galt eine Zeitlang als "die" Leuchte romantischen Musikschaffens
in Deutschland. (...) Nun wird niemand das ausserordentliche Können Mendelssohns
bezweifeln. (...) Aber dieses formsichere Bewegen, die glatte Problemlosigkeit,
dieses schmiegsame Anpassen an Deutsches erscheinen uns verderblicher als die
rücksichtslose Selbstbehauptung des "atonalen Mißtöners"
Arnold Schönberg, der ja gleichfalls Jude ist. (...)
Wie immer
war das süsse Gift gefährlicher als das bittere: Mendelssohns süßliche
Schönmusik schmeichelte sich (...) in Ohr und Herz, (...) und so liess man
sich in einen Dornröschenschlaf singen und ist mancherorts (...) ein wenig
ungehalten, daß der weckende Prinz mit den Dornen und Spinnweben auch die
Röslein zerhauen hat.
Die fast ein Jahrhundert währende Mendelssohn-Schwärmerei
ist um so unbegreiflicher, als zu allen Zeiten Männer aufstanden, (...) denen
seine Musik allzu glatt erschien. (...) Der Fehler lag wohl darin, daß man
sich mit der Feststellung des "Allzu-Glatten" zufriedengab, (...) nicht
weiter forschte, welche Rückschlüsse sich daraus ziehen lassen. Hätte
Mendelssohn eine Musik geschrieben, die seiner rasseseelischen Beschaffenheit
entsprach, dann könnte sich vielleicht das Judentum eines grossen Komponisten
rühmen Da er aber solchen echten Stil nicht aufzubringen vermochte, erschöpfte
er sich in Nachbildung deutscher Eigentümlichkeiten.
Diese wiederum konnte er aus rassischen Ursachen nicht von innen erfassen. (...) So erklärt sich das bloß Gefällige seiner Musik, ihre fliessende Glätte und mangelnde Tiefenwurzelung (...) Mendelssohn erschaute die künstlerischen Fragen seiner Zeit mit wachem Verstand und kühlem Herzen; das konnte er, weil sie ihn als Fremdrassigen im Grunde nicht bewegten. (...) Da sein Geschmack ohne Zweifel geläutert war, gelangen ihm Werke, deren glatte, gefeilte Aussenseite ihm zu Unrecht den namen eines deutschen Meisters eingetragen haben."
Werfen
wir noch einen Seitenblick auf die Schumannsche Betrachtung der Komponisten Giacomo
Meyerbeer und Jaques Offenbach sowie auf dessen Bestreben, der Freigedank/ Wagnerschen
Prämisse vollgültig zu entsprechen:
"Als Gegenstück
zu ihm schrieb der Jude Meyerbeer bald in deutschem, bald in französischem
und bald in italienischem Stil, mischte auch wohl die drei Stilarten durcheinander.
(...) Wer (...) so haltlos auf die Ausdrucksweise verschiedener Nationen schaut,
ohne seinen eigenen, geschweige denn den Stil seiner Rasse zu finden, der mag
wohl vorübergehend als theaterdonnernder Zeus angehimmelt werden (...) Mendelssohns
wohlerwogene Beschränkung auf das Nachempfinden und Nachahmen eines volkischen
(des deutschen) Stils hatte immerhin zur Folge, daß sein Werk länger
zu wirken vermochte. (...) Meyerbeers Verzettelung auf die Nachahmung mehrerer
Volksstile hat ihn schneller gerichtet. (...)
Der in Deutschland geborene
Offenbach aber meisterte musikalisch den französischen Witz wie ein Pariser
aus Paris. Wiederum also diese fast unheimliche Einfühlungsgabe des Juden
bei gleichzeitiger Preisgabe jeglichen rassischen Eigenstils"
Am Ende des Kapitels steht Schumanns Bemühen, den Volksgenossen in nahezu beschwörendem Tonfall darzulegen, warum eine Musik, die erklärtermassen "schön" ist, keineswegs "schön" sein darf. Dabei setzt er wie etliche Vorläufer das Element umfassend gepflogener Spekulation gegen die Anforderungen von Objektivität, Stichhaltigkeit, wissenschaftlicher Erkenntnis.
Das vielschichtig
konstruierte, sprachlich gedrechselt und gewundene Freigedank/ Wagnersche Thesengebäude
erfährt durch die Ausführungen des Adepten respektive die dabei nahezu
eins zu eins vorgenommene Übertragung einer musikalischen "Problemstellung"
in eine rein völkische denkbar grösste Banalisierung in Form und Inhalt.
Die Definition, welche Art von Musik ein rassisch "echter" Stil Mendelssohns
oder "rassischer Eigenstil" möglicherweise hervorgebracht hätte,
bleibt der Autor hingegen vollends schuldig.
"Ein rassisch gesundes
und (...) rassebewusstes Volk würde Erscheinungen wie Mendelssohn, Meyerbeer
und Offenbach (...) ohne besondere Gefahren ertragen können. (...) Aber das
19. Jahrhundert war eben ein Zeitalter rassischen Verfalls, in dem die natürlichen
Widerstandskräfte erlahmten. (...) Die aus seiner Anpassungsfähigkeit
entspringende Begabung des Juden, beachtenswerte nachschaffende Leistungen hervorzubringen,
wurde (...) als Beweis für musikalische Kultur betrachtet. (...) Wohin das
geführt hat, ist bekannt: das Judentum in Deutschland hat nicht eine einzige
musikalisch-schöpferische Persönlichkeit hervorgebracht, wohl aber den
"Betrieb" mit Dirigenten, Sängern und Spielern weitgehend beherrscht
und entdeutscht.
Das muss gerade denjenigen vor Augen gehalten werden, die auch heute noch eine Ehrenrettung Mendelssohns und seiner Musik versuchen. Nicht darauf allein kommt es an, ob jemand die Töne kunstvoll und liebenswürdig zu setzen weiss (das verstand Mendelssohn wirklich), sondern auf den Geist und die Haltung seines Werkes. Sie erst machen das Wesen eines Kunstwerks aus. (...) Wollte ein deutscher, italienischer oder französischer Musiker von Rang hingehen und ausschliesslich "im jüdischen Stil" komponieren, so würde er sich bei seinen Volksgenossen lächerlich und verächtlich machen. Mit dem gleichen Recht betrachten wir den Juden, der sich in der Nachahmung anderer erschöpft, als lächerlich, verächtlich - und gefährlich. Auch Mendelssohn."
Karl Blessingers "Judentum und Musik" erfuhr im Jahre 1944, in Zeiten kontinuierlich erfolgenden militärischen Rückschlags der Deutschen Wehrmacht auf nahezu allen Kriegsschauplätzen und regulären Bombenterrors gegen Deutsche Städte, eine inhaltlich erweiterte Wiederauflage und erreichte somit eine Gesamtzahl von 24 000 Exemplaren. Das beweist, allen nach 1945 erfolgten Beteuerungen vermeintlich kollektiver Unwissenheit von Rassenwahn und Pogrom zum Trotze, den auch gegen Kriegsende anhaltenden Bedarf an ideologischem und "rassekundlichem" Schrifttum, die unausgesetzte Aufnahmebereitschaft für einschlägige Indoktrination.
Der Rezensent Erwin Völsing hebt in der Zeitschrift "Musik im Kriege" denn auch wohlwollend hervor, dass das "wohltuend klar und stets fesselnd geschriebene Buch (...) neue wichtige Erkenntnisse und höchst aufschlussreiche Ergebnisse historischer Forschung" vermittle. Blessingers Thesen konform streicht auch der Rezensent einen lobbyistisch herbeigeführten, zersetzenden Einfluss des "jüdischen" Klassikers Mendelssohn demagogisch hervor:
"Wie gefährlich die vom Judentum mit allen Mitteln einer geschäftstüchtigen Reklame herbeigeführte angesehene Stellung Mendelssohns sich auswirken konnte, ist uns heute eindeutig klar geworden. (...)
Hatte sich Mendelssohn als Kapellmeister fast ständig am Geist der Deutschen Musik vergangen, (...) so war auch sein kompositorisches Können von den Juden und einer "kraftlos gewordenen deutschen Bürgerlichkeit" masslos übertrieben eingeschätzt worden".
Im gleichen Jahre
des totalen Krieges 1944 veröffentlichte der als Musikreferent des Stiftes
St. Ingbert im Saarland tätige Musikologe Albert Georg Niklaus die Studie
"Liszt - Schumann - Mendelssohn" im Hahnefeld Verlag in Berlin, welcher
auch Blessingers "Judentum und Musik" herausbrachte. Da die Studie in
der gleichen Edition kulturtheoretischer Betrachtungen erschien wie Blessingers
"Judentum", jenes inhaltlich in Behandlung vermeintlicher semitischer
Infiltration Robert Schumanns und biedermeierlichen Musiklebens gar vertiefte,
wurde sie der Leserschaft in einer Anzeige mit folgenden Worten angekündigt:
"Niklaus zeigt treffend die jüdische Einflussnahme auf das Deutsche
Musikleben am Beispiel der Geschichte der "Neudeutschen Schule" und
des Liszt-Wagner-Kreises. Dieses bewegte Kapitel deutscher Musikgeschichte ist
ein weiterer Baustein zu der von Blessinger begonnenen Forschungsarbeit zum Thema
Judentum und Musik."
Intermezzo
IV:
Die "Hohe Schule" I: kulturelle Neuordnung - nicht nur für
Europa, sondern für die Welt
Im Jahre 1940 wurde der konzeptionellen
Grundstein zur Errichtung eines gigantischen Projektes nationalsozialistischer
Bildungspolitik gelegt, dessen Struktur und Systematik unmittelbar auf "Führerbefehle"
(FB) Adolf Hitlers zurückgingen. Mit der Umsetzung war Rosenberg beauftragt,
der sich seit dem Jahre 1937 mit Vorbereitungen des Projektes getragen hatte Die
sogenannte "Hohe Schule" sollte, Rosenberg zufolge, "die Spitze
der gesamten Erziehungsarbeit für die NSDAP (...) bilden, praktisch somit
eine geistige Erziehungs- und Lenkungszentrale für das ganze Deutsche Volk"
sein.
Neben der Errichtung einer Zentralbibliothek aller in Deutschland
und Europa konfiszierten Schriften "weltanschaulicher Gegner", beinhaltete
das Projekt vor allem die Gründung übergeordneter Institute und Fachbereiche
der parteikonformen akademischen Elite. Die Niederlassungen der Institute sollten
sich ursprünglich über das gesamte Reichsgebiet erstrecken. Aufgabe
derselben war einzig die ideologische Komprimierung und Transformation europäischen
Wissens hin zur Überhöhung einer rassisch-hybriden, alleingültigen
sozialdarwinistisch-faschistischen Überzeugung und Lehre. Die Bibliothek
wurde zu Beginn des Jahres 1939 in Berlin gegründet, das Zentralinstitut
sollte in einem monumentalen Neubau im Chiemgau angesiedelt werden; des weiteren
Fachbereiche und Dependencen in namhaften deutschen Städten. Wesentlichstes
Anliegen der Führerbefehle war die Errichtung eines Institutes zur Abhandlung
der Jüdischen Frage.
Es erstand im März des Jahres 1941 als erste Fachschaft der Hohen Schule in der Stadt Frankfurt am Main. Ein "Führerbefehl" (FB) vom 2. April wies Rosenberg zur Ausweitung der hiesigen "Fachbibliothek der Judenfrage", "errichtet "nicht nur für Europa, sondern für die Welt", an.
Dem Befehl zufolge, sei "das Material,
(...) unerwartet viel Material", * welches der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg
(ERR) Juden und freikonfessionellen Vereinigungen besiegter europäischer
Länder fortwährend raubte, "zu Forschungszwecken", hinsichtlich
einer "weltanschaulichen, politischen und kulturellen Neuordnung Europas
nach Kriegsende" (FB v. 2.4.1940) sämtlich der Hohen Schule zuzuleiten.
(zitiert nach de Vriess, dessen Buch "Sonderstab Musik" die Informationen
zur Hohen Schule entnommen sind)
Da die "Hohe Schule" hierarchisch
in "Kerngebiete" (Biologie, Anthropologie, Rassenlehre, indogermanische
Geistesgeschichte, Erforschung der Judenfrage, Theologie etc.) und "Randgebiete"
(Philosophie, Bildende Kunst, Ostforschung, Erziehungswissenschaft, Geschichte,
Theater etc.) untergliedert wurde, kam es erst im April des Jahres 1943 zur Institutionalisierung
eines Fachbereiches der "Hohen Schule" in der Kategorie 8 mit dem Titel
" Schule Sachgebiet Musik." Die Niederlassung erfolgte im Gebäude
der ehemaligen höheren israelitischen Schule in Leipzig, die Institutsleitung
hatte Dr. Phil. Habel. Herbert Gerigk inne. In einem Schreiben an den Magistrat
Leipzigs berief sich Rosenberg dezidiert auf "den traditionsreichen Ruf,
gerade auf musikalischem Gebiete".
Ein Ruf, der sich ja, wie man seinerzeit
im Amte Rosenberg und in der Stadt Leipzig längst ignorierte oder vergass,
in dezidierter Ausprägung und Vollendung seinerzeit ja dem Wirken als jenem
Mendelssohn Bartholdys zu verdanken war.
24.
Das Lexikon der Juden in der Musik
Im Jahre 1940 beauftragte
die "Hohe Schule" in der Person des Amtsleiters Alfred Rosenberg die
"Hauptstelle Musik" der DBFU Alfreds Rosenbergs (Dienststelle des Beauftragten
des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen
Schulung und Erziehung der NSDAP) mit der Realisierung eines Buch- und Rasseprojektes;
einer Enzyklopädie musikalischen Judentums.
Infolgedessen legte
ein Team promovierter Musikwissenschaftler (Wolfgang Boetticher, Dr. Marlise Hansemann,
Dr. Herrmann Killer, Dr. Lily Vietig-Michaelis, Teophil Stengl) noch im gleichen
Jahre das "Lexikon der Juden in der Musik - Mit einem Titelverzeichnis jüdischer
Werke" vor. Als Supervisor und Herausgeber fungierte der Leiter der Hauptstelle
Musik sowie des Amtes Musik im Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) als auch
des Sachbereichs Musik der späteren "Hohen Schule" in Leipzig,
Dr. Phil. Habil. Heinz Gerigk.
(Die Aktivitäten und Wirkungsbereiche der genannten Institutionen lassen sich oftmals kaum voneinander trennen, da es sich ja stets um den Arbeitsstab Gerigk handelte)
Die Publikation firmierte als Band 2 der "Veröffentlichungen des Institutes der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage (IEJ)" in Frankfurt, dem erwähnten Gründungsinstitut der Hohen Schule. Allein das von Gerigk verfasste Vorwort liest sich wie eine Bekenntnisschrift pathologischen Rassenwahns. So war die "Reinigung unseres Kultur- und (...) Musiklebens von allen jüdischen Elementen (nunmehr) erfolgt."
Da "von unserer Seite ja nicht eine Verewigung der jüdischen Erzeugnisse geliefert werden" sollte, verzichtet das Lexikon folgerichtig "auf Werkverzeichnisse und erschöpfende bibliographische Angaben". Da "die berühmtesten Sängerinnen für die jüdische Rasse" widerrechtlich beansprucht würden, liessen "die Namensänderungen und die Gepflogenheiten vieler Juden, (...) die vorgeschriebene polizeiliche Meldepflicht nicht zu vollziehen", die Bemühungen "zu überprüfen" bis "an die Schwelle der Gegenwart (...) langwierig werden."
Das Lexikon listet in dem sich über 2 Seiten hin erstreckenden (selbstverständlich mit Bindestrich versehenen) "Felix Mendelssohn-Bartholdy"-Eintrag den einschlägig vertrauten, im Tonfall lediglich nochmals verschärft vorgebrachten Katalog stereotyper Mendelssohndiffamierungen auf. Ferner halten spezifisch neuwertige Absurditäten; pure Behauptungen, Umkehrungen historisch verbürgter Tatsachen aufgrund verfälschter authentischer Dokumente Einzug in denselben. Ohne das die Ausführungen einem einzelnen Mitarbeiter durch Namensnennung oder Sigle zuzuordnen wäre, ist im einzelnen u. a. zu lesen, das Felix Mendelssohn "bekanntlich einer reichen jüdischen Bankiersfamilie entstammte, (...) der "Mendelssohnkultus bereits zu Lebzeiten von einer grossen Zahl von Rassegenossen entfacht wurde, (...) die Lieder ohne Worte (...) die deutsche Romantik, die in ihren Anfängen eine starke Hinneigung zum Volkstum und (...) deutscher Innerlichkeit gezeigt hatte (...) verwässert(en)." Der Beitrag zitiert ausführlich aus Freigedank/ Wagners "Judenthum" und verweist auf die (verfälschten) Tagebuchaufzeichnungen Robert Schumanns, von denen anschliessend noch die Rede sein wird.
Bemerkenswert ist darüberhinaus ein Konstrukt, gebildet aus Originalzitaten Carl Friedrich Zelters und geschichtsfälschenden Rückverweisen auf das Wirken der Berliner Singakademie Zelters, welches Felix Mendelssohn jedweden Verdienst um die Neubewertung der "Matthäus-Passion" abspricht.
Es heisst dort also:
"Daß der Verdienst dieser wegweisenden Bachaufführung M. gebühre, der wohl als einziger die wahre Grösse des Barockmeisters begriffen habe, ist eine Verfälschung geschichtlicher Tatsachen. (...) Aus den Darstellungen Alfred Morgenroths und Georg Schünemanns geht einwandfrei hervor, daß das Verdienst um das Zustandekommen dieser Aufführung fast ausschliesslich Karl Friedrich Zelter gebührt , der (...) die (...) Singakadamie (...) zu einer in ihrer Art damals einzig dastehenden Stätte der Bachpflege (gemacht hatte. So (...) erhielt (...) Mendelssohn durch die Teilnahme an den Proben die entscheidenden Anregungen. So konnte er ohne viel eigenes Zutun an die Aufführung der Matthäuspassion gehen, zumal Zelter die hierzu erforderlichen Proben meist selbst leitete und ausserdem seinem Schüler dirigiertechnische Anweisungen gab. Hierüber schrieb (Zelter) an Goethe 1829: "Felix hat die Musik unter mir eingeübt und wird sie dirigieren, wozu ich ihm meinen Stuhl überlasse".
Gerigk,
dem es bereits vor seiner Ernennung zum NS-Funktionär niemals gelang, eine
akademische Berufung zu erlangen, blieb - nachdem er sich als Dienststellenleiter
des III. Reiches exponiert hatte - eine akademische Karriere auch nach 1945 versagt.
Einer Tätigkeit als Musikfeuilletonist der Dortmunder Ruhr Nachrichten
stand indessen nichts entgegen. Auch nicht der Umstand, nunmehr Musik rezensieren
zu müssen, welche er wenig zuvor als "zersetzend", "jüdisch,
"kulturbolschewistisch" apostrophierte; ja beruflich mit Musikern zusammenzutreffen,
welche er zuvor zur "schnellsten Ausmerzung (...) aus unserem Kultur- und
Geistesleben" freigegeben hatte.
25.
...das Benehmen Mendelssohns, daß er als Director angesehen werden wolle
Der junge Musikwissenschaftler Wolfgang Boetticher, der im Jahre 1941 an der Universität Berlin mit einer Arbeit über Robert Schumann promovierte, betätigte sich in den Jahren 1940 und 42 als Herausgeber von Schumanns Tagebuchaufzeichnungen und Briefen und Co-Autor des 1940 herausgegebenen "Lexikon der Juden in der Musik - Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke." Bestärkt von wohlwollenden Beurteilungen seines Vorgesetzten in der "Hauptstelle Musik" der DBFU Alfreds Rosenbergs, Heinz Gerigk: war er "seit 1.12.1937 als Referent in der Hauptstelle Musik tätig und (...) hat sich in dieser Zeit stets als ein ausgezeichneter Sachkenner und als instinktsicherer Nationalsozialist bewährt. (...) Wie mir berichtet worden ist, hat Boetticher den gesamten Umkreis der Robert Schumann-Forschung unter Berücksichtigung unserer weltanschaulichen Haltung durchgearbeitet, und ist (...) zu wertvollen Ergebnissen gelangt, die das Schumann-Bild (...) neu gestalten." (29.3.1940; zit. nach de Vriess, "Sonderstab Musik")
Was verhalf dem jungen Wissenschaftler zu diesen, von Gerigk so wohlwollend hervorgehobenen, gleichsam unverhofft erbrachten "wertvollen Ergebnissen" und der "Neugestaltung des Schumann-Bildes", welche zur Vervollkommnung der "weltanschaulichen Haltung" des Nationalsozialismus so trefflich geeignet schienen?
Boetticher
verfälschte Schumanns Tagebucheintragungen, Erinnerungen und Briefe an Felix
Mendelssohn Bartholdy durch Hinzufügung oder Unterlassung einzelner Worte
oder Sätze und verlieh ihnen somit einen Tonfall antisemitisch-motivierten
Vorbehaltes Schumanns gegen den Freund und Musikerkollegen Felix Mendelssohn.
Zur Veranschaulichung dessen folgende Gegenüberstellung eines authentischen
sowie von Boetticher manipulierten Zitates. Robert Schumanns Autograph: "Seine
(Mendelssohns) Gedanken üb(er) das Conservatorium, daß er namentlich
den Musikern auch einen Verdienst zuweisen wollte", "Gründung des
Conservatoriums und sein Benehmen dabei, daß er nie als Direktor angesehen
werden wollte."
Von diesem Zitat verbleibt in der Publikation Boettichers
von 1940/42: (...) "Gründung des Conservatoriums und sein Benehmen dabei,
daß er (...) als Direktor angesehen werden wolle."
Erst der
Rückgriff auf die im Jahre 1947 anläßlich des 100. Todestags Mendelssohns
vom Robert Schumann-Archiv in Zwickau zur Verfügung gestellten Autographen
vermochte es, die von Gerigk, Boetticher und Dr. Lila Vietig-Michaelis lancierte
Erkenntnis nachhaltig aufzuheben:
"Auch Robert Schumann zählte
keineswegs zu den bedingungslosen Bewunderern (...), wie lange geglaubt wurde.
Aus den (...) erstmalig veröffentlichten Notizen (...) und Briefen geht deutlich
hervor, daß Schumann von Anfang an der Erscheinung Mendelssohns kritisch
gegenübergetreten ist". ("Lexikon der Juden in der Musik")
Boetticher
diente dem Nationalsozialismus auch als Mitarbeiter des Sonderstabs Musik des
Amtes Rosenberg zu systematischer Erfassung und Konfiszierung der kulturellen
Hinterlassenschaften geflohener oder ermordeter Juden in besetzten Gebieten und
Mitglied der Waffen-SS. Dennoch machte er nach 1945 als Musikwissenschaftler und
Publizist hochrangig Karriere in den Positionen: Dozent, Professor und Dekan der
Universität Göttingen (1955/57/72), Gastdozent an den Universitäten
Cambridge und Oxford (1952-72), Kurator der Staatl. Hochschule f. Musik Hannover
(1958), Gastdozent an der Karls-Universität Prag (1963). Daneben erhielt
er die Möglichkeit zu folgenden Veröffentlichungen: Gesamtausgabe der
Klavierwerke Robert Schumanns/ Henle Verlag München, Essays, Zeitschriftenartikel,
Beiträge in Handbüchern und Enzyklopädien, Nachrufe etc. Boetticher
arbeitete nach seiner Emiritierung weiterhin als Hochschullehrer und musikwissenschaftliche
Kapazität an der Universität Göttingen, bis im Jahre 1999 wachsende
Aufarbeitung seines Wirkens im III. Reich auf internationaler Ebene die Suspendierung
von aller Lehrtätigkeit erwirkte.
Intermezzo
V:
Juden bleiben Juden. Oder: Von den Ehetagebüchern des Robert Schumann
Als Glücksfall anzusehen ist es angesichts jener Umtriebe, daß in den 40ziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Schumann-Forschung offensichtlich noch nicht alle schriftliche Hinterlassenschaften des Musikerehepaares Clara und Robert Schumann zur Edition und Auswertung zur Verfügung standen. Wie hätten nationalsozialistische Funktionäre der Hauptstelle Musik wie Gerigk und Boettcher triumphiert, wenn sie anlässlich ihrer Publikationen, auf authentische, unverfälschte Aussagen Schumanns hätten zurückgreifen können, welche den Komponisten als offenkundigen Antisemiten und Mendelssohngegner zu bezeugen geeignet wären. Die Musik- und Frauenwissenschaftlerin Beatrix Borchard zitiert in ihrer im Jahre 1985 veröffentlichten Studie "Robert Schumann und Clara Wieck - Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" eine Passage aus den Ehetagebüchern, welche bis dahin unveröffentlicht geblieben war und ein zeitweiliges tiefes Zerwürfnis zwischen dem Künstlerehepaar dokumentiert, in welches Felix Mendelssohn mental einbezogen wurde:
"Clara sagte mir, daß ich gegen Mendelssohn verändert schiene, gegen ihn als Künstler gewiß nicht - das weißtest Du - hab` ich doch seit vielen Jahren so viel zu seiner Erhebung beigetragen, wie kaum ein Anderer. Indeß - vergessen wir uns selbst nicht zu sehr dabei. Juden bleiben Juden; erst setzen sie sich zehnmal, dann kömmt der Christ. Die Steine, die wir zu ihrem Ruhmestempel mit aufgefahren, gebrauchen sie dann gelegentlich, um auf uns damit zu werfen. Also nicht zuviel, ist meine Meinung. Wir müssen auch für uns thun und arbeiten. Vor allem laß uns nur immer dem Schönen und Wahren in der Kunst nahekommen" (Robert Schumann, Ehetagebücher, 8.-15.11.1840, Autograph)
Vor
welchem Hintergrund müssen diese beschämenden, unverhohlen die antisemitische
Vorurteile dieser Zeit reflektierenden Äusserungen rezipiert werden? Obgleich
man Robert Schumann als Herausgeber der NZfM stets einen latenten, auf Besprechungen
des Meyerbeerschen Opernschaffens abzielenden Verbalantisemitismus nachsagt, lagen
ihm radikalantisemitische Positionen - jenen der Jungdeutschen Bewegung vergleichbar
- denkbar fern. Über jeden Zweifel erhaben waren die privat und beruflich
gepflegten Beziehungen der Familie Schumann zu dem Komponisten, Musiker und Musikfunktionär
Felix Mendelssohn, wie die in den Jahren 1835 - 47 im Tonfall einer nachgeradezu
hymnischen Verehrung niedergeschriebenen Gedenknotizen Schumanns eindeutig belegen.
(Vergl. dazu Arnd Richter, Mendelssohn - Leben, Werke, Dokumente, Piper - Schott
1994, s. 313-17) Die Behauptung, er, Robert Schumann, habe als Autor und Herausgeber
der NZfM massgeblich zur Protektion des Komponisten Mendelssohn beigetragen, kann
als Zeichen der Selbstüberschätzung und puren Wunschdenkens genommen
werden, da Mendelssohn seit den Zeiten wiedergewonnener Matthäus-Passion
und Düsseldorfer Generalmusikdirektorats als Komponist und Dirigent derer
nicht mehr bedurfte.
Nun, die Äusserungen resultieren aus einer Situation
vermeintlicher Zurücksetzung, welcher sich Schumann als mindererfolgreicher
Komponist in den Jahren 1840ff ausgesetzt sah. Voller Eifersucht sah er, dass
die den Schumanns gewidmete öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschliesslich
seiner Frau, der gefeierten Pianistin Clara Schumann galten, während seine
Kompositionen vor allem im kleinen Kreise von Kennern und Liebhabern rezipiert
wurden. Somit sind unausgesetzte Versuche wissentlich oder unwillkürlich
begangener Herabminderung der Interpretin Clara Schumann nachweisbar. Schumann
widersetzte sich hartnäckig allen Bestrebungen Claras, überregionale
oder europäische Konzerteinladungen anzunehmen, stellte das Metier des Komponierens
dem des Konzertierens als erhaben gegenüber, mäkelte fortwährend
an ihrer Spielweise und Interpretation herum. Legendär die Befürchtung
des Komponisten, ob ihr Hausstand denn die Bereitstellung und professionelle Betätigung
zweier Flügel zu kompensieren in der Lafge sei.
Clara Schumann indes
war durch all diese innerfamilliär verübten Widrigkeiten - Mobbing würde
es im Sprachgebrauch unserer Tage heissen - zutiefst verunsichert worden und nahm
vom Gedanken öffentlichen Konzertierens mehr und mehr Abstand.
Allein
in der Person und Begegnung Mendelssohns fand sie Hilfestellung in dieser ausweglosen
Lage. Jener bestärkte sie in der Position einer musikalisch autonom rezipierenden
und handelnden Interpretin, leitete sie freundschaftlich auf ihrem Wege zurück
auf das lange gemiedene Podium des Gewandhauses und überwand durch persönliche
Fürsprache stetig Schumanns Widerstände gegen das Projekt neuerlicher
Konzertreisen. Schumann sah durch das persönliche Verwenden Mendelssohns
offensichtlich das künstlerisch kurzzeitig in Händen gehaltene Heft
sich neuerdings entgleiten. Er reagierte sich quasi durch genannten, auf Mendelssohn
als Hauptschuldigem an Claras neugewonnenen musikalischen Mute, abzielenden Anwurf
schriftlich ab. In jenem Affekt, welcher für Schumanns labilen Gemütszustand
vor allem in späteren Jahren symptomatisch und berüchtigt war.
In
jenem Affekt, welcher auch für zahlreiche massive Verbalinjurien Wagners
und von Bülows unmittelbar verantwortlich zeichnete. Während ersterer,
durch Cosima Wagners getreuliche Aufzeichnungen von "Tischgesprächen"
in der Verkündigung von Gewaltrhetorik seine Verewigung erfuhr, sah sich
jener ja genötigt, im Alter manches zu relativieren oder gar zu konterkarieren.
Ein neues Feld widerum eröffnen die im Jahre 1847 getätigten, abfälligen, unerträglichen Bemerkungen Schumanns, welche man Mendelssohn offenkundig zugetragen hatte und ihn zum endgültigen Bruch mit dem Kollegen veranlassten. In einem Brief an den Dichter und Freund Karl Klingemann beklagte sich Mendelssohn, Schumann "habe sich sehr zweideutig gegen ihn benommen und ihm eine recht häßliche Geschichte eingerührt, die ihn in seinem Eintreten für Schumann sehr abgekühlt habe. Mehr wissen wir nicht" (Dahms, S. 94) Ob Schumann sich neuerdings im Affekt zu radikalantisemitisch munitionierten Schmähungen gegen den ungleich erfolgreicheren Kollegen Mendelssohn hatte hinreissen lassen und in seinem Wirken von diesem nicht hinreichend gewürdigt fand? Ob er sich vom beruflich überlasteten und in den letzten Lebensmonaten kräftemässig rapide abbauenden Mendelssohn persönlich hintangesetzt fühlte und im Kollegen- oder Freundeskreise darüber beklagte?
Ob
er sich der musikalischen Öffentlichkeit gegenüber missbilligend über
ein Werk aus der letzten Schaffensperiode Mendelssohn´s geäussert hatte?
Was immer es konkret gewesen sein mag, es wäre eine eigene Untersuchung wert.
26.
Denkmalspflege; nationalsozialistisch
Ein in der Anonymität
verbliebener Zeitzeuge gab im Nachhinein zu Protokoll, was Leipziger Bürger
explizit von einem Vorfall wahrnahmen, dessen Inszenierung sich "insgeheim"
abspielte, dessen Wirkung aber offenkundig wurde. Wann, in welchem Zusammenhang,
auf welcher Behörde der Bericht gegeben wurde, ist nicht angegeben. Das Leipziger
Stadtarchiv hat ihn in der Sammlung StV u R, Nr. 8617, Bl. 12 der Nachwelt überliefert.
"Am Morgen des 10. November raunte es in Leipzig einer dem anderen zu,
die Mendelssohn-Statue sein in der Nacht von ihrem Sockel gerissen und die allegorischen
Figuren losgewuchtet worden; der Granitsockel sei in Stücke zertrümmert.
Die ganze Nacht hätten die Presslufthämmer gerattert und gedröhnt,
um den massiven Sockel samt seinem Unterbau zu zerstückeln und die Stätte
dem Erdboden gleichmachen zu können. Man habe die Absicht gehabt, die Stelle
als Blumenbeet anzulegen und Gras über den Standort wachsen zu lassen, um
jede Spur zu tilgen. Das Fundament habe sich aber bis zur Morgendämmerung
nicht mehr herausstemmen lassen, so daß man sich begnügen musste, die
Stelle mit Kleinsteinpflaster zu befestigen, das allerdings den Standort nicht
verheimlichen konnte."
Erste Stimmen seitens der NS-Administration, welche die Beseitigung des Mendelssohn-Denkmals vor dem alten Gewandhause einforderten, erhoben sich im Frühjahr 1936, also genau 3 Jahre nach der Machtergreifung.
So schrieb die Kreisleitung der NSDAP Leipzig in Person des Beauftragten Leiters des Kulturamtes Eckert an den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Dr. Carl Friedrich Goerdeler z. H. des Leiters des Kulturamtes, Stadtrat August Hauptmann am 8. Mai d. J. 1936:
"Aufgrund verschiedener Beschwerden bei uns fühle ich mich verpflichtet; sie darauf hinzuweisen, dass das vor dem Gewandhaus aufgestellte Denkmal des Vollblutjuden Mendelssohn-Bartoldie öffentliches Ärgernis erregt. Die Leipziger Bevölkerung, die zum weitaus grösstenteil gut nationalsozialistisch denkt, ist der Auffassung, dass dieser Jude in 2Erz" besser in einem Museum aufzubewahren wäre: Ich bitte Sie als Beauftragten Leiter des Kulturamtes beim Rat der Stadt Leipzig zu erwirken, dass dieses Denkmal entfernt wird..."
Dies war der Auftakt einer Kampagne seitens Leipziger NS-Gremien, welche die endgültige und kompromisslose Beseitigung des "Juden" Felix Mendelssohn aus dem Stadtbild zum Ziele hatte. Einmal mehr zeigt sich, wie sehr sich das Regime in allen Lebensbereichen in diesen 3 Jahren bereits verfestigt hatte. Die Forderung nach publicityträchtiger Entfernung eines Monumentes wie des Leipziger Mendelssohn-Denkmals wagte das Regime zu Anfang nicht. Es beschränkte sich im Jahre 33ff vorerst auf die Beseitigung der regimefeindlichsten Ehrentafeln, Strassennamen etc.
Noch hatte man beispielsweise auf die Reaktionen des Auslandes Rücksicht zu nehmen. Nun, nach stetiger Verfestigung der Machtvollkommenheit der NS-Administration, kündigte sich mit der Forderung nach Beseitigung des Mendelssohn-Monumentes aber eine zweite radikalisierte Welle der Denkmalszerstörung an. Diese brachte deutschlandweit die Zerstörung öffentlicher Mahnmale und Gedenkstätten an Juden und Regimegegnern mit sich. Die Forderung nach Beseitigung des Mendelssohn-Monumentes erhob und vollzog sich zeitlich analog der zunehmenden Verdrängung des Mendelssohn-Werkes von Konzertpodien und aus den Hochschulen.
Drei Wochen nach dem erwähntem ersten Schreiben an Stadtrat August Hauptmann verlangte der Kulturbeauftragter der Kreisleitung der NSDAP Eckert in einem weitern Schreiben verschärften Nachdrucks, unter Ankündigung des Hinzuzugs weiterer NS-Stellen in Sachen Forderung nach Denkmalsentfernung. So schreibt er am 27. Mai 1936 also:
"Bei dieser Gelegenheit teile ich Ihnen mit, dass ich mich des Weitern mit dem Kreis-Propagandaleiter Pg. Krüger in Verbindung gesetzt habe, damit auch von dieser Seite das Notwendige veranlasst werden kann."
Die Stadt Leipzig in der Person des Stadtrates August Hauptmanns kündigte daraufhin "eine sehr genaue Prüfung der Angelegenheit" an.
In einer Sitzung des Stadtrates vom 19. Juni wurde schliesslich der Vorschlag unterbreitet, das Mendelssohn-Denkmal abzutragen und an dessen Stelle die Statue eines anderen "bedeutenden deutschen Musikers" (Sitzungsprotokoll) zu errichten. Das Sitzungsprotokoll führt des weiteren an:
"Oberbürgermeister Dr. Goerdeler erklärt diesen Vorschlag für prüfbar. Man werde im Herbst in die Prüfung eintreten. Dann müsse aber auch das Mendelssohn-Denkmal auf anständige Weise beseitigt und anständig untergebracht werden."
Dr. Goerdeler erwies sich als erklärter Gegner einer Kulturschändung durch Abriss des Mendelssohn-Denkmals. Durch die Ankündigung eines längerwierigen Prüfungsverfahrens seitens der Stadt Leipzig vermochte er es somit, etwas Zeit gegenüber den lokalen NS-Einrichtungen zu gewinnen. Zeit welche er benötigte, um Verbündete auf höherer Parteiebene in Berlin in Sachen Erhalt des Mendelssohn-Denkmals zu gewinnen. Der NS-Beauftragte für jüdische Kulturfragen, Hinckel, sprang Goerdeler schliesslich bei und teilte ihm mit: "er könne auch im Namen von Goebbels und damit im Namen Hitlers sagen, dass das Denkmal stehen bleiben solle. Solche Bilderstürmerei würde nicht gewünscht." (Aufzeichnung Goerdeler a. d. Nachlass)
Daraufhin erklärte Dr. Goerdeler im Namen der Stadt den Erhalt des Denkmals, sehr zum Ärger des nationalsozialistischen 2. Bürgermeisters Rudolf Haake; des entschiedensten Goerdeler-Gegners und erklärten Mentors eines Denkmalabrisses.
Am 16. September d. J. 1936 erschien in der Leipziger Tageszeitung ein Pamphlet, welches sich unter dem Titel "Um jüdische Musik und das Denkmal eines Juden" öffentlich für die Beseitigung des Denkmals einsetzte. es heisst darin u. a.:
"Bei uns aber, in der Öffentlichkeit, ist die Existenz des Denkmals eines Juden auf die Dauer eine Unmöglichkeit. Dem dürfen weder Gründe der Pietät, noch rein künstlerische Erwägungen entgegenstehen. Solche Pietät und solche Erwägungen gehören nicht mehr in unsere Zeit, die in ihren Entscheidungen ausschliesslich den Stimmen des Blutes und des völkischen Gewissens zu folgen hat".
Der Chefredakteur der Leipziger Tageszeitung rechtfertigte die Veröffentlichung des Pamphlets in einem Schreiben vom 16. September 1936 an Dr. Goerdeler folgendermassen:
"Ich habe die Glosse erst nach langen und ernsten Überlegungen in die Zeitung gebracht. Ich glaubte aber um die öffentliche Diskussion dieser Frage nicht mehr herumzukommen, nachdem ich (...) schon seit langem aus Kreisen der Altparteigenossenschaft mit mehreren Zuschriften bedacht worden war. Nachdem mir jetzt gedroht wurde, die Angelegenheit dem "Stürmer" zu übergeben, der eine recht sensationelle Sache daraus gemacht hätte, zog ich es doch vor, die Sache in der Tageszeitung zu behandeln. Die Dinge liegen nicht einfach so, dass der einfache Mann es nicht begreift, wenn ihm immer wieder gesagt wird, es bestehe kein Unterschied zwischen guten und schlechten, wertvollen und minderwertigen Juden und er auf der anderen Seite sehen muss, dass ein Denkmal stehenbleibt mit der Begründung: Die Musik dieses Juden sei eine wertvolle.
Wir müssen in diesen Dingen gerade im Hinblick auf den kleinen Mann konsequent sein. Ich glaube, dass die vorgeschlagene Lösung, das Denkmal dem jüdischen Kulturbund zur Verfügung zu stellen, auch dem Ausland gegenüber den Vorwurf etwaiger Bilderstürmerei abmildern wird."
Haake machte sich den öffentlichen Druck, den die Behandlung der Forderung nach Beseitigung des Mendelssohn-Denkmals in der Leipziger Presse nach sich zog, zunutze. Er insistierte bei Goerdeler erneut auf eine Vernichtung desselben. So schrieb er an Dr. Goerdeler im Jahre 1936 im Rückblick auf die Ereignisse:
"Ich sah in dieser Anfrage nur ein Abschieben der Verantwortung auf die Reichsregierung, weil Sie selbst aus ihrer inneren Einstellung zur Judenfrage heraus diese Verantwortung nicht glaubten tragen zu können."
Haake entschloß sich, nach dem letzten ablehnenden Entscheid Goerdelers zum Thema der Denkmalsbeseitigung, zu eigenmächtigen Handeln bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit. Er schrieb wiederum im Rückblick auf die Ereignisse: "...war ich fest entschlossen, bei der nächsten geeigneten Gelegenheit (...) zu handeln und die Verantwortung zu übernehmen. Mein Gewissen als Nationalsozialist liess in dieser Frage keinen Kompromiss mehr zu."
Im November 1936
weilte das London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des berühmten
englischen Dirigenten Dirigent Sir Thomas Beecham einige Tage in Leipzig, um im
dortigen Gewandhaus zu konzertieren. Neuere Musikpublizisten wie Norman Lebrecht
sagen Beecham eine gewisse ideologische Affinität zur NS-Ideologie nach,
so dürfte er wohl der einzige Dirigent internationalen Ranges gewesen sein,
der mit dem NS-Musikbetrieb im Rahmen aufwendiger Operngesamtaufnahmen wie jener
reichsdeutschen "Zauberflöten"-Produktion kooperierte. Möglicherweise
gab also diese ideologische Verbundenheit des Künstlers zu Positionen des
Regimes beiderseits den Ausschlag zur Realisierung des zu diesem Zeitpunkt bereits
ausserordentlichen Gastspielvorhabens eines englischen Klangkörpers auf faschistischen
Territorium. Strittig scheint zu sein, an welchem Tag das Orchester im Gewandhaus
vor das Leipziger Publikum trat, da diesbezüglich von einander abweichende
Aussagen vorliegen. Entscheidend hingegen ist, daß es im Zuge des Leipzigbesuches
des Orchesters zum Abruch des Mendelssohn-Denkmals durch die NS-Administration
kam.
Der Zeitzeuge Kurt Sabatzky schilderte die Umstände des Besuches
und der Denkmalsvernichtung später folgendermassen:
"Etwa 2-3
Jahre vor dem Krieg unternahm das Londoner Philharmonische Orchester unter Leitung
von Sir Thomas Beecham eine Kontinental-Konzertreise, die es auch nach Leipzig
führte. Sir Thomas fragte vorher bei Goerdeler an, ob es wohl erwünscht
sei, wenn er mit einer Abordnung seines Orchesters am Mendelssohn-Denkmal eines
Kranz niederlege. Im Hinblick darauf, daß Mendelssohn eine besondere Brücke
im Musikleben von Leipzig nach London geschlagen habe.
Goerdeler erklärte
darauf, daß er eine solche Ehrung begrüssen würde. Unglücklicherweise
befand sich Goerdeler zur Zeit des Konzertes, daß einen grossen Erfolg für
die Londoner Philharmoniker darstellte, gerade auf Urlaub." (Meine Erinnerungen
an die Nationalsozialisten, Manuskript Nr. 3015 im Archiv von The Wiener Library,
London)
Als Beecham, Sabatzky zufolge, am darauffolgenden Morgen also
von Mitgliedern des Orchesters begleitet, vor dem Mendelssohn-Denkmal einen Kranz
niederlegen wollte, musste er feststellen, daß es verschwunden, genauer,
auf Befehl Rudolf Haakes in der Nacht abgetragen und im Keller eines öffentlichen
Gebäudes zerschlagen worden war. Haake hatte somit , gemeinsam mi dem Ratsherrenältesten
Otto Wolf die Gunst der Stunde, die Abwesenheit Dr. Goerdelers genutzt und nächtlings
zugeschlagen. Hinsichtlich der Abwesenheit Dr. Goerdelers, welche das Denkmals
Attentat, verübt durch subalterne Magistratsmitglieder ja erst ermöglichte,
irrt Sabatzky allerdings in der Begründung derselben: Dr. Goerdeler befand
sich zu diesem Zeitpunkt keineswegs im Urlaub; vielmehr kam er durch eine Reise
nach Skandinavien diplomatischen Verpflichtungen nach.
Schwerlich erstaunlich,
daß eine Berichterstattung des Vorfalls in der damaligen Presselandschaft
nahezu ausblieb; das Ausland, genauer: das "Allgemeen Handelsblad" in
Amsterdam führte es in einer Meldung vom 18.11.1936 u. a. auf eine Anweisung
Dr. Goerdelers an die Leipziger Lokalpresse zurück, den Vorfall in der Berichterstattung
zurückzuhalten.
Die Position Dr. Goerdelers war, angesichts offener
Insubordination untergeordneter Magistrats und Parteigremien, welche ideologische
Belange über die Richtlinienkompetenz des Stadtoberhauptes erhoben, somit
nahezu unhaltbar geworden. Nirgends fand er Rückhalt bei den Forderungen,
die eigenmächtige Untergrabung der Richtlinienkompetenz des Oberbürgermeisters
durch untergeordnete oder externe Gremien zu ahnden und das Mendelssohn-Denkmal
auf Kosten der Partei wiederherstellen zu lassen. Etwa 14 Tage nach Abbruch des
Denkmals reichte Dr. Goerdeler seinen Rücktritt vom Amte des Oberbürgermeisters
der Stadt Leipzig ein. Er begründete diesen Schritt mit der mangelnden Entschlossenheit
des Magistrats und übergeordneter Behörden wie des sächsischen
Innenministeriums "den offenbaren Ungehorsam meines Vertreters so zu ahnden,
wie ich es verlangen musste, wenn meine Autorität gewahrt werden sollte.
Also hatte ich Folgerungen für meine Person zu ziehen. Sie konnten nur in
dem Antrag bestehen., mich aus meinem Amte zu entlassen."
Im Jahre 1944 fasste Dr. Carl Friedrich Goerdeler in einer Niederschrift im Gefängnis den Rücktrittsentschluss rückblickend noch einmal folgendermassen zusammen:
"Damals führte ich den klaren Entschluss aus, nicht die Verantwortung für eine Kulturschandtat zu übernehmen. Mendelssohns Lieder haben wir alle mit Entzücken gehört und zum Teil gesungen, ihn zu verleugnen wäre feige und lächerlich gewesen. Aber ich hoffte im Stillen, eines Tages wieder in reiner Luft dem Vaterlande dienen zu können. Auch dafür und für die Stellung des deutschen Volkes im Ausland wollte ich meinen guten Namen wahren. Vor aller Welt hatte ich mit meinem Abschied gegen den Sturz des Mendelssohn-Denkmals protestiert und so wurde dies auch überall aufgefasst."
Dr., Carl Friedrich
Goerdeler fiel 9 Jahre darauf als führender Widerständler den Hinrichtungen,
die dem 20. Juli 1944 folgten, zum Opfer.
Der Dirigent Fritz Busch,
der sich als Generalmusikdirektor des Dresdner Staatstheaters der geforderten
Entlassung jüdischer Künstler verweigerte und 1935 emigrierte, kommentiert
diesen Vorgang in seinen Lebenserinnerungen mit wenigen eindringlichen Worten:
"In Vertretung Arthur Nikischs habe ich wiederholt im Gewandhaus dirigiert,
an jener klassischen Stätte edelster Musikpflege, auf die Deutschland stolz
sein durfte, bis man Felix Mendelssohns Denkmal und den Geist deutscher Kultur
von dort entfernte".
27.
Ein nordischer Sommernachtstraum
Partiell erwies sich die befohlene
Verneinung der Werke Mendelssohns als unrealistisch, gemessen an den Bedürfnissen
alltäglichen kulturellen Lebens: Wie wären die zahlreichen Gesangsvereinigungen
des Landes der Pflege längst ins Allgemeinmusikgut eingegangener Chorsätze
zu entheben gewesen? Nachhaltig aus dem Geiste der hohen Romantik hervorgegangene
Kanzonen, welche in formeller Schlichtheit Eichendorff - Zeilen wie: "O Täler
weit, o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen
andächtger Aufenthalt..." in vollkommener Übereinstimmung von Wort
und Musik interpretierten. Verboten als Entwürfe eines "vorderasiatisch-orientalischen
Juden" (Eichenauer, Musik und Rasse, München 1937), wie die völkische
Rassenlehre Felix Mendelssohn einstufte." ?
Der Nationalsozialismus
fügte sich der Verbundenheit der Liedertafel zu Mendelssohns Chorwerk schliesslich
und wies an: daß man den Vortrag dieser Sachen weiterhin gestatte, allerdings
hätten die Chöre zu verschweigen, wer sie komponiert hatte.
Das Theater sah sich durch das Verbot der romantischen Bühnenmusik zu Shakespeares Komödie "Ein Sommernachtstraum" erheblichen Problemen ausgesetzt. Da jene im Bewusstsein des Publikums mit der Dichtung kongenial einherging und der Rückzug der Musik die Aufführungszahlen des Shakespeare-Stücks zeitweise deutlich minimierte. So vermelden die Shakespeare-Jahrbücher des Jahrgangs 1933 nur noch 11, des Jahres 1934 20, des Jahres 1935 wiederum 11, des Jahrgangs 1936 13, des Jahrgangs 1937 12, des Jahrgangs 1938 17, des Jahrgangs 1939 17 und des Jahrgangs 1940 bereits 20 "Sommernachtstraum"-Produktionen an deutschen Theatern. Auffällig ist die gegen Ende der dreissiger Jahre leicht ansteigende Anzahl von Produktionen. Dies muss unmittelbar mit den nachfolgend detaillierter beschriebenen Versuchen um Ersatzlösungen für Mendelssohns verfemte Komposition zusammenhängen. In den ersten Jahren des Regimes behalfen sich die Theater, welche den Rückgriff auf Mendelssohns Schauspielmusik nicht mehr wagten, oftmals mit diversen Kompilationsmusiken, welche aus Barockmusikvorlagen oder romantischer Klaviermusik zusammengestellt wurden.
Zwar hatte es bereits in den zwanziger Jahren einige, rein künstlerisch motivierte Versuche gegeben, das Shakespeare Stück in einem anderen musikdramaturgischen Kontext als jenem Mendelssohns zu setzen.
Schauspielmusikkompositionen von August Halm
und Alexander Laszlo, von dem Dirigenten und Komponisten Bernhard Paumgartner
im Jahre 1924 für Wien, von Christian Lahusen im Jahre 1925 für Otto
Falckenberg in München, und von Ernst Krenek für den Dichter und Intendanten
Hugo Hartung und die Heidelberger Festspiele des Jahres 1926 erarbeitet, sind
überliefert. Aber diese Kompositionen müssen den diversen Kulturfunktionären
des NS-Regime entweder stilistisch oder hinsichtlich Person und Abkunft der Komponisten
missfallen haben. Oder wurden seinerzeit über ihren lokalen Wirkungsbereich
hinaus schlichtweg nicht wahrgenommen. Jedenfalls ist von einem Rückgriff
auf diese Musiken anlässlich von "Sommernachtstraum"-Aufführungen
des "III.-Reiches" nichts bekannt.
Bereits im Jahre 1934 wurden
indeß erste Versuche unternommen, die verfemte Mendelssohn-Schauspielmusik
durch Neukonzeptionen und Surrogate zu ersetzen.
Kam anlässlich der "Sommernachtstraum"-Vorstellung
der Naturbühne Märkisches Museum vom 12. Juli 1934 die Begleitmusik
noch von der Grammophonplatte - Titel und Stil derselben wurden nicht überliefert
- ; so wurde am 20. Juli 1934 bei den Heidelberger Festspielen ein erster Rückgriff
auf Barockmusik von Henry Purcell vorgenommen. Friedrich Baser forderte in einem
Kommentar in der Zeitschrift "Signale für die musikalische Welt"
vom 5. September 1934 denn auch behende die zeitgerechte Kreation eines "nordischen"
Shakespeare-Stiles gegen die südöstliche" ("vorderasiatisch-orientalische"?!)
Dominanz einer "semitischen" Felix Mendelssohn-Ästhetik aus der
Romantik ein:
"Hier fiel der Musik die bedeutsamste Aufgabe zu, und schon die Wahl des Komponisten musste nach neuen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Galt es doch, statt der sinnlich-prächtigen Musik südöstlicher Farbe, wie sie durch Mendelssohns Komposition ein Jahrhundert lang restlos das Feld beherrscht hatte, einen nordischen "Sommernachtstraum" erstehen zu lassen".
Ein fortwährender, auch über das Jahr 1934 hinaus bestehender, Rückgriff auf Kompilationen wurde dauerhaft als unbefriedigend empfunden. Somit suchten NS-Organisationen wie das "Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" in Person des Ministers Dr. Joseph Goebbels und der "Volkskulturbund Kraft durch Freude" in Person des Reichsorganisationsleiters Dr., Robert Ley Komponisten ersten und zweiten Ranges zur einer definitiven Neukomposition des "Sommernachtstraums" anzuregen.
Der Komponist Edmund Nick
war der erste, der im Zuge der eingeforderten Neukomposition in arischem Auftrage
Hand an das "Sommernachtstraum"-Sujet legte.
Nick verdingte sich
dem Regime auch als "Bearbeiter" "rassisch" verfemter Musikvorlagen;
umgewandelt in "arisch" unbedenkliche Fassungen im Auftrage der Reichsstelle
für Musikbearbeitungen und ihres Leiters GMD Dr. Heinz . Da er, wie er im
Jahre 1964 in einem Brief an Fred Prieberg schilderte, im Zuge dessen offenkundig
"die Mendelssohn Musik sowie das "Elfenlied" von Hugo Wolf studiert
hatte" konnte sein Werk nur wenig befriedigen. Zahlreiche Theaterkritiker
waren sich noch des Mendelssohn´schen Originals bewusst. Der Rezensent Fritz
Stege gab in der Zeitschrift Berliner Musik in der Oktoberausgabe des Jahres 1934,
nach der Premiere von Nicks Komposition, welche am 15. September des Jahres 1934
im Grossen Schauspielhaus in Berlin über die Bühne ging, denn auch zu
bedenken:
"Man mag gegen Mendelssohn auch berechtigte Bedenken vorzubringen haben, so lässt sich nicht leugnen, dass Mendelssohn den Zauber des Waldes in einer Weise eingefangen hat, die im Stimmungsinhalt einmalig bleibt. Von Mendelssohn hätte Nick lernen können, wie man dem Wesen der dramatischen Vorlage gerecht zu werden vermag, ohne sich auf die Abwege musikalischer Geistreicheleien oder trivialer Salonmusik zu begeben. Ich möchte es dahingestellt lassen, wen von beiden der Vorwurf der Sentimentalität mit grösserer Berechtigung trifft.
Wobei ausserdem noch festzustellen bleibt, dass Mendelssohns sogenannte "Sentimentalität" gar nicht in seinem Wesen, sondern nur in der Fälschung des Aufführungsstils nachzuweisen ist. Nein: zum Sommernachtstraum gehört nun einmal Mendelssohns Musik. Es gereicht keinem Bearbeiter zur Ehre, diese künstlerische Meisterwerk anzutasten."
Bemerkenswert an Steges Ausführungen ist nicht allein ein gewisser publizistischer Mut - wie eingangs dargelegt, war es angesichts indifferenter Richtlinienerfahrungen zahlreicher Musiker und Publizisten in den ersten Jahren des Regimes allerdings noch gefahrloser, für Mendelssohn einzutreten als in späterer Zeit. Mehr noch dessen klarer Hinblick auf die Verfälschung von Mendelssohns Werk durch eine, dem Musizieren in breitem spätromantischen Stil verhafteten Idiom - ein Umstand, auf den allein Karl-Heinz Köhler in späteren Jahren umfassend verwies.
Stege,
ein erklärter Nationalsozialist, Verfechter der Rassenlehre, Parteimitglied
und KfdK-Genosse, versuchte später, nach Kriegsende, in BRD-Zeiten, sein
Plädoyer für Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Musik, also
eine vergleichsweise harmlose publizistische Aktion in Zeiten nationalsozialistischer
Kompetenzwirren, als exorbitante Heldentat zu deklarieren. So schrieb er am 7.
Juni 1966 an Fred Prieberg:
"Vergessen ist, daß ich mehrfach
Kopf und Kragen riskiert und mit einem Fuß im KZ gestanden habe, als ich
den Mut aufbrachte, 1934 öffentlich für Mendelssohn einzutreten (,..)
.gegen den gesamten Völkischen Beobachter ein Ehrengerichtsverfahren einzuleiten
usw. Und niemand wird je eine Ehrenrettung für mich wagen:"
Immerhin wurde Fritz Stege in seinem Eintreten für Mendelssohn´s Musik, gegen Nicks Surrogatkomposition des "Sommernachtstraum"-Sujets, von Rezensenten wie Karl Heinz Ruppel unterstützt. Jener schrieb in seinem Artikel "Sommernachtstraum im Herbst" im Hamburger Fremdenblatt vom 19. September 1934 u. a.:
"Die kongeniale Inspiriertheit der von Goethe so hochgeschätzten "Sommernachtstraum"-Musik des jungen Mendelssohn vermag Nick nicht zu ersetzen."
Ende September 1934 erfuhr der "Sommernachtstraum" Premiere im Stadttheater Hagen, mit einem vom Solokorrepetitor Kurt Nichterlein vorgelegten Carl-Maria von Weber-Arrangment.
Bemerkenswert dabei der erneute Versuch, stilistisch und dramaturgisch
in der von Mendelssohn mustergültig definierten Aura romantischen Waldeszaubers
zu verbleiben, ohne Mendelssohn spielen zu müssen.
Im Herbst des Jahres 1934 eröffnete der Leiter der Musikabteilung der NS-Kulturgemeinde (NSKG) und Reichsschriftleiter Friedrich W. Herzog eine erneute Initiative seitens der NS-Machthaber, renommiertere Komponisten zur arisch-definitiven Neukomposition des Sujets zu bewegen. Das Ersuchen erging somit unter anderem an die Komponisten Werner Egk, Gottfried Müller, Hans Pfitzner, Rudolf Wagner-Regégeny, Julius Weismann und Winfried Zillig.
Herzog sekundierte dem Ansinnen, eine Musik zu initiieren, welche Mendelssohns Schauspielmusik endgültig verdrängen und ersetzen sollte, publizistisch in dem Aufsatz "Eine neue Musik zum "Sommernachtstraum" vom 2. November 1934. Dabei offenbart er unmittelbar den Zwiespalt eines völkisch bewegten traditionsbewussten deutschen Bildungsbürgers. Jener trug die Konventionen des deutschen Theaters und Musiklebens und somit auch die Beziehung zum überkommenen verehrten Shakespeareoeuvre "des Juden" Felix Mendelssohn tief in sich und konnte, aller Versuche nationalsozialistischer Autosuggestionen zum Trotze, schwerlich gänzlich vom tradierten musikalischen Vorbild loskommen:
"Wenn die NS-Kulturgemeinde (...) als ersten Kompositionsauftrag eine neue Musik zu Shakepeares "Sommernachtstraum" bestellt, so will sie damit gleichzeitig einen durch die nationalsozialistische Revolution herbeigeführten "Notstand" beseitigen. Denn die Musik Mendelssohns ist im Dritten Reich mit den unumstösslich und kompromißlos gültigen Gesetzen von Primat der Rasse und des Blutes nicht mehr zu verantworten. Diese Musik ist genialisch, aber unbeschadet ihrer musikalischen Werte ist sie für eine völkische Kulturbewegung untragbar."
Hans Pfitzner wies es vermittels knapper Mitteilung auf einer Postkarte zurück: "Es gibt bereits eine hervorragende Musik zum "Sommernachtstraum!" und gab in späteren Jahren seinem Biographen Ludwig Schrott zu Protokoll:
"Denken Sie, man ist an mich herangetreten und wollte, daß ich den "Sommernachtstraum" neu komponieren solle, weil die jüdische Mendelssohn-Musik nicht mehr tragbar sei. So etwas ist doch eine Gemeinheit! Ich habe diesen Burschen aber heimgeleuchtet. Mendelssohns "Sommernachtstraum" habe ich erklärt, ist schlechthin kongenial, eine Leistung, die der Schlegel-Tieckschen Shakespeare-Eindeutschung gleichkommt. Ich wäre nie in der Lage, eine bessere Musik zum "Sommernachtstraum" zu schreiben als Mendelssohn."
Gleichzeitig verwies Pfitzner auf den Umstand, allen späteren anderslautenden rechtfertigenden Beteuerungen von "Sommernachtstraum"-Komponisten des III. Reiches zum Trotze, dass man einen entsprechenden Kompositionsauftrag Zurückweisen konnte, ohne Gefahr für Besitz, Leib und Leben zu laufen.
Werner Egk verwahrte
sich somit des Kompositionsansinnens "mit einem gewissen Vergnügen mit
dem Hinweis auf" (seine) "Bewunderung der musikalischen Ausdrucksfähigkeit
des jungen Mendelssohn, (...) was um diese Zeit ohne schlimme Folgen wohl möglich
war."
(Brief an Fred Prieberg vom 6.7.1964)
Rudolf Wagner-Régenyi
indes liess sich zur Komposition einer "Sommernachtstraum"-Musik verleiten.
Wagner-Régenyi wird als Komponist heute nurmehr marginal wahrgenommenen
, machte aber nach dem Kriege in der DDR eine gewisse Karriere; beispielsweise
als Professor für Komposition in Ostberlin.
Möglicherweise haben
einige Vorleistungen des Regimes den Ausschlag zu dieser Entscheidung gegeben.
So ist von Zusagen, die Rede, das Werk nach der Vollendung mit Garantiertheit im NSKG-eigenen Musikverlag herauszubringen; des weiteren von der ersten Veröffentlichung einer Wagner-Régenyi-Biographie mit dem Titel "Rudolf Wagner-Régenyi. Bildnis eines Schaffenden", erschienen in der Musikalischen Schriftenreihe der NS-Kulturgemeinde, mit welcher der Komponist geködert wurde. Auch war der Auftrag mit einem Honorar von 2000 RM lukrativ dotiert.
Wagner-Regenyi versuchte nach 1945 die Willfährigkeit zu kaschieren, mit welcher er mit dem Regime in der Person des musikalischen Leiters der NSKG, F. W. Herzog kooperierte. So schrieb er u. a.:
Die "Sommernachtstraum"-Musik war ein (peinlicher) Auftrag (...) Zu Shakespeare ist die Musik niemals gespielt worden." (Brief Wagner-Regenyis an Fred Prieberg vom 30.10.1963)
Wagner-Regenyis Bemühungen um eine definitive musikalische Neufassung des Sujets parallel, erging ein entsprechender Auftrag auch an den Komponisten Julius Weismann. Beide Kompositionen erfuhren ihre konzertante Uraufführung in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 anlässlich der Reichstagung der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde (NSKG) und ernteten nur verhaltene Zustimmung seitens des Theaterbetriebes und der Presse. So schrieb der Rezensent W. Wesselhoeft in der Kölnischen Zeitung, Abendblatt vom 7. Juni 1935 über Wagner-Regényis "Sommernachtstraum"-Opus:
"Seine Musik ist bewusst grob, holzschnittmässig, mit einfacher, dicker Linienführung und stark rhythmisch betont. Die zarten Farben, das Mondlicht, die Poesie fehlen; (...) So bleibt das Werk im wesentlichen trocken und ohne Reiz."
Wesselhoefft fordert somit entschieden eine Rückkehr des Theaters zur bewährt-romantischen Aufführungstradition ein, freilich ohne den Namen Mendelssohn zu erwähnen. Dies beweist einmal mehr, wie tief das Verständnis des "Sommernachtstraum"-Stoffes in Deutschland von der musikalischen Auffassung Felix Mendelssohns geprägt und verwurzelt war.
Ähnlich erging es der Komposition Weismanns: Anlässlich
ihrer Bühnenpremiere im Stadttheater Freiburg vom 20. Oktober 1935 schrieb
der Rezensent A. Weber am 11. März 1936 in erneutem Rückverweis auf
das übermächtig im Bewusstsein der damaligen Zeit verankerte Mendelssohn´sche
Original:
"So hocherfreulich die Arbeit ist - und sie wird immer als wertvoller Beitrag zu diesem Thema gewertet werden müssen -, so vermag sie doch nicht die Erinnerung an das vollkommenere Vorbild zu verwischen."
Wagner-Regenyis "Sommernachtstraum"-Musik wurde am 1. Oktober 1935 im Theater Harburg-Wilhelmsburg erstmalig im Zusammenhang mit einer Bühnenproduktion des Stücks aufgeführt und ab dem Jahre 1938 u. a. von den Theatern in Giessen, Gotha-Sonderhausen und Oldenburg übernommen. Es stimmt einfach nicht, dass dieselbe "zu Shakespeare niemals gespielt wurde"
Weismanns Komposition entwickelte sich Fred Prieberg zufolge nahezu zum Erfolgsstück und wurde von zahlreichen Theatern - so dem Stadttheater Hanau, dem Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin und der Freilichtbühne Birten bei Xanten - nachgespielt.
Ungeachtet eines anfänglich verhalten vorgebrachten Presseechos frohlockte die NSKG angesichts des erfolgreich vollbrachten "Neuanfangs" bühnenmusikalischer "Sommernachtstraum"-Rezeption sowie des allgemeinen Durchbruchs, welche vor allem die Weismann-Komposition noch in dem Jahre ihrer Uraufführung in die Theaterpraxis erfuhr.
So schrieb Rudolf Sommer in dem Aufsatz "Aus der Musikarbeit der NS.-Kulturgemeinde" im "Deutschen Musikjahrbuch" des Jahres 1937:
"Diese beiden Bühnenmusiken sind geeignet, den Juden Mendelssohn abzulösen."
F. W. Herzog versuchte nach Kräften, die von ihm in Auftrag gegebenen Kompositionen Wagner-Regenyis und Weissmanns bei weiteren Bühnen unterzubringen, in der Hoffnung diese könnten sich als allgemeingültig im Theatergebrauch etablieren. Da sich zahlreiche Theater Herzogs Bemühungen entzogen und weiterhin auf Lösungen setzten, welche auf Barockmusik, beispielsweise auf Werke Purcells zurückgriffen, unterstellte er den Intendanten in versteckter Anspielung die Sabotage nationalsozialistischer Erneuerungsbestrebungen. Quasi den konspirativen Rückzug auf das bewährt historische Terrain und dadurch möglicherweise die heimliche Solidarisierung mit dem kulturellen Erbe eines Felix Mendelssohn.
So schrieb Herzog in "Die windgeschützte Ecke" vom 6. März 1937:
"Unser völkisches und sittliches Empfinden macht es uns...unmöglich, ein Werk wie Shakespeares "Sommernachtstraum" mit jüdischer Begleitmusik zu ertragen. (...) Nun gibt es aber zahlreiche Theaterleiter, die aus Gründen, denen nachzugehen zu weit führen würde, die neue Musik von vornherein ablehnen und sich lieber in die windgeschützte Ecke der Vergangenheit zurückziehen. Der alte Engländer Purcell wird plötzlich aus dem Historienschrein hervorgeholt und hergerichtet."
Nach dem Kriege versuchte auch der ehemalige Reichsschriftleiter F.W.Herzog, zahllosen Repräsentanten und Mitläufern des Regimes vergleichbar, sich vermittels mit Behauptungen, Verdrehungen und Unterdrückung von Fakten der Verantwortung für nationalsozialistisches Tun - in diesem Falle ein erklärtes Bemühen um Ausmerzung des "Juden" Mendelssohn aus dem Kontext deutschen Kulturlebens - zu entziehen.
So konstatiert er im Rückblick auf die an Rudolf Wagner-Régenyi und Julius Weissmann ergangenen Kompositionsaufträge in einem Schreiben an Fred Prieberg vom 20. Dezember 1964:
"Ich kannte beide Komponisten seit Jahren und wußte, daß sie gute Arbeit leisten würden.
Nachdem Herzog einmal den Anstoss zur "arischen" Neuvertonung der Shakespeare-Komödie gegeben hatte, drängten zahlreiche Theaterintendanten und Regisseure ihre Hauskomponisten zu eigenen Neukompositionen. Das Phänomen gemahnt unmittelbar an die Flut antisemitischer, mendelssohnverächtlicher Musikpublizistik, welche nach der Initialzündung des Leipziger Denkmalabbruchs im November 1936 so übermässig einsetzte.
So schrieben der Komponist Alfred Irmler eine Schauspielmusik für das Deutsche Nationaltheater Weimar, die Uraufführung erfolgte am 24. November 1935.
Der Komponist rechtfertigte sich im Jahre 1964 in einem Schreiben an Fred Prieberg vom 4. Mai:
"Ob diese Musik nun mit oder ohne Auftrag geschrieben wurde, ist unwesentlich (...) Der "Sommernachtstraum" reizt immer wieder die Komponisten, dazu die Musik zu schreiben. (...) Das hindert mich nicht, die Schönheit der Mendelssohnschen "Sommernachtstraum " Musik voll und ganz anzuerkennen. Ich bin 1935 als Dirigent der Meininger Kapelle noch für sie eingetreten, trotz des Widerstandes der Parteistellen."
Am 9. Oktober 1935 erfuhr am Landestheater Coburg eine "Sommernachtstraum"-Musik die Premiere, welche Werner Creutzburg, seinerzeit als Kapellmeister und Schauspielmusiker am Theater Trier tätig, geschrieben hatte.
Robert Tants, Direktor der Schauspielmusik am Münchner Residenztheater, komponierte das Sujet für eine dortige Hausproduktion, die Premiere erfolgte am 7. Juli 1936.
Die
Waldbühne Tannenkamp in Hannoversch-Gmünden bemühte Musiken für
Streicher von diversen nichtgenannten Komponisten des 16. Jahrhunderts und setzte
darüberhinaus Waldhornbläser ein. Die Premiere erfolgte am 13. August.
Hier nun eine Aufzählung weiterer Neukompositionen und deren Komponisten der Jahre 1936 ff; Aufzählung nach Fred Prieberg:
Festspiele der Naturbühne Luisenburg in Wunsiedel, Komponist Paul Oskar, Premiere am 29. August; Schauspielhaus Hamburg, eine Reprise der Musik von Edmund Nick, Premiere am 5. Dezember; Schauspielhaus Hannover; Komponist Siegbert Mees, die Premiere erfolgte an Sylvester des Jahres 1936, die Produktion blieb über 2 Jahre Im Spielplan; Schauspielhaus Düsseldorf, dort konfigurierte Heinz Vogt altenglische Musik, die Premiere fand im Februar 1937 statt; Neues Theater Leipzig, dort bezog man sich wiederum auf Purcells Musik zu "The Fairy Queen" und beauftrage den Musiker Hans Stieber mit einer shakespearetauglichen Bearbeitung derselben; Premiere war am 26. Februar 1937.
Zahlreiche Intendanten siedelten das Shakespeare-Stück in den Jahren 1934 - 37 dramaturgisch exemplarisch im Historizismus oder der Romantik an und verschlossen sich neueren Sichtweisen hinsichtlich einer historisch wohl korrekteren, volkstümlicheren Deutung gänzlich aus der Rüpel- und Zotensprache bzw. einer Ebene unausgesetzter, derber sexueller Anspielungen des Shakespearischen Originals heraus. Möglicherweise verbarg sich dahinter tatsächlich der Versuch von Theaterintendanten, sich den Zumutungen unausgesetzter Eingriffe von Parteiorganen in die künstlerischen Belange und somit der notwendigen künstlerischen Freiheit des Theater nahezu konspirativ zu entziehen, wie F. W. Herzog es seinerzeit vermutete. Jener Rückzug in eine von F. W. Herzog beargwöhnte "windgeschützte" Ecke also. Die Musik Mendelssohns stand ihnen bei dem Bemühen, dem Stück die überlieferte romantische Aura deutscher Aufführungstradition zu bewahren, allerdings nicht mehr zur Verfügung.
Das Ersuchen der Intendanten an Musiker des III. Reiches, ein quasi Mendelssohn´sche Surrogat im romantischen Stil nachzuschaffen, verlief aber oftmals gegen Ethos autonomen Komponierens jener Musikschaffenden. So blieb erneut nur wieder der Ausweg der Bearbeitung von Vorlagen originärer, "rassisch unverdächtiger" Romantiker wie jene Carl-Maria von Webers.
So erinnerte sich der später auch als Filmkomponist hervorgetretene Bernhard Eichhorn im Jahre 1967 Fred Prieberg gegenüber eines seinerseits ergangenen Kompositionsauftrages:
"Im Jahre 1937 wollte der damalige Intendant der sächsischen Landesbühne...auf der Freilicht-Felsenbühne bei Rathen...den "Sommernachtstraum" aufführen. Da die Mendelssohn´sche Musik im tausendjährigen Reich verboten war, bat er mich, eine neue romantische Musik dazu zu schreiben. Gut - man kann durchaus eine neue Musik schreiben, die modern ist und dem eigentlichen - englischen Charakter dieses Werkes in seiner naturhaften - stellenweise bösen - Spukhaftigkeit dramaturgisch mehr Rechnung trägt als eine romantische. Jedoch, man wollte durchaus eine "romantische". Die Ehrfurcht vor der nun wirklich genialen Musik Mendelssohns verbot es mir, eine eigene romantische Musik zu schreiben. Ich verfiel auf den Ausweg, aus (...) Klavierkompositionen Carl Maria von Webers eine der Mendelssohnschen einigermassen adäquate Musik zusammenzustellen, einzurichten und zu instrumentieren."
Die Kompilationsmusik Eichhorns wurde in Rathen am 4. Juni 1937 uraufgeführt und dort über mehrere Spielzeiten hinweg zu Shakespeares Komödie gegeben.
Im Jahre 1939 wurde sie vom Komponisten für das Schauspielhaus
Dresden umgearbeitet und erklang dort erstmalig am 16. Februar. Auch an anderen
Bühnen wie jenen in Heidelberg (Reichsfestspiele, Premiere 12. Juli 1939),
in Hamburg (26. Oktober 1939) und Schneidemühl (8. November) sollte sich
diese Version von "Sommernachtstraum"-Musik im Original oder Neufassungen
zum Einsatz kommen. Eichhorn komponierte nach dem Krieg u. a. die Filmmusik zu
Helmut Käutners "Schinderhannes"-Melodram aus dem Jahre 1957.
Am 28. Dezember 1937 stellte das Kurmärkische Landestheater Luckenwalde eine "Sommernachtstraum"-Musik des Berliner Kapellmeisters Theo Knobel vor. Im Mai 1938 wiederum wurde von den Städtischen Bühnen Königsberg eine Komposition des dortigen Chordirektors Egon Bölsche vorgestellt, welche erneut versuchte, das Problem vermittels ersatzweise erfolgenden Rückgriffs auf romantische Instrumentalmusik zu bewältigen. Jener hatte offenkundig "den guten Einfall gehabt, aus wenig bekannten Werken Carl Maria von Webers einen Kranz herrlicher Melodieblüten zu winden und die unsterbliche Dichtung damit zu schmücken." Natürlich sei darin auch "die "blaue Blume" der Romantik, hauptsächlich aus "Euryanthe" und "Oberon" bezogen" gewesen, wie der Rezensent Hans Wyneken im Jahre 1938 "Aus den Königsberger Theatern" in der in Berlin herausgegebenen Zeitschrift "Die Musikwoche" vom 11. Juni 1938 berichtete.
Das Theater Erfurt brachte im Jahres 1938 die "Sommernachtstraum"-Musik op. 14 von Ernst Roter aus dem Jahre 1920 neu heraus und stellte sie anlässlich der Premiere vom 6. April in Anwesenheit des Komponisten dem Publikum vor. Auch das Staatstheater Württemberg griff noch im gleichen Jahre auf diese Version zurück.
Im
Jahre 1938 machte sich gar ein Engländer daran - der junge Komponist Walter
Leigh - das Sujet für die Belange des nationalsozialistischen Kulturbetriebs
tauglich musikalisch aufzubereiten. Leigh komponierte eine dem Schulorchester
der auf Schloss Bieberstein in der Rhön residierenden Hermann-Lietz-Schule
gewidmete Suite in Sinfonietta-Besetzung. Das Orchester wurde schliesslich sogar
eingeladen, die Suite Leighs im Ausland, genauer: in mittel- und südenglischen
Internatsschulen aufzuführen.
Leigh fiel im Jahre 1942 in Nordafrika im
Kampf gegen die Deutschen.
Damit wurde das Moment fortschreitender, zielstrebig vorgenommener Mendelssohn-Entwöhnung erstmalig in die so wesentliche Ebene der Jugendmusikpflege hineingetragen. Dem Regime war es offenkundig nicht nur darum zu tun, den "Juden" Mendelssohn aus der Erinnerung älterer Generationen von Kulturfreunden zu verdrängen; auch eine Begegnung der Jugend mit ihm und seinem Werk sollte also kategorisch vermieden werden. Leigh, der seine musikalische Ausbildung in Deutschland absolvierte und an der Berliner Musikhochschule bei dem später gewaltsam entfernten und in die Emigration getrieben Paul Hindemith studierte, machte sich dadurch faktisch zum Helfershelfer der kulturpolitischen und propagandistischen Ziele des Regimes.
Gleichsam im Bereich der NS-Jugendmusikpflege, also im Bemühen um Unterbindung jedweden Kontaktes der damaligen deutschen Jugend zum Werke des um die Musikpädagogik dieses Landes so verdienten Felix Mendelssohn Bartholdy, tätig war Hilmar Höckner.
Er trug als Musikpädagoge für die Pflege der Tonkunst an den Landschulheimen des Kreises Fulda, darunter auch Schloss Bieberstein, Verantwortung und gab somit im Jahre 1938 eine Suite von 10 Tanzsätzen heraus, welche er der "Fairy Queen"-Musik Henry Purcells entnommen hatte. F. Mahling attestierte der Kompilation in "Völkische Musikerziehung", Berlin, Leipzig vom 6. Juni 1938 dass sie, " zwar eine ganz andere Haltung zeigt, als die im 19. Jahrhundert so beliebte Bühnenmusik Mendelssohns, es aber gerade deshalb wohl verdient der Vergessenheit entrissen und wieder praktisch verwendet zu werden."
Es mutet nachgerade als musikhistorische Ironie an, dass man sich im Vollzuge von Bestimmungen der NS-Kulturpolitik darum bemühte; Komponisten und deren Musik der Vergessenheit zu entreissen, um einen anderen Komponisten willentlich der vollständigen Vergessenheit anheimgeben zu können.
Nun des weiteren eine Aufzählung von "Sommernachtstraum"-Bühnenproduktionen sowie den dazugehörigen Schauspielmusikern aus dem Jahre 1938. Als Quelle dient wieder Fred Prieberg.
Hannover, 1. Januar/ Siegbert Mees; Bonn, 4. Januar/ Robert Tants; Stendal, 9. Januar/ Heinz Joachim Fritzen; Erfurt, 6. April/ Ernst Roters; Königsberg, 14. Mai/ Kompilation von Musik C. M. von Webers durch Egon Bölsche; Felsenbühne Rathen, 4. Juni/ die Kompilation von Musik C. M. von Webers durch Bernhard Eichhorn; Berlin-Friedrichshagen, 17. Juni/ Leo Spies; Hungerturm-Festspiele Priebus, 18. Juni/ Helmut Bernert; Baden-Baden, 7. Juli/ Edmund Nick; Marburg, 13. Juli/ Kompilationsmusik aus der Symphony Nr. 9 in e-moll "Aus der neuen Welt" Antonin Dvoraks und Edvard Griegs Norwegischem Tanz (Eselstanz); Koblenz, 16. September/ Leo Spies; Allenstein, 17. September/ Leo Spies; Giessen, 28. September/ Rudolf Wagner-Regényi; Gotha-Sondershausen, 3. Oktober/ Rudolf Wagner-Regényi; Oldenburg, 21. Oktober/ Rudolf Wagner Regényi; Stuttgart, 25. Dezember/ Ernst Roters; Deutsches Volkstheater Wien, 31. Dezember/ Ludwig Maurick.
Im Anschluss die Produktionsdaten der "Sommernachtstraum"-Inszenierungen des Jahres 1939:
Prinzregenten-Theater München, 2. Januar/ Robert Tants; Linz, 14. Februar/ Robert Tants; Dresden, 16. Februar/ C. M. von Weber-Kompilation durch Bernhard Eichhorn; Essen, 28. Mai/ Winfried Zillig; Reichsfestspiele Heidelberg, 12. Juli/ Neufassung der C. M. von Weber Kompilation von Bernhard Eichhorn; Elbing, 5. August/ kein Komponist, Arrangeur genannt; Bremen; 6. September/ Theodor Holterdorf; Regensburg, 13. September/ Paul-Oskar Nebelsiek; Burgtheater Wien, 20. September/ Franz Salmhofer; Münster, 26. September/ Wolfgang Rößler; Frankfurt am Main, 14. Oktober/ Carl Orff; Hamburg, 26. Oktober/ C.M.von Weber Kompilation von Bernhard Eichhorn; Schneidemühl, 8. November/ C.M.von Weber Kompilation von Eichhorn; Göttingen, 7. Dezember/ Carl Orff; Wesermünde, 25. September/ Theodor Holterdorf.
Von welcher Seite man es auch angehen mag; war es künstlerische Profilierungssucht und Karrierismus, völkisch-rassistische Überzeugungstat, indifferentes Mitläufertum oder schlichtweg politisch-ästhetische Unbedarftheit als Beweggrund?
Alle
diese Komponisten, Arrangeure und Schauspielmusikdirektoren machten sich schuldig.
Schuldig des Tatbestandes, als willfährige Helfershelfer eines inhumanem,
mörderischen, rassistischen Regimes zur Hand gewesen zu sein, einem verbrieften
Kapitel deutscher Theatergeschichte, also deutscher Kulturgeschichte letztendlich
den Bezug auf, die Erinnerung an ein zentral bedeutsames Werk des Komponisten
Felix Mendelssohn Bartholdy auszutreiben. Eine Schuld, welcher man sich, wie in
so vielen Bereichen der NS-Täterschaft unisono geschehenem, nach 1945 zumeist
weder zu stellen, noch einzugestehen und aufzuarbeiten bereit war. Auch dies mangelnde
Schuldbekenntnis hinsichtlich tätiger Ausmerzung von lebendiger gewachsener
kultureller Tradition ist ein wesentlicher Aspekt der so lange Zeit nachgeradezu
verhinderten, vermissten ausgleichenden Rehabilitation des Komponisten Felix Mendelssohn
Bartholdy.
Fred Prieberg bringt dies Phänomen völkisch-kulturellen Exorzismus und die Schuld der musikalischen Helfershelfer trefflich auf den Punkt, indem er zu dem Schluss kommt, "daß sämtliche neuen "Sommernachtstraum"-Musiken zwischen 1933 und 1945 - so viele wie nie zuvor oder danach in einem Jahrdutzend - nur eine einzige Aufgabe hatte: Mendelssohn zu ersetzen. Wer auch immer in dieser Periode mit einer Partitur zu Shakespeares Werk befasst war, trug wissentlich und willentlich dazu bei, den "Juden" Mendelssohn abzuschaffen. (...) Daß Musiker weithin den politischen Stellenwert ihrer Beteiligung an der historischen Liquidierung Mendelssohns nicht begriffen, wofern sie ihre Beteiligung später nicht überhaupt bestritten, lehrt eine andere Episode vielleicht noch eindringlicher"
Dennoch wurde keine der genannten Kompositionen theaterübergreifend als dauerhaft befriedigend eingeschätzt, wurden sie vielmehr als lokale Verlegenheitslösungen angesehen. Keine derselben konnte den Rang einer spezifischen, "gültigen", allgemeinverbindlichen Vertonung des Sujets einnehmen, so wie Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Musik bis zum Beginn des "III.-Reiches" ja empfunden wurde. So überdies auch eine offenkundige grosse Ausnahme hinsichtlich eines musikalischen Gesamtwerkes, dessen Wertschätzung ja bereits vor 1933 erheblich im Schwinden begriffen war.
Der Rezensent Hans Wyneken erhob in der Deutschen Musikwoche VII vom
29. Juli 1939 im Rückblick auf die Heidelberger Reichsfestspiele (dort spielte
man ja die Weber-Kompilation Eichhorns) denn auch die Frage nach einer definitiven
Neuvertonung des Sujets:
"Trotz alledem bleibt der Wunsch nach
einer ganz neuen, auf eigenen Füssen stehenden Sommernachtstraum-Musik offen.
Wer schreibt sie?"
28.
Von bajuwarischen Sommernachtsträumen
Neben Rudolf Wagner-Regenyi erbot sich mit Carl Orff der einzig prominente Komponist den Machthabern zur Komposition des "Sommernachtstraumes"; ja der einzige, dessen Prominenz eingeschränkt bis in unsere Tage andauert. Freilich nur aufgrund eines einzigen Werkes, jener Cantiones profanes nach der alten Benediktbeurischen Handschrift "Carmina Burana", deren ungemein erfolgreicher Premiere in Frankfurt am Main im Jahre 1937 der Komponist einen kometenhaften Aufstieg verdankte.
Die Initiative
zu einer weiteren "Sommernachtstraum"-Vertonung ging vom Generalintendanten
der Frankfurter Bühnen Hans Meissner aus. Er schlug dem Frankfurter Oberbürgermeister
in einem Schreiben vom 2. April 1938 dabei auch sogleich Carl Orff als Komponisten
vor. Der Intendant, dessen Stellvertreter, SS-Obersturmbannführer Frank Bethge
und der Frankfurter Oberbürgermeister, Dr. Fritz Krebs, welcher auch Kreisleiter
der NSDAP Frankfurt und Präsidialratsmitglied der Reichsmusikkammer war,
stimmten vollkommen in der Ansicht überein, dass diese Komposition den Rang
der Allgemeingültigkeit für alle deutschen Theater einnehmen müsse.
Meissner schrieb als an Dr. Krebs:
"Die Aufführung von Shakespeares
"Sommernachtstraum" scheitert immer wieder daran, daß noch keine
Musik geschaffen ist, die der künstlerischen Höhe der Dichtung ebenbürtig
ist. Ich möchte vorschlagen, dem Münchner Tondichter Carl Orff, der
durch die "Carmina Burana" die persönliche Eigenart seiner musikalischen
Erfindungs- und Gestaltungskraft unter Beweis gestellt hat, mit der Schaffung
einer Musik zu Shakespeares Dichtung zu beauftragen."
Die Selbstverständlichkeit der Einklagung eines Vakuums, eines Mangels, der Einforderung einer Komposition des Sujets - quasi so, als ob es eine Musik Mendelssohns zu diesem Thema niemals gegeben hätte - durch Meissner, beweist, wie sehr sich auch dieser bedeutende Theatermann bereits korrumpiert hatte. Wie gross dessen willentliche und wissentliche Bereitschaft ausgeprägt war, an einem Vorgang teilzuhaben, den Fred Prieberg als "schöpferische Verdrängung Mendelssohns" bezeichnete.
Prieberg konstatierte also des Weiteren zu Recht: "Denn schöpferische Verdrängung Mendelssohns - und das ist mehr als bloße Austreibung - gehörte zu den zentralen Zielen der NS-Musikpolitik. Ohne emsige Beihilfe durch Regisseure, Intendanten, Komponisten und Kapellmeister wäre sie schon im Ansatz gescheitert, wogegen eben erst diese tätige Unterstützung suggerierte, der Zweck sei rechtens und daher eine gleichsam historisch bedingte Erscheinung."
Die Idee Dr. Krebs, die Komposition in einem Wettbewerb hochrangiger Komponisten - gedacht war dabei an Orff, Herrmann Reuter und Werner Egk, wurde dabei von Meissner als kontraproduktiv verworfen.
Carl Orff akzeptierte, in der Hoffnung auf dauerhafte Patronage seitens jener hochrangigen Frankfurter NSDAP-Funktionäre, ein Honorar von 5000 RM und machte sich an eine archaisch eingestimmte Vertonung des Sujets.
In einem Dankschreiben an Oberbürgermeister Dr. Krebs vom 10. Juli 1938 bestätigte er die Auftragsübernahme:
"Sehr geehrter Herr Staatsrat! Ich empfing heute mit großer Freude die Auftragserteilung zu einer Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum durch Herrn Generalintendanten Meißner, und ich danke Ihnen außerordentlich für das wiederum bewiesene Vertrauen. Ich freue mich sehr, die handschriftliche Partitur nach Fertigstellung der Arbeit der Stadt Frankfurt am Main übergeben zu können, denn ich verdanke der Stadt und damit Ihnen, sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, eine entscheidende künstlerische Förderung und bin glücklich, daß ein weiteres Werk von mir in Ihrem Theater zur Aufführung kommen soll.
Mit ergebenen Grüssen, Heil Hitler!"
Die Orffsche Komposition wurde nach ihrer, wahrscheinlich Mitte Oktober 1938 erfolgten Premiere von der Presse nachgeradezu hymnisch aufgenommen. So schrieb der Rezensent Walter Dirks in der "Neuen Musikzeitung" von November 1938 von der Enttäuschung jener "die zu sehr an den durch Mendelssohn vorgeprägten Vorstellungen festhielten, vielleicht auch" (jener) "denen eine Musik von Shakespearescher seelischer Mächtigkeit vorschwebte. Von solchen Ansprüchen muß man absehen, wenn man würdigen will, was Orff geleistet hat: eine für heute und viele Jahre gültige praktikable, würdige und durchaus angemessene Musik dienender Haltung. Es ist Orff geglückt, für die mancherlei Situationen in den verschiedenen Sphären des zauberhaften Werkes (in der höfischen, der elfischen, der panischen, der Rüpelsphäre) ungemein treffende Formulierungen zu finden."
Fred Prieberg weist noch 9 weitere positiv ausgefallene Rezensionen in Zeitungen des gesamten damaligen Reichsgebietes nach, ein Zeichen dafür, dass die Uraufführung des Orff-Werkes als ein Theaterereignis überregionalen Ranges angesehen oder von den NS-Institutionen Frankfurts zumindest reichsweit propagandistisch als solches lanciert wurde.
Im Gegensatz zur Presse reagierten die Theater eher verhalten auf die Vorstellung einer weiteren "Sommernachtstraum"-Partitur. So werden bei Fred Prieberg nurmehr 4 weitere Bühnen genannt, welche auf die Orffsche Komposition in der Originalgestalt oder in einer Bearbeitung durch den Komponisten zurückgriffen: die Theater in Göttingen (Dezember 1943), in Karlsruhe (1940), Mainz (1943) und Leipzig (1944).
Der Komponist behauptete später, sich bereits 1917 und auch
vor 1933 mit dem "Sommernachtstraum"-Sujet auseinandergesetzt zu haben
und suggerierte dadurch, dass das Werk somit innerhalb seines Oeuvres quasi organisch
herangereift. Dass demselben kein nationalsozialistischer Hintergrund oder eine
gezielte Mendelssohn-Verdrängung gar unterstellt werden könne.
Fakt
ist, dass Orff das Werk in Zeiten des III. Reiches komponierte, vorstellte und
mehrfach umarbeitete, so liegen Fassungen aus den Jahren 1943 und 1944 vor.
Der
Orffsche Sommernachtstraum wurde bereits im Jahre 1938 in dessen "Hausverlag"
B. Schotts Söhne in Mainz verlegt, welcher zur Uraufführung etwas voreilig
bereits 300 Klavierauszüge zur Ansicht in den Theatern und im Jahre 1944
weitere 400 Klavierauszüge einer bearbeiteten Fassung vorlegte. Weitere Retuschen
des Werkes datieren aus dem Jahre 1952.
Und dies das Novum dieser Komposition aus einer langen Reihe von denselben unseligen Anlasses (insgesamt 44 hat Prieberg recherchiert): es war die einzige, welche nach 1945, in der BRD noch und wieder gespielt wurde. Dabei wirkten 2 Umstände zusammen. Ein namhafter, erfolgreicher Komponist, welchem seine Verstrickungen in Ereignisse und Machenschaften der NS-Zeit offenkundig nichts anzuhaben vermochte. Sowie dessen "gut eingeführte(r), mächtige(r), und seine Werbe- und Wirtschaftskraft nach dem Zusammenbruch des Reiches erst recht aufbauenden Groß-Verlegers" (Prieberg), welcher das Werk zugkräftig an die deutschen Bühnen lancierte. Ungeachtet der Tatsache, das zur ersten Bühnenproduktion nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur im Dezember 1945 wieder Felix Mendelssohn gegeben wurde.
Des Bemühens um eine neue Einzigartigkeit der Orffschen "Sommernachtstraum"-Musik durch Frankfurter NS-Funktionäre zum Trotze entstanden auch nach Fertigstellung derselben an deutschen Bühnen noch weitere Fassungen. So beauftragte der legendäre Theatermann Dr. Saladin Schmitt im Frühjahr 1940 den Hauskomponisten des Bochumer Schauspielhauses Emil Peters mit einer Bühnenmusik zum "Sommernachtstraum", Sie wurde am 24. März 1940 uraufgeführt. Der Komponist lehnte eine vollständige Neukomposition des Themas allerdings ab - aus eigenschöpferischen Skrupeln gegen eine offenkundige Mendelssohn-Verdrängung heraus? - und griff ein weiteres Mal auf Kompositionen Carl Maria von Webers zurück.
Der namhafte Regisseur Franz Stroux brachte das Stück am 20. September 1939 am Wiener Burgtheater mit der bereits genannten Musik Franz Salmhofers heraus. Am 18. Januar 1940 erschien das Werk am Stadttheater Wilhelmshaven mit der gleichsam bereits erwähnten Musik Theodor Holterdorfs auf der Bühne; Bielefeld sah das gleiche Stück am 13. April 1940 mit der Musik von Adam Rauh. Am 30. April 1940 reüssierte eine Musik von Konrad Brenner am Theater Ulm; am 1. Mai jene von Franz Binder in Karlsbad.
All diesen Lösungen zum Trotze konstatierte Rudolf Sonner in "Musikstadt Wien" vom 6. März 1939 anlässlich einer Sylvestervorstellung des "Deutschen Volkstheaters" in Wien weiterhin die dringliche Notwendigkeit neuer "Sommernachtstraum"-Kompositionen. Dabei versuchte er nach Kräften das übermächtig präsente Vorbild Mendelssohns, unter zeitgeistgerecht perfidem Rückgriff auf ein Vokabular völkisch-rassistischer Schmähung und pure Behauptungen, nach Kräften zu demontieren:
"Die unwirklich-wirkliche Welt des "Sommernachtstraums", die Shakespeare in die Schönheit seiner Verse gebannt hat, der kraftvolle Humor, der Übermut und die zarte Innigkeit, all das gibt einem echten Musiker Gelegenheit zu einer Begleitmusik, ja fordert eine solche geradezu heraus. Gewisse Kräfte trauern heute noch der Sommernachtstraum-Musik des Juden Mendelssohn nach und tun so, als bedeute ein Verzicht auf diese einen unwiederbringlichen Verlust.
Mendelssohn
war ein Exponent des Judentums, und darum wurde seine Musik so aufdringlich in
den Vordergrund geschoben. Ihren Gehalten nach hat sie das gar nicht verdient;
denn schon die Ouvertüre ist ein billiges Potpourri gestohlener Themen von
Johann Rudolf Zumsteeg und C. M. von Weber, verkittet mit französischer Ballettmusik.
Nichts von dieser mauschelnden Geschwätzigkeit findet sich in der neuen Sommernachtstraummusik
von Ludwig Maurick."
Otto Falckenberg, der berühmte Intendant
der Münchner Kammerspiele schliesslich verlagerte anlässlich einer Neuinszenierung
im Frühjahr 1941 die Problematik beflissentlich von der unumgänglich
bestehenden Ebene kulturpolitischer Doktrinen auf eine solche rein ästhetischer
Argumentation. Er sprach Mendelssohns Musik schlichtweg die Eignung einer Bühnenmusik
zu Shakespeares Werk ab:
"Mendelssohn hat gar nicht versucht, eine
wirkliche Traummusik zu schreiben. Seine Musik ist thematisch klar durchgearbeitet
und von einer Konsequenz, die der Logik oder Unlogik des Traums nicht entspricht".
(Der neue Sommernachtstraum, Münchner Neueste Nachrichten v. 16. März
1941)
Darüberhinaus deklariert Falkenberg Mendelssohn als reinen Klassizisten und spricht ihm somit die Teilhabe an der deutschen Romantik ab; ja unterstellt ihm gar, als Romantiker und Bühnenkomponist eklatant versagt zu haben. Zur Münchner Neuinszenierung des Sommernachtstraumes erklang schliesslich eine Neukomposition von Gerhard Münch.
Das Jahr 1944 schliesslich brachte
noch zwei weitere Kompositionen zu Shakespeares Stück hervor. Hilde Pfeiffer-Dürkorp
arrangierte Musik des Rudolstädter Barockkomponisten Philipp Heinrich Erlebach
zu einer Inszenierung des Braunschweiger Staatstheaters im Park von Salve Hospes,
welche am 16. Juli 1944 ihre Premiere hatte.
Eine weitere Komposition
von den Händen Franz Anton Wolperts, eines Dozenten des Mozarteums in Salzburg
erfuhr kriegsbedingt nur noch eine konzertante Aufführung der Ouvertüre
am Mozarteum.
Dies stellt wohl den Endpunkt dar im Bestreben, ein unbestrittenes, tief im Denken und Empfinden der Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts verankertes Meisterwerk rückstandslos zu eliminieren. Es mitsamt dem Komponisten ein für allemal historisch zu entsorgen. Nun, die Sommernachtstraum-Musik dürfte weiterhin zu den bekanntesten und beliebtesten Werken des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy zählen. Keine der vom Regime anbefohlenen und eilfertig vollführten Surrogatmusiken konnte sich nach 1945 als ernsthafte Alternative bühnenpraktisch behaupten.
Carl Orffs Komposition zumindest konnte sich, mit tätiger Unterstützung eines einflussreichen Musikverlages in den Kulturbetrieb der BRD hinüberretten. Wurde von diesem in einem demokratisch orientierten Staat mit einer Selbstverständlichkeit als hochrangiges Kulturgut verbreitet, als hätte es das auftraggebende verbrecherische Regime niemals gegeben. Als wäre sie niemals aus dem Bestreben der Beihilfe heraus, Felix Mendelssohn Bartholdys Werk endgültig zu eliminieren entstanden.
Als hätte Orff die blumig verklausulierte Auftragsbestätigung niemals mit einem schneidigen "Heil Hitler" unterzeichnet. Aber auch sie ist mittlerweile Vergangenheit, musikalisch dahingeschieden, tot; Nebenerzeugnis eines bayerischen Kleinmeisters, welcher lediglich mit einer spektakulären Komposition sowie in einem Schulwerk für Kinder im Bewusstsein der Musikfreunde präsent ist. Rudolf Wagner-Regény, dem einzigen Komponisten neben Carl Orff mit einer gewissen Prominenz versehen, welcher sich auf das nationalsozialistische Ansinnen einliess, gelang mit seiner Komposition nicht einmal der Sprung in die Nachkriegszeit. Der Musikverlag der NS-Kulturgemeinde, welcher das Werk herausbrachte, fand mit dem Regime gemeinsam sein folgerichtiges Ende und erfuhr nach dem Kriege keine Neugründung.
In seinem Standardwerk "Musik im NS-Staat" schliesst Fred Prieberg das
Felix Mendelssohn gewidmete Kapitel denn auch mit der kurzen, betont nüchtern
gehaltenen Erklärung: "Die Sommernachtstraum-Musik indessen hat die
Führer des Nationalsozialismus und ihre Politik der schöpferischen Liquidierung
unbeschadet überstanden".
Intermezzo
VI: "Die hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart"
Prieberg irrte in diesem Punkt nachweislich. In der BRD herrschte ein unsägliches Klima zügig vorgenommener Restauration vor. Jenes erschloss einstigen, nationalsozialistisch ausgeprägten Eliten der Bereiche Politik, Militär, Rechtswesen, Medizin, Kultur und akademische Bildung im Zeichen unbedingten förderalistischen Wohlfahrtsbestrebens sowie der Anbiederung an die USA in steigendem Maße neue Wirkungskreise. So gewährleisteten musikpublizistische Koryphäen, getreuliche Diener oder Mitläufer des gefallenen Regimes, nicht zuletzt auch die ungebrochene Kontinuität eines anämisch gezeichneten Mendelssohn-Bildes.
Dies Phänomen eingehender darzulegen, wollen wir uns an dieser Stelle ein wesentliches Fundament, einen Bestandteil musikalisch-akademischen Lehrens in der BRD nach 1945 auf seine Substanz, seine Verwurzelung zurück in Zeiten des NS-Regimes hin betrachten.
Im Jahre 1949 veröffentlichte der Bärenreiter-Verlag in Kassel den ersten Band einer neuzeitlich-musikalischen Enzyklopädie, welche unter dem Titel "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG) reüssierte. Als Herausgeber wirkte der hochangesehene Freiburger Musikwissenschaftler Friedrich Blume. Die Edition war auf insgesamt 20 Bände angelegt, deren Folgeveröffentlichungen sich bis in die sechziher Jahre hinziehen sollten. Die Creme zeitgenössischer deutscher Musikwissenschaft wurde in die Erarbeitung der Enzyklopädie eingebunden; ausgesuchte europäische und amerikanische Musikologen sekundierend herangezogen. MGG zählte, als Kompendium, verbindliche Quintessenz musikwissenschaftlichen Strebens mehrerer Generationen verstanden, zum Grundbestand jedweder musikalischer Bildung und -Lehre der BRD und war somit als Bestandteil jeder seriös konzipierten Bibliothek eingegliedert. Der Anteil, von der Edition Bärenreiter zu erheben am Verdienst, ein Bildungsgut von so zentraler Bedeutung, weitreichender Folgewirkung konzipiert und realisiert zu haben, ist allerdings kein entscheidender.
"Musik
in Geschichte und Gegenwart" wurde vielmehr als Projekt der "Hohen Schule"
innerhalb des Amtes Rosenberg in Auftrag gegeben, erste konzeptionelle Dispositionen
lassen sich bereits für August 1939 nachweisen. Als Projektleiter agierte
der im Zusammenhang mit dem Lexikon der Juden in der Musik bereits genannte Heinz
Gerigk; als Autoren wurden u. a. die Musikwissenschaftler Friedrich Blume, Wolfgang
Boetticher, Werner Danckert, Karl Gustav Fellerer, Prof. Rudolf Gerber, Ewald
Jammers, Prof. Hellmuth Osthoff, Erich Schenk, Heinrich Schole, Erich Schumann
und Rudolf Sonner verpflichtet. Alle hier genannten hatten sich zu diesem Zeitpunkt
bereits innerhalb musikanthropologischer oder kultur-rassetheoretischer Projekte
des Nationalsozialismus profiliert. Die Teilnahme einer von Gerigk herausdefinierten
Elite nationalsozialistisch-musikideologischer Überzeugung an einem von der
Parteileitung zum Renommier-Projekt erklärten enzyklopädischen Vorhaben
wurde von den Sicherheitsdiensten dementsprechend abgesegnet.
Friedrich Blume, Ewald Jammers und Karl Gustav Fellerer waren des weiteren auch im Rahmen des SS-Projektes Ahnenerbe tätig. Blume betreute darüberhinaus auch eine Publikationsreihe des Namens: Schriften zur musikalischen Volks- und Rassenkunde. Karl Gustav Fellerer wiederum entlarvt sich in Briefdokumenten privater Natur als schneidiger, nationalsozialistisch engagierter, akademischer Intrigant und Karrierist. So verhöhnte er den missliebigen jüdischen Akademiker Fischer als "Schweizer Idioten", frohlockte im August 1939 wohlinformiert (also exorbitant regimenah!), ein polnischer Professor namens von Oulikovski mitsamt seinen Landsleuten bezöge dafür, das er dem "Idioten" Fischer die Stange gehalten habe, "bald die entsprechende Abreibung". Er belobigte die Projektleitung Herbert Gerigks für MGG nach der Prämisse des erprobten "Führerprinzips" und insistierte auf die Definition "neue(r) Gesichtspunkte und Nachschlagworte" zur Unterscheidung von "den übrigen, eingekalkten Lexika", damit "man (...) zum Stammhaften und Rassischen (...) (Sippe)" vorstossen könne. Die Briefe schliessen erwartungsgemäss mit "Heil Hitler!"
Im Februar 1940 vermeldete Gerigk dem designierten Autor Prof. Rudolf Gerber (ein "begeisterter Nationalsozialist"/ Eva Weissweiler) emphatisch, daß "der Führer befohlen" habe, "daß auch in der Kriegszeit namentlich die Forschungsarbeit weitergeführt werden" sollte und der Enzyklopädie daher derzeit "für die einzelnen Teilgebiete (...) aus unserer Stichwortkartei die Listen der bisher erfassten Namen und Stichworte zusammengestellt" würden und "insgesamt bereits (...) die Zahl von 20000 überschritten" sei. Die wissenschaftliche Integrität der Projektverantwortlichen erscheint nicht zuletzt dadurch zunehmend in Zweifel gezogen, daß jene besagten 20000 Namen und Stichworten, zugrundeliegende Systematik vollständig den Enzyklopädien Riemanns, H. J. Mosers sowie des im Jahre 1926 herausgegebenen "Neuen Musiklexikons" des jüdischen Musikwissenschaftlers Alfred Einstein entlehnt worden war. Ende des Jahres 1943 kündete der Bärenreiter-Verlag, Kassel die absehbare Publikation von "Musik in Geschichte und Gegenwart" an und nannte Friedrich Blume nunmehr als Herausgeber. Die Kriegswirren des Jahres 1943, welche vermittels unausgesetzter alliierter Bombenangriffe auf deutsche Städte nunmehr zunehmend auch deutsches Kerngebiet erreichten, bedingten die Auslagerung des Amtes Musik und seiner Aktivitäten in sichere Provinzstädte.
Während Gerigk mit der Behörde
nach Schlesien abwanderte, wurde der Gesamtbestand bisheriger MGG-Recherche an
die Universität Kiel delegiert, welche sich kriegsbedingt mittlerweile zur
Dependance der "hohen Schule" entwickelt hatte und mit Blume über
eine renommierte, langjährig verdiente akademische Kraft verfügen konnte.
Ob Blume von den Behördenvorständen Rosenberg oder Gerigk umständehalber
mit der Edition von MGG betraut wurde oder ob es jenen möglicherweise aus
den Händen geglitten war und sich Blume den zur Fortsetzung der Erarbeitung
der Enzyklopädie notwendigen Parteisegen anderweitig zu verschaffen verstand,
ist nicht mehr nachzuvollziehen. Rivalitäten zwischen gemässigt nationalsozialistisch
infiltrierten Akademikern wie Friedrich Blume, Hans Joachim Moser und Schole einerseits
und erklärt-ideologischen Überzeugungstätern wie Gerigk, Boetticher,
Fellerer, Gerber etc. sind aktenkundig; so wurde Blume beispielsweise Mitte des
Jahre 1940 das designierte Referat protestantischer Kirchenmusik in MGG zugunsten
Gerbers wieder entzogen.
Das Gerigk sich noch im April 1944 hartnäckig um die Frontbefreiung wesensverwandter nationalsozialistischer Wissenschaftler wie Fellerer, Gerber, Osthoff und Boetticher bemühte (alles Namen, welche im Zusammenhang mit dem Enzyklopädie-Projekt schon genannt wurden), spricht allerdings in hohem Maße dafür, dass er jene zur Fortsetzung der Konzeption von MGG einzusetzen trachtete und Blume in Kiel als neuer Herausgeber der Enzyklopädie somit auf strikte Anweisungen des Amtes Rosenberg und Gerigks agierte. Im April des Jahres 1944 wurde das Projekt MGG von hochrangigen Partei- und Regimebehörden denn auch kontrovers erörtert. So verwies die N.S.D.A.P.-Verwaltung im Münchner Führerbau in einem Schreiben an das "Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung" auf das Problem, "eine umfassende, mehrbändige Enzyklopädie (...) die gesamte Musik aller Länder und Zeiten umfasse (...) jetzt überhaupt" anzukündigen, da man "es für ein eine Benachteilgung der bei der Wehrmacht befindlichen Fachvertreter und des gesamten Nachwuchses" gleichdort befindlich hielte, "wenn für diese Standardwerke die Daheimgebliebenen unter sich die Aufteilung vornehmen".
Die Anfrage, etwa ein Jahr vor dem Zusammenbruch des Regimes formuliert, spricht, eindeutig oder indirekt zwei wesentliche Sachverhalte im Umfeld des Projektes an. Zum einen verweist sie, ungewollt zwar, aber wahrhaft prophetisch, auf die zukünftige Relevanz unbestreitbar nationalsozialistisch indoktrinierten musikwissenschaftlichen Nachwuchses für die Jahre nach 1945.
Zum anderen spielt sie unverhohlen auf den Umstand an, das die Erarbeitung der Enzyklopädie mittlerweile möglicherweise einer verschworenen musikwissenschaftlichen Clique nurmehr als Vorwand diente, der Front ferngehalten zu werden und somit im Schutze des Projektes das Kriegsende abzuwarten. Prof. Gerber gestand genau dies bereits in mehreren an Projektleiter Gerigk gerichteten Schreiben des Jahres 1940 offen ein: Wunsch nach Teilhabe am Prestigeprojekt des Regimes, welche ihm, dem Intellektuellen besser und nützlicher anstehe als das Waffenhandwerk, indem sich ja verstärkt die Primitivität und Einfalt zum Wohle des Deutschen Volkes üben könne.
Im
September 1944 bezeugte die Essener Allgemeine Zeitung ungebrochen fortgeführte
Aktivitäten hinsichtlich MGG dadurch, das sie auf das baldige Erscheinen
eines herausragenden Projektes der "deutschen Musikforschung", genauer:
die Veröffentlichung einer "umfassende(n), grosszügige(n) musikalische(n)
Enzyklopädie" hinwies, welche eine "Gemeinschaftsarbeit führender
deutscher Musikforscher" darstelle und den Titel "Musik in Geschichte
und Gegenwart" tragen werde.
Wie eingangs erwähnt , fand die
Publikation des ersten Bandes von Musik in Geschichte und Gegenwart im Jahre 1949
statt; als Herausgeber und Verlag firmierte weiterhin Friedrich Blume. Massgeblich
beteiligt an der Erarbeitung des ersten und weiterer Bände waren die ehemaligen
Gerigk-Untergebenen Boetticher, Danckert, Fellerer, Gerber, Jammers, Osthoff,
Schenk. Eva Weissweiler schildert in ihrer engagiert und umfassend vorgelegten
Studie über "das Lexikon der Juden in der Musik" (incl. Kompletten
Faksimile-Reprints desselben !) und das Amt Gerigk trefflich, wie die Mitarbeit
der genannten an der Bärenreiter-Enzyklopädie konkret vonstatten gegangen
sein mochte: " Sie brauchten nur ihre Manuskripte aus der Schublade zu holen
und die schlimmsten nationalsozialistischen Formulierungen daraus zu streichen.
Blume und die Edition Bärenreiter verwandten wenig Sorgfalt auf
humanistisch-anthropologische Bereinigung des Materials oder eher überhaupt
keine. Die mit der Edition übernommene Teilverantwortung für das bildungsspezifische
Klima des neuen Föderalismus muss ihnen vollkommen gleichgültig gewesen
sein. Wie wäre es sonst zu verstehen, das die genannten "führenden
Musikforscher" des ehemaligen Regimes die autobiographischen Einträge
in MGG eigenhändig autorisieren und ihre Biographie somit erstmalig manipulieren
durften? Auch andere "internationale Musiklexika" (de Vriess) griffen
auf die Fähigkeiten der ehemaligen Gerigk-Mitarbeiter zurück, möglicherweise
getäuscht durch die neugewonnen-manipulierte biographisch-akademische Integrität.
Substanzieller noch sollte sich auswirken, das man beispielsweise einem ausgewiesenen
nationalsozialistischen Überzeugungstäter wie Boetticher das Referat
über jüdische Musiker überliess. Wie jenes über Joseph Joachim,
den Weggefährten Mendelssohn Bartholdys, Johannes Brahms und Clara Schumanns.
Der Band von Musik in Geschichte und Gegenwart, der auch Felix Mendelssohn Bartholdy
zur Veranschaulichung bringt, erschien editionsbedingt erst im Jahre 1961.
Es referiert dort der über jeden Zweifel erhabene amerikanische Mendelssohn-Forscher Eric Werner. Sein Text weist stellenweise eine Reserviertheit gegenüber Leben und Werk Felix Mendelssohns auf, die sich im später veröffentlichten, Mendelssohn gewidmeten Hauptwerk Werners, so nicht findet.
Der Herausgeber von MGG, Friedrich Blume referierte, wie bereits erwähnt, im August des Jahres 1938 in der Zeitschrift "Musik" über die Fragestellung "Musik und Rasse - Grundlagen einer musikalischen Rasseforschung". Er attestierte sich in seinem im Jahre 1938 vorgelegten Lebenslauf u. a. auch die Erarbeitung von "musikalischer Volks- und Rassenkunde und musikalische(r) Raumforschung" und nahm im III. Reich u. a. folgende Positionen wahr:
1933 außerordentlicher
Professor an der Berliner Universität, 1934 Leitung des "Musikwissenschaftlichen
Institutes", 1935 Mitglied des "Staatlichen Institutes für Deutsche
Musikforschung", 1938 Ordinarius der Universität Kiel, 1939 Leitung
des "Institutes Erbe deutscher Musik" und Redaktion der Zeitschrift
"Deutsche Musikkultur", letztere beiden fester Bestandteil nationalsozialistisch-rassistischer
Kulturpolitik.
Des weiteren betätigte er sich als Referent und Herausgeber
einschlägig belasteten und belastenden Gedankengutes und Schriftentums. Bei
den ersten Reichsmusiktagen im Jahre 1938 referierte Friedrich Blume über
das Thema "Musik und Rasse - Grundlagen einer musikalischen Rasseforschung",
welches ja auch Grundlage jenes in der Zeitschrift "Musik" veröffentlichten
Aufsatzes war. Im gleichen Jahre gab er das Buch "Das Rasseproblem in der
Musik" heraus. Es war dies die erste Ausgabe der von Blume publizierten "Schriften
zur musikalischen Volks- und Rassenkunde"; noch drei Bände sollten bis
zum Jahre 1944 folgen.
In der ab 1994 herausgegebenen Neuausgabe von MGG
bestreitet der Bärenreiter-Verlag und der Herausgeber Ludwig Finscher jedwede
Verbindung der Erstausgabe von der Enzyklopädie zum Nationalsozialismus und
tut den Gedanken daran als Spekulation Wilhelm de Vriess ab. So ist in dem biographischen
Abriss, welchen die Enzyklopädie dem Erstherausgeber Friedrich Blume widmet
zu lesen: "Im Jahre 1943 begab Blume auf Anregung des Gründers des Bärenreiter-Verlages
Karl Vötterle und zusammen mit Hans Albrecht mit der Vorbereitung der Enzyklopädie
"Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Dass diese Arbeit irgendetwas mit
Plänen und Materialsammlungen von Herbert Gerigk für eine von diesem
spätestens seit 1939 geplante Enzyklopädie zu tun gehabt haben könnte,
wie de Vriess 1998, 108 -115 behauptet, ist pure Spekulation."
Das
Buch von Eva Weissweiler, welches die Sachlage einer Initiierung von MGG durch
die "Hohe Schule" der NSDAP und Herbert Gerigk erhärtet, war zu
jenem Zeitpunkt noch nicht erschienen. Die Erklärung in der Blume-Biographie
der Neuausgabe wiederum muss als pure Behauptung des Verlages, genauer, als Schutzbehauptung
angesehen werden.
In den Vorworten zu den verschiedenen Auflagen erkennt
sich der Bärenreiterverlag wiederholt das alleinige Verdienst um Initiierung
von MGG zu und verweist im übrigen auf den Herausgeber Friedrich Blume. So
schreibt Blume in seinem Vorwort des abgeschlossenen 1. Bandes aus dem Jahre 1951/
Tb-Ausgabe 1989:
"Der Gedanke der Enzyklopädie ist bereits
1943 von dem Bärenreiter-Verlag in Kassel ausgegangen und ist seitdem in
ständigem engem Gedankenaustausch zwischen ihm und dem Herausgeber unter
allmählicher Einbeziehung vieler Mitarbeiter und Helfer entwickelt worden".
Ludwig Finscher wiederum schreibt im Vorwort des im Jahre 1994 erschienenen Bandes der Neuausgabe von MGG: "Die Zeit, in der Karl Vötterle und Friedrich Blume, der Musikverleger und der Musikwissenschaftler, die schon in den letzten Jahren des zweiten Weltkrieges entwickelte Konzeption der MGG zu verwirklichen begannen, war einzigartig (...)
Ungewöhnlich war, daß Friedrich Blume
als der Spiritus rector des Unternehmens eine viel weiter reichende Konsequenz
aus der Situation zog: Die Entwicklung nicht eines Lexikons, sondern einer Enzyklopädie,
wie es schon im Geleitwort zur ersten Lieferung 1949 heißt."
2 Faktoren sind massgeblich geeignet, die Behauptungen des Bärenreiter-Verlages und seiner Herausgeber, die Entwicklung der Enzyklopädie stehe jeder Verwurzelung im Nationalsozialismus vollständig fern, zu widerlegen.
Erinnern wir uns der Meldung in der "Essener Allgemeinen Zeitung" von September 1944 hinsichtlich baldigen Erscheinens eines herausragenden Projektes der "deutschen Musikforschung", genauer: die Veröffentlichung einer "umfassende(n), grosszügige(n) musikalische(n) Enzyklopädie", welche eine "Gemeinschaftsarbeit führender deutscher Musikforscher" darstelle und den Titel "Musik in Geschichte und Gegenwart" tragen werde.
In dieser Meldung wird der ausserordentliche Rang, die Dramaturgie und der Umfang der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" explizit vorweggenommen und hervorgehoben. Nun, beide Instanzen, der Verleger Karl Vötterle und sein Bärenreiter-Verlag sowie der Musikwissenschaftler Friedrich Blume, verfügten in den Kriegsjahren 1943 - 45 wohl kaum über die Machtvollkommenheit, ein Unternehmen solchen Ausmaßes zu konzipieren und vorzubereiten. Es ist wenig glaubhaft, dass Blume als Ordinarius der Universität Kiel, also von einer Provinzuniversität aus, obgleich er Mitglied und Präsident div. musikwissenschaftlicher Gesellschaften war, autonom, fern jeder Weisung und Kontrolle durch die Partei ein herausragendes Projekt der "deutschen Musikforschung" zu initiieren imstande war. Eine "Gemeinschaftsarbeit führender deutscher Musikforscher" (Essener Allgemeine 1944) "unter ...Einbeziehung vieler Mitarbeiter und Helfer" (Blume 1951) herzustellen. Des gleichen war ein kleiner Musikverlag in Kassel dazu nicht in der Lage.
Wie wir gesehen haben, unterlagen führende Wissenschaftler und ihre Tätigkeit der Zustimmung und Aufsicht von Parteigremien, wurden Wissenschaftler, die an Projekten teilnehmen sollten, von der Partei auf ihre ideologische Zuverlässigkeit hin durchleuchtet.
Eva Weissweiler dokumentiert in "Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik" treffend das Wesen der von der Partei ausgeübten Kontrolle über etwaige in Kriegszeiten vollführte wissenschaftliche Arbeit: "Von irgendeiner direkten oder indirekten Form der Mitarbeit bei Forschungsunternehmen der NSDAP, SS oder "Hohen Schule" war allerdings kaum ein namhafter deutscher Musikwissenschaftler freizusprechen; denn der politische "Anschluss" an offiziell gebilligte Publikationsprojekte dieser Art stellte (...) nahezu die einzige Möglichkeit dar, in Kriegszeiten überhaupt noch veröffentlichen zu können. Jeder Versuch eines wissenschaftlichen "Alleingangs" (...) wäre von Gerigk und der "Parteiamtlichen Prüfungskomission zum Schutze des NS-Schrifttums gnadenlos unterdrückt worden". Obschon Hitler und die Partei Forschungsvorhaben gerade in Kriegszeiten höchste Priorität einräumten, wurde jeder Wissenschaftler, der nicht in derartige, von der Partei initiierte oder genehmigte Vorhaben eingebunden war, in den letzten Kriegsjahren zum Wehrdienst eingezogen.
Im Jahre 1944 schliesslich kamen unter dem Zeichen des "Totalen Krieges" nahezu alle kulturellen Aktivitäten in Deutschland zum Erliegen, stellten die Theater und Opernhäuser ihren Spielbetrieb ein, insofern sie nicht bereits zerstört waren, wurden die meisten wissenschaftlichen Vorhaben abgebrochen und die Verlage geschlossen. Für Projekte wie der Konzeption von MGG tätige Wissenschaftler wie Blume handelten in dieser Situation also unmittelbar auf Weisung, also unter Aufsicht nationalsozialistischer Funktionäre. Dabei bemängelten rivalisierende Parteigremien die Fragwürdigkeit einer bevorzugten Projekt-Beteiligung einzelner Forscher zuungunsten des gesamten sich an der Front befindlichen Nachwuchses. Gerigk musste somit um die Wehrdienst-Freistellung jedes einzelnen an der Vorbereitung von MGG beteiligten Wissenschaftlers kämpfen; wie bereits dargelegt, baten einzelne Akademiker dringlich um Aufnahme in das Projekt, um dem Frontdienst zu entgehen. Nein, weder Verleger Karl Vötterle noch der Ordinarius der Universität Kiel besassen in den letzten Kriegsjahren über genug Autorität und Einfluss, die deutsche Musikwissenschaft gezielt in die konzertierte Aktion der Erarbeitung eines monumentalen enzyklopädischen Vorhabens hineinzuführen.
Ein weiteres Indiz dafür, dass die Herausgeber von MGG lediglich ein Projekt der "Hohen Schule" der NSDAP weitergeführt hatten und keinesfalls als Urheber der Enzyklopädie gelten können, liefert Blume im Vorwort des 1. Bandes von 1949/51 selbst:
"Jedoch wurde das gerettete Karteimaterial im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel in der Stille weiter ausgebaut."
Damit bringt Blume die einstmals
von Gerigk erstellte Systematik von 20 000 Stichworten sowie das daraufhin erstellte
Karteikartensystem der MGG-Recherche ins Spiel, welches im Jahre 1943 auf Anordnung
Rosenbergs oder Gerigks an die Universität Kiel ausgelagert wurde. Ungeklärt
bleibt lediglich, ob Blume offiziell von Rosenberg oder Gerigk mit der Weiterführung
der Enzyklopädie beauftragt wurde oder aber die Partei gegen Kriegsende die
Kontrolle über das Projekt verlor, so dass er das Material übernehmen
und "in der Stille" einer abgeschiedenen Provinzuniversität über
die Stunde 0 hinaus ausbauen konnte.
29.
Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette...
Gleichsam im Jahre 1949 lässt sich auch der als ambivalent erinnerliche Hans-Joachim Moser wieder zum Thema Felix Mendelssohn vernehmen; in seinem "Lehrbuch der Musikgeschichte" vertritt er folgende Einschätzung:
"Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette, die bald behende, bald etwas sentimentale Kammermusik, die freundlichen Orgelsonaten verblassten vorzeitig infolge "ursacheloser Schwermut" und einer gewissen Glätte, die Überdruss erregte."
Arnold Schering sekundiert Moser im gleichen Jahre im Bemühen, alten Geist in vermeintlich neuen Zeiten lebensfähig zu halten. In den in Leipzig herausgegebenen Betrachtungen "Vom musikalischen Kunstwerk" veredelt er die Vorstellung vom künstlerischen Heros auf bezeichnende Weise.
In der Person des autonomen künstlerischen Genius Beethoven sucht er den Heros demonstrativ von der kleinbürgerlichen, vermittels sentimentaler Musikerromane und -filme transportierten, Popularisierung einer Stereotype des armen musikalischen Poeten unterm Dache, zu separieren. Schering nimmt dabei in Kauf, dass der im Jahre 1824 verstorbene Beethoven sich anachronistisch zu einer Problemstellung zu äußern hat, welche sich nachweislich erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ausprägte.
"Damals kam die Legende auf, ein grosser Künstler - insbesondere ein Tonkünstler - müsse jederzeit ein grosser Leidender am Leben gewesen sein. Wo, bei Gott, sollte sonst die überzeugende Macht seiner Schöpfung herkommen? Als klassisches Beispiel galt Beethoven. Kein anderer als dieser selbst, der männlichste unter den Klassikern, hat sich schärfer gegen diesen Aberglauben gewandt, in dem er das Wort sprach:
"Die meisten Menschen sind gerührt über etwas Gutes, das sind aber keine Künstlernaturen. Künstler sind feurig, aber sie weinen nicht - Rührung passt nur für Frauenzimmer; dem Manne muss Musik Feuer aus dem Geist schlagen."
Also muss auch Ludwig van Beethoven als Zeuge der zu jener Zeit weitverbreiteten Ansicht herhalten, dass die Poesie und der musikalische Humanismus eines Felix Mendelssohn im Reich wahrhaft grosser Musik keinen Raum haben könne.
Demgegenüber wurde im angloamerikanischen Sprachraum ein objektiverer Umgang mit musikhistorischen und -ästhetischen Entwicklungen, also auch dem musikalischen Erbe Felix Mendelssohns respektive seiner unangezweifelt bedeutsamen musikgeschichtlichen Stellung praktiziert als im deutschsprachigen Raum nach dem Kriege. Das beweisen zeitgenössische Musiklehrwerke der Exilanten Arnold Schönberg und Paul Hindemith, die Studienbeispiele aus Mendelssohns Werken zur Veranschaulichung von musikalischer Präzision und Formbeherrschung anführen.
Desgleichen gab die "Musical Times" im Leitartikel der Oktoberausgabe des Jahres 1947 (möglicherweise im Vorgriff auf Mendelssohns 100. Todestag am 4.11. dieses Jahres) zu Bedenken:
"Seitdem das handwerkliche Können des Komponisten auf der Suche nach neuen Wirkungen an einem Stagnationspunkt angelangt ist, wird die Eleganz der Technik und Formgebung, für die Mendelssohn so charakteristisch ist, wieder bewundert, nicht ganz neidlos. Er zählt nunmehr zu der erlesenen Schar jener Komponisten (Mozart und Ravel gehören dazu), die genau wussten, wieviel Noten zu schreiben und wie sie anzuordnen (sind)".
Im Jahre 1950 veröffentlichte der Publizist Friedrich Herzfeld (vor allem bekannt geworden durch sein Dirigentenkompendium "Magie des Taktstocks") eine volkstümliche Musikgeschichte unter dem Titel "Du und die Musik - eine Einführung für alle Musikfreunde"; erschienen im Ullstein Verlag/ Frankfurt-Berlin. Auf den Seiten 226 - 29 nimmt er auch zu Person und Lebenswerk Felix Mendelssohns Stellung. Einmal mehr werden tradierte abwertete Stereotypen von Milde, Sentimentalität, Nachrangigkeit und Kleinmeisterei versammelt.
Herzfeld macht Mendelssohns grossbürgerliche
Herkunft für die vermeintliche Schwäche seiner Tonsprache verantwortlich
und kommt nahezu zu dem Schluss, dass Mendelssohn in der Durchführung seines
musikalischen Lebensentwurfes letztendlich gescheitert sei.
"Nach der Hochglut eines Erzromantikers wie Berlioz nimmt sich das Feuer deutscher Romantiker wie des in Kassel wirkenden Geigenmeisters Louis Spohr oder eines Felix Mendelssohn-Bartholdy" zahm aus. (...) Die milde Temperatur seiner (Mendelssohns) Persönlichkeit suchte das Neue nicht auf so erregende Weise. Mendelssohn war ein echter Vertreter des Grossbürgertums, wie es sich in diesen politisch ruhigen Jahren entwickelte. Im Hause seiner Eltern...in Berlin verkehrte alles, was Rang und Namen hatte. Dieses Bürgertum neigte zur Weichheit bis zur Sentimentalität. Die Tränen allzu reger Empfindung, die in den Versen von Heinrich Heine oft fliessen, begegnen uns bei Mendelssohn wieder. Um Gegenkräfte zu entwickeln, versuchte er die kontrapunktische Kunst Bachs und Händels zu erneuern. Es ist aber nicht alles zu allen Zeiten möglich. Die Fugen Mendelssohns sind von den alten Fugen himmelweit entfernt. Auch seine Oratorien Elias und Paulus, die er nach Vorbildern Händels schrieb, haben vor dem Ansturm der Zeit an Geltung verloren. (...)
Offenbar gehörte Mendelssohn zu denen, die im kleinen am grössten sind. Seine Lieder ohne Worte haben in der Hausmusik des neunzehnten Jahrhunderts begreiflicherweise eine grosse Rolle gespielt. Es gehörte in der Generation unserer Gross- und Urgroßeltern zur guten Bildung, sich von diesen einschmeichelnden Weisen durch die Lagunen von Venedig führen zu lassen. (...)
Alle Anerkennung seiner Meisterschaft hat nicht verhindern können, dass sein Bild mit den Jahrzehnten allmählich, aber unaufhaltsam verblasste."
Am Ende seiner Mendelssohn-Betrachtungen gereift der Verfasser erneut auf die Metapher vom Heros in der Kunst zurück, der Mendelssohn Herzfeld zu Folge möglicherweise nicht gerecht worden sei. Obgleich Herzfeld diese Sichtweise auf musikalisches Wirken durchaus als romantizistisches Relikt in Frage stellt, hindert es ihn doch keineswegs daran, sich ihrer selbst in der Mendelssohn-Infragestellung indirekt zu bedienen:
"Es war nicht nur Spott, wenn man behauptet, es sei ihm im Leben immer zu gut gegangen. Dass das Genie darben müsse, war auch eine romantische Vorstellung. Für die Eingebung von oben müsse es durch Leid empfänglich gemacht werden. Künstlerschaft war danach ein Ersatz für Lebensglück. Zur Quelle der Kunst wurde das Leid. Dass sich die Not niemals an Mendelssohns Fersen heftete, wäre danach die Ursache für seine allzu grosse Gefälligkeit und Untiefe."
Der Münchner Merkur attestierte der Musikgeschichte u. a.: "Sie kann insbesondere Laien und Jugendlichen empfohlen werden, da sie in warmherziger, leichtverständlicher Form (...) alles Wissenswerte von den Anfängen der Musik bis zur unmittelbaren Gegenwart vermittelt."
Es stimmt im Nachhinein bedenklich, dass ein Buch,
welches gerade Laien und Jugendlichen zur Lektüre anempfohlen wurde, auch
nach dem Kriege einer nachwachsenden Generation von Musikfreunden wiederum ein
einschlägig klischeebeladenes, verzerrtes Mendelssohn-Bild vermittelte. "Du
und die Musik" wurde im Jahre 1962 im Deutschen Bücherbund, Stuttgart/
Hamburg wiederveröffentlicht.
Friedrich Herzfeld war in den Zeiten des III. Reiches als Musikpublizist und Rezensent tätig, u.a. für die "Allgemeine Musikzeitung", Leipzig und "Die Musik", Berlin. In der Neuauflage des "Lexikon der Juden in der Musik" des Amtes Rosenberg wurde er dann allerdings als "Mischling zweiten Grades festgestellt, dessen Schriften damit für die Parteiarbeit entfallen" (Herbert Gerigk, L. d. J. i. d. M., Editorial).
Im Jahre 1950 wurde das im Jahre 1934 erschienene Atlantisbuch der Musik vom Atlantis-Verlag in Zürich neu veröffentlicht. Als Herausgeber wirkten Fred Hamel und Martin Hürlimann. Somit ist die Gelegenheit gegeben, einmal die Mendelssohn-Betrachtung vom Standpunkte eines deutschsprachigen Nachbarlandes, der Schweiz, zu überprüfen.
Wieder einmal ist dort, wie sich zeigt, die Notwendigkeit zum Monumentalen, Heroischen das Mass aller musikalischen Dinge, dem ein Felix Mendelssohn auf Grund allzu sorgenlosen Lebenswandels schicksalsbedingt nun einmal nicht habe entsprechen können. Der Verfasser Fred Hamel macht dies denn auch für vermeintliche eklatante Mängel und Schwächen sowie Epigonentum in Mendelssohns symphonischer Sprache verantwortlich.
"Denn eines war dieser Kunst wie diesem Leben vorenthalten: die äusseren Reibungen und inneren Spannungen, die zum Monumentalen unerlässlich sind. Das Schicksal, das diesen Künstler der kämpferischen Problematik enthob und ihm zwischen Freiheitskriegen und Märzrevolution symbolische Grenzen zog - dieses Schicksal verwehrte ihm auch den eigentlich symphonischen Atem. So fehlt seinen Sinfonien im grossen die stilgeschichtliche Bedeutung; sie folgen fremden Spuren - "Schottische" und "Italienische" dem klassischen Formideal, der "Lobgesang" der Sinfoniekantate nach dem Muster von Beethovens "Neunter", die "Reformationssinfonie" programmmusikalischen Einflüssen."
Was schreibt Walter Georgi im gleichen Werk über Mendelssohns Klaviermusik? Er repetiert erneut Freigedank/ Wagners Invektive vom Mangel an Wärme und Tiefe in der Musik eines jüdisch-stämmigen Komponisten, verweist des weiteren auf das Stereotyp der vermeintlichen Sentimentalität von Mendelssohns Musik.
"Sein Bestes gibt er in leicht und zierlich dahinhuschenden Sachen (Charakterstück Nr. 7, Lied ohne Worte Nr. 47, Scherzo Werk 16/2, Rondo Capriccioso) Als gewandtester Kontrapunktiker unter den Romantikern verfügt er über einen vornehmen, frei polyphonen Klaviersatz (...) Aber dieses Formgenie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihm etwas Wichtiges fehlt: Tiefe und Wärme der Empfindung. Mendelssohn vermag kein Adagio zu schreiben. Vieles von seiner Musik ist verblasst. Ihre weichliche Sentimentalität wirkt nicht immer erfreulich (...) Mendelssohns zwei Konzerte und drei Konzertstücke verschwinden immer mehr aus dem Konzertsaal"
Helmut Osthoff hingegen
merkt über Mendelssohns Kompositionen für Streicher solo an:
"Von Felix Mendelssohn besitzen wir eine Violinsonate und zwei (...) Sonaten für Cello und Klavier. Die letzteren sind für beide Partner dankbar, rechnen aber ebenso wie die Violinsonate nicht zu den erstrangigen Werken der Gattung. Ein grosser Wurf gelang Mendelssohn dagegen mit seinem Violinkonzert in e-moll, op. 64 (1845). Wir verhehlen uns heute nicht, dass Mendelssohns Konzert letztlich durch seine blendende äussere Aufmachung besticht."
Auch hier gesteht der Verfasser Qualitäten in Mendelssohns Musik nur vorbehaltlich zu; geht seine Beschreibung der Werke stets mit abwertenden Urteilen einher. Ausdruck persönlicher Vorbehalte des Autors oder Zeichen dafür, wie tief die jahrzehntelang gepflogene Dramaturgie der Mendelssohn-Negation Betrachtung und Urteil jener Zeit doch geprägt hatte?
Martin Hürlimann beschwört
in seinen Betrachtungen über den Dirigenten Mendelssohn
das Bild eines
unverbindlichen urbanen (jüdischstammig konvertierten?) Grossbürgers
im Musikergewande herauf, ein Bild, das uns in den Darlegungen Walter Abendroths
in deutlich antisemitischer Zielrichtung entscheidend wiederbegegnen wird:
"In ähnlicher Weise, konservativ in seinen Kunstanschauungen, liebenswürdig und in vornehmer Zurückhaltung wirkte Mendelssohn von 1835 bis zu seinem Tode 1847 als Dirigent des Gewandhaus-Orchesters in Leipzig"
In der Betrachtung der "Sommernachtstraum"-Musik pflegt auch Otto Riemer das Stereotyp vermeintlicher Oberflächlichkeit von Mendelssohns Musik. Des Weiteren verweist er auf die Neuvertonungen der 30ssiger und vierziger Jahre, ohne mit einem einzigen Wort den Hintergrund eines Musiknotstandes durch das regimebedingte Verbot der Mendelssohn-Komposition im "III.-Reich", ja die Beauftragung zur Schaffung von Neukompositionen durch die Machthaber zu erwähnen.
"Die ausserordentliche melodische Leichtigkeit, die Mendelssohn auszeichnete und die ihm nicht immer zum Vorteil gereichte: hier in diesem märchenhaften Koboldspiel gab sie die glücklichste Ergänzung der Dichtung. In jüngster Zeit haben auch Edm. Nick, Julius Weissmann und Rudolf Wagner-Régenyi Kompositionen zu Shakespeares "Sommernachtstraum" geschrieben."
Werfen
wir nun wiederum einen Blick auf den zu jener Zeit in Westdeutschland vorherrschenden
Stand der Mendelssohn-Sicht:
"Doch für eine solche Aufgabe
war Mendelssohn zu schwach. Körperlich zart, niemals vor wesentliche Entscheidungen
gestellt, woher sollten ihm Tatkräfte zugewachsen sein, die nur in geistigem
Ringen oder harten Auseinandersetzungen mit dem Leben gedeihen. Mendelssohns Schaffen
hat zu keiner Zeit Frucht getragen, es war eine Fülle von Blüten, die
bald welkten und nicht viel mehr zurückliessen, als einen wehen Duft."
Der Verfasser dieser Zeilen, die einen vermeintlichen Mangel Mendelssohnscher
Musik vor allem aus schwachem Erbgut heraus begründen, ist Otto Schumann.
Sie wurden seinem im Jahre 1951 erschienen Handbuch der Klaviermusik entnommen.
Diese, unterschwellig die rassebiologischen Thesen des III.-Reiches reflektierende
Sichtweise, verwundert wenig, wenn man sich folgendes vor Augen hält: Es
handelt sich um den gleichen Otto Schumann, welcher 11 Jahre zuvor in seiner "Geschichte
der Deutschen Musik" die Aufarbeitung der Musikgeschichte explizit den Aspekten
des Rasseprinzips unterwarf und somit schrieb:
"Hätte Mendelssohn eine Musik geschrieben, die seiner rasseseelischen Beschaffenheit entsprach, dann könnte sich vielleicht das Judentum eines grossen Komponisten rühmen."
Im Jahre 1954 gab Schumann ein Handbuch der Orchestermusik heraus; erschienen im Heinrichshofen Verlag, Wilhelmshaven.
In diesem nimmt Schumann noch eindeutiger Bezug auf seine Tätigkeit ideologienahen, völkischen, von antisemitischen Überzeugungen geprägten Publizierens in Zeiten des Nationalsozialismus. Schumann paraphrasiert darin Zeilen und Sichtweisen aus der "Geschichte der Deutschen Musik" aus dem Jahre 1940 nahezu wortwörtlich - ein Faktum, das einmal mehr veranschaulicht, wie nachhaltig ideologische Positionen des N.S.-Faschismus in Kultur und Gesellschaft der BRD zu verankern möglich war.
Gleich
zu Beginn der Mendelssohn-Darlegungen schreibt Schumann im Jahre 1954 also:
"Schon seit Jahrzehnten sind immer neue Stimmen laut geworden, die gegen
eine Überschätzung Mendelssohns zu Felde zogen. Umstritten wurde - übrigens
schon zu Lebzeiten des Komponisten - der innere Gehalt seiner Tonschöpfungen.
Seine ungewöhnliche Form und sein erstaunlicher Formensinn geben den Werken
zumeist eine Glätte, die unbehaglich wirkt."
Im unmittelbaren
Vergleich dazu nun die Sichtweise des Jahres 1940:
"Die fast ein
Jahrhundert währende Mendelssohn-Schwärmerei ist um so unbegreiflicher,
als zu allen Zeiten Männer aufstanden (schon als Mendelssohn noch lebte),
denen seine Musik allzu glatt erschien, - ein Urteil, das auch die unentwegtesten
Mendelssohn-Verehrer nicht bestritten."
Auch die ferneren Darlegungen
Schumanns aus dem Jahre 1954 lassen eine Verwurzelung in völkischem Denken
unausgesetzt spüren: Stellenweise befleissigt Schumann sich gar der Tatsachen-
und Geschichtsfälschung, indem er die von Mendelssohn begründete Tradition
des Leipziger Konservatoriums unterschlägt.
"Der Deutsche hat
ein ganz besonderes Verhältnis zur Form: er weiß sie zu schätzen;
aber sie ergreift ihn nur dann, wenn sie sich darstellt als letztes Ergebnis inneren
Ringens. (...) Mag er sich zuweilen an ihr ergötzen - zum tiefem Erlebnis
wird sie ihm nicht.
Mendelssohn aber ist der Meister der nur "schönen" Form. Seine melodische Erfindung, sein thematischer Aufbau und die instrumentale Einkleidung sind untadelig, aber zu sehr nach Mass gefertigt. (...) Entsprechend seiner Formensprache hat Mendelssohn instrumentiert: glatt, sorgsam getönt, alle Ausbrüche werden vermieden - MUSSTEN vermieden werden, weil in Mendelssohn kein vulkanisches Feuer brannte. Überzeugender noch als die Meinung mag die Geschichte reden: Mendelssohns Schaffen hat keine Nachfolger gefunden. Man hat ihm Einzelheiten abgelauscht, aber die Glätte seines Musizierens hat sich niemand zu eigen gemacht (ausser den Edelkitsch-Komponisten der "Salonstücke")".
Was lesen wir zur "Italienischen" Symphony:
"1833 (...) wurde die "Italiensche Sinfonie" aufgeführt.. Auch sie geht auf Eindrücke einer Reise zurück. Sah der Jüngling in Schottland wenigstens noch etwas ähnliches wie Konfliktstimmung, so fand er, wie es scheint, in Italien eine gänzlich problemlose Weilt vor. Wirklich "Italienisches" tönt nur im Schlusssatz auf (...) Aber weder das Allegro vivace (...) noch die d-moll Ballade des Andante con moto haben etwas Italienisches, und der dritte Satz. (...) mit seinem anmutigen Ländler und den "romantischen" Hornklängen (...) weisen vollends auf Deutschland zurück".
Wie auch die Zeilen zur "Italienischen" Symphony" sind Schumanns Bemerkungen zu den Konzerten für Klavier und Orchester vom Bemühen geprägt, abfälliges über die genannten Werke vorzubringen:
"Bis in die allerjüngste Vergangenheit reichen die Versuche, Mendelssohns Klavierkonzerte neu zu beleben. Diese Versuche dürften vergeblich sein. Von dem zweiten Klavierkonzert rückte schon Schumann höflich ab, und es ist doch wohl kein Zufall, daß auch das erste Klavierkonzert (...), einst ein Schlager, der "auf keinem Programm fehlen durfte", längst Seltenheitswert bekommen hat. Mendelssohns Absicht war es, dem hohlen Virtuosenkonzert seiner Zeit etwas technisch Einfacheres und musikalisch Wertvolleres entgegenzusetzen. Das ist ihm mit seinem ersten Konzert auch gelungen, (...) weil es dem Pianisten "in der Hand liegt", ohne großen Virtuosenaufwand konzertmässige Wirkung hervorbringt (...) Doch einmal hat die Romantik bald stärkere Werke hervorgebracht, und zum anderen haben wir heute Klavierkonzerte, deren Zielsetzung der Mendelssohnschen gleichkommt, deren Geist uns aber näher ist".
Einen bemerkenswerten Ausbruch aus der uniform tendenziellen Sichtweise, welche Schumanns bisherige Darlegungen prägt, vollzieht sich allerdings in der Vorstellung des Violinkonzertes.
Schumann verfällt in der Schilderung der musikalischen Vorzüge
desselben phasenweise in einen geradezu hymnischen Tonfall, obgleich er im Klaviermusikführer
ja unmissverständlich konstatierte, dass " Mendelssohns Schaffen zu
keiner Zeit Frucht getragen" habe. Das Bemühen um Rückkehr in die
bislang an den Tag gelegte "Objektivität", also tendentiell abfällige
Einschätzung Mendelssohns, ist denn auch immer wieder zu bemerken.
"Bedeutend
und unverblasst steht dagegen das Violinkonzert vor uns. (...) Nach Meinung des
Verfassers reicht es fast in die Nähe der drei grossen Geigenkonzerte von
Beethoven, Brahms und Tschaikovsky. Form, Erfindung und Gestaltung sind hier Einheit
geworden wie sonst in keinem anderen Werke Mendelssohns (...) Von erlesener Schönheit
und ergreifender Wirkung das (...) zweite Thema. (...) Die Durchführung stellt
an den Hörer keine großen Ansprüche, weil ihre Größe
in ihrer Einfachheit besteht. Vom Prestoschluß dieses Satzes leiten Halbtonschritte
(...) in den zweiten Satz (...), ein Lied ohne Worte von inniger Süße".
Ein kurzer Blick nur in das Handbuch der Chormusik und des Klavierliedes Otto Schumanns, 1953 wiederum im Herrmann Hübner Verlag, Wilhelmshaven erschienen. Die Eröffnungszeile des Mendelssohneintrags führt sogleich in den vertrauten Tonfall des Jahres 1940 hinein, variiert erneut eine zentrale These Schumanns aus jener Zeit:
"Schon manche seiner Zeitgenossen empfanden Mendelssohns Intrumentalwerk als zu glatt und Poliert, vermissten in ihnen echte Auseinandersetzungen geistlicher und musikalischer Art, wie man das bei deutscher Intrumentalmusik für selbstverständlich hielt. Da man derartige Ansprüche nur sehr schwer an schlichte Chorwerke stellen kann und die zahlreichen Chorvereinigungen sich gern nach schlichten, dabei wohllautenden Werken umtun, sind Mendelssohns geschmeidig geschriebene, gutklingende a-cappella-Chöre schnell volkstümlich geworden"
In den Klavierliedkapiteln heisst es wiederum:
"Von
Mendelssohns Klavier-Liedern ist man - nach der erstaunlichen Hochschätzung
im 19. Jahrhundert - schon seit einem halben Jahrhundert abgerückt; ja man
könnte sagen, die wachsende Scheu vor dem Klavierlied habe sich erstmals
deutlich bei Mendelssohns Liedern gezeigt. Das allzu Glatte, Gefühlsselige
dieser Weisen spricht nicht mehr an. Rein kompositorisch bleibt ebenfalls vieles
unbefriedigend. (...) So wie er einige Hefte seiner Klavierstücke "Lieder
ohne Worte " nannte, könnte man seine meisten Klavierlieder als "Klavierstücke
mit Worten" bezeichnen".
Intermezzo
VII: Vom deutschen Hausbuche
Otto Schumann wurde im Jahre 1897
geboren. Er studierte Musikwissenschaft an den Universitäten Frankfurt am
Main und Leipzig. Danach war er als Musikkritiker "zahlreicher" Zeitungen
und Publizist tätig. Otto Schumann starb im Jahre 1981.
Die akademische
Ausbildung in Zeiten der Republik, die Vielzahl daraufhin erfolgender Veröffentlichen,
die Kontinuität des Publizierens in Zeiten des Nationalsozialismus und der
BRD, versinnbildlichen somit den Lebensweg eines unbeirrbar deutschen bildungsbürgerlichen
Intellektuellen oder vielmehr: eine klassische deutsche Sachbuchkarriere des 20.
Jahrhunderts.
Publikationen Otto Schumanns u. a.:
Meyers Opernbuch, Leipzig,
1938; Meyers Konzertführer, Leipzig, 1938; Geschichte der deutschen Musik,
Leipzig, 1940; Albert Lortzing, 1801-1851, Leipzig, 1941, Neupublikation Opernbuch,
Berlin, 1948; Neupublikation Opernbuch, Wilhelmshaven, 1948; Orchesterbuch, Berlin,
1949;
Die jüngere Cambridger Liedersammlung, Torino, 1950; Schumanns Schauspielbuch, Wilhelmshaven, 1950, Wiederauflage [Schauspielbuch], Wilhelmshaven, 1951; Schumanns Kammermusikbuch, Wilhelmshaven, 1951; Klaviermusikbuch, Wilhelmshaven, 1952; Schumanns Chormusik- und Klavierliedbuch, Wilhelmshaven, 1953; Neupublikation Opernbuch ,Wilhelmshaven, 1954; Neupublikation Handbuch der Orchestermusik, Wilhelmshaven, 1954, Kleine lateinische Formenlehre, Frankfurt am Main 1954, Das Manuskript, Wilhelmshaven, 1954;
Wiederauflage Handbuch der Kammermusik, Wilhelmshaven, 1956; Neupublikation Schauspielbuch, Stuttgart, 1958; Ich weiß mehr über die Operette und das Musical, Wilhelmshaven, 1961; Wege zum Musikverständnis, Olten 1963; Wiederauflage Handbuch der Klaviermusik, Otto. Wilhelmshaven, 1969; Wiederauflage Handbuch der Opern , Wilhelmshaven, 1972; Quellen und Forschungen zur Geschichte des Orgelbaus im Herzogtum Schleswig vor 1800, München, 1973; Wiederauflage Das Manuskript, Wilhelmshaven, 1977; Wiederauflage Handbuch der Klaviermusik, Wilhelmshaven, 1977; Neupublikation Opernführer, Reinbek bei Hamburg, 1982; Neupublikation/ Imprint Handbuch der Klaviermusik Schumann, München, 1982; Imprint bei Pawlak, Der große Konzertführer Herrsching, 1982; Imprint bei Pawlak Der große Schauspielführer, Herrsching 1983; Imprint bei Pawlak Der große Opern- und Operettenführer Herrsching, 1983; Handbuch der Kammermusik, Herrsching 1983; Neupublikation Das Manuskript unter Grundlagen und Technik der Schreibkunst, Herrsching 1983; Wiederauflage Imprint Der große Schauspielführer, Herrsching 1987; Wiederauflage Opernführer, Reinbek bei Hamburg, 1989; Grundlagen und Techniken der Schreibkunst, Hamburg, 1995; Der neue Literaturführer, Weyarn, 1996.
Im Jahre 1955 legte der Musikjournalist und Autor Hans Schnoor ein musikalisches Hausbuch mit dem Titel "Oper, Operette, Konzert" vor. Schnoor war in den Jahren 1933-45 als Musikkritiker tätig, dessen Rezensionen mit der Regimeideologie konform gingen. Prieberg atestiert auch dem Nachkriegswirken Schnoors "antisemitischen Unterton" und "Vokabular des NS-Journalismus von ehedem". Dies geschah wohl zu recht, da man Schnoor bereits im Jahre 1956 in einer Sendung des Südwestfunks Baden Baden "nationalsozialistische Musikkritik" attestierte. Schnoor führte daher einen Prozess gegen den Sender, doch die Gerichte gaben dem Ausdruck in einem mehrjährigen Verfahren als "Wahrnehmung berechtigter Interessen, zumal sich die Absicht einer Beleidigung weder aus der Form noch aus den Umständen ergibt" statt. Wie berechtigt die Attestierung "nationalsozialistischer Musikkritik" erfolgte, zeigt auch die Tatsache, dass Schnoor in einem Buch über zeitgenössische Musik unausgesetzt von "Negermusik" spricht, wenn es um den von ihm ungeliebten Jazz geht.
Schnoor engagierte sich im III.-Reich des Weiteren in einer vom Amte Rosenberg ins Leben gerufenen "Arbeitsgemeinschaft deutscher Musikkritiker". Dort war er nicht nur als lokaler Funktionär, als Leiter der Ortsgruppe Dresden, sondern auch als Organisator und Referent von Vortragsabenden tätig. Weitere Aktivitäten Schnoors zu "Reichszeiten" galten u. a. Artikeln wie jenem: Peinliche Ehrenrettung des "Riemann". "Deutsche Juden im neuen Musiklexikon". Dresdner Anzeiger, Nr. 73, 15. März 1939
In besagter Publikation "Oper Operette Konzert"
aus dem Jahre 1955, 29. Auflage 342 - 361. Tausend, Bertelsmann Lesering 1962)
wird das Mendelssohn-Bild dann auch erwartungsgemäss in jene bekannte Schieflage
gebracht, ja vom Verfasser stellenweise als gänzlich verblasst umrissen.
In dem, den einzelnen Komponistenportraits vorangestellten musikgeschichtlichen
Umriss kommt das Wirken des Felix Mendelssohn Bartholdy in den relevanten Kapiteln
"Revolution und Romantik" bzw. "Strömungen im 19. Jahrhundert"
gar nicht erst zur Sprache.
"Über Beethoven, Weber, Berlioz, Liszt hinaus, kündigt sich das Jahrhundert Richard Wagners an, das seine sinfonische Auflösung nach 2 Richtungen sucht: in den Werken von Bruckner und Brahms. Mit diesen namen ist eigentlich alles bezeichnet, was bis zu Wagners Tode (1883) schöpferisch am werke bleibt, ohne unter den Einflüssen des nihilistischen 19. Jahrhunderts zu verzagen"
In Sätzen wie jenen, verurteilt Schnoor das ausserhalb des Spektrums der genannten Komponisten liegende zu musikgeschichtlicher Bedeutungslosigkeit. Wenig später referiert Schnoor in sattsam vertrauter, entwertender, stereotypischer Weise über den Komponisten Felix Mendelssohn und stellt des Weiteren das Ideal des humanistischen Menschenbildes, welches dessen Musik prägt, in Frage:
"Mendelssohn war unbestritten die musikalische Autorität der Biedermeierzeit. (...) Das konzertierende Vituosentum zehrte von seinem ausserordentlich vielfältigen Schaffen ebenso wie die Hausmusik und der Kantor auf dem Lande. Was Mendelssohn und die Mendelsohnianer mit Ihrer zur Glätte und Unverbindlichkeit, tieferen und echteren Konflikten ausweichenden Kunst boten, entsprach genau den Bedürfnissen eines selbstzufriedenen Publikums" (...) Erst Wagner und Brahms haben das Ideal des "Mendelssohnschen Menschen" fragwürdig gemacht, und in unserer Zeit zeugen meist nur noch vergilbte Blätter vom geschichtlichen Dasein einer biedermeierlichen Romantikertums, dessen liebenswerte Seiten bis heute nachwirken."
Weitere Tätigkeitsnachweise Hans Schnoors vor und während des Krieges waren u. a. Musikredakteur der "Neueste(n) Nachrichten" im Jahre 1922, "Leipziger Tageblatt" in den Jahren 1923 - 25, "Dresdner Anzeiger" in den Jahren 1926 - 45. Des Weiteren veröffentlichte er in den späten 30ssiger Jahren auch einen umfangreichen, 2-bändigen Führer durch den Konzertsaal.
30.
Der Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit
oder
vom Ende der "zeitlosen" Zeit
In den 50ziger Jahren kehrten auch vermehrt Emigranten nach Deutschland zurück, welche sich einem neuen und besseren Deutschland zur Verfügung zu stellen sich verpflichtet fühlten. Gegen ein Konglomerat vorbelasteter Koryphäen der Bereiche Musik, Literatur, Theater, Film und Akademie, welche sich in Zeiten des Regimes im Stande von Funktionären oder Mitläufern graduierten und profilierten hatten die Remigranten stets einen schweren Stand.
Die Namen derer,
welche, ausgeschlossen aus den etablierten Kollegenzirkeln verbleibend, künstlerisch
und institutionell untergraben, gemobbt, in einem Klima erstarkender politischer
Konservative und Kalten Krieges publizistisch und parlamentarisch angefeindet,
aus Positionen geekelt wurden, sind Legion.
Das Schicksal des Film- und Theaterregisseurs William Dieterle sei stellvertretend für andere genannt: Dieterle, seinerzeit ein hochprominenter, erfolgreicher Hollywoodregisseur kehrte Mitte der 50ziger Jahre nach Deutschland zurück und inszenierte im Schauspielhaus Frankfurt, am Württembergischen Staatstheater Stuttgart, bei den Salzburger Festspielen, am Stadttheater Basel, am Schillertheater in Berlin, am Schauspielhaus Essen, am Zürcher Schauspielhaus sowie bei den Bad Hersfelder Festspielen. Die wenigen Filme, welche er, nach glänzender Karriere in Hollywood, in Europa realisierte, wurden von konservativ-reaktionären Kreisen in der BRD als "deutschfeindliche" Machwerke eines nach Hollywood emigrierten Vaterlandsveräters diffamiert oder erwiesen sich als Publikumsflop. Erfolgreicher war er als Regisseur von Fernsehfilmen, welche oftmals als Aufzeichnung seiner Bühneninszenierungen entstanden. Anfang der 60ziger Jahre übernahm er erfolgreich die Intendanz der Bad Hersfelder Festspiele. Widerum nahmen konservativ-restaurative Funktionäre und Medien Anstoss an seinem Wirken. Man verübelte ihn u.a. den von ihm initiierten Theateraustausch mit der DDR sowie die Bevorzugung junger Schauspieler zu Lasten "grosser" Namen, welche sich aber zum Teil durch Karrieren in der NS-Zeit diskreditiert hatten.
Schliesslich wurde ihm sein Vertrag im Jahre 1965 nicht verlängert. Pläne, andere Bühnen als Intendant zu übernehmen sowie Rückkehr-Bestrebungen nach Hollywood zerschlugen sich. Ein Prozess gegen die Stadt Bad Hersfeld wegen ungerechtfertiger Kündigung seines Vertrages als Intendant wurde verloren. Die Medien begannen, ihn und sein Wirken zunehmend zu ignorieren. Im Jahre 1966 übernahm er das Tournéetheaterunternehmen "Der grüne Wagen", ein Schritt, der langfristig sehr an seiner Gesundheit und seinen Finanzen zehren sollte. Dieterle Starb am 8. Dezember 1972 an einer Erkältungskrankheit nach dem er gegen das Interesse seiner Gesundheit für einen erkrankten Schauspieler in einer Produktion des "grünen Wagens einsprang und sich somit körperlich ruinierte. Sie Beisetzung erfolgte im engsten Freundes- und Familienkreise auf dem Friedhof von Ottobrunn in der Nähe von München.
Wie sollte der hochgebildete jüdische Musikpublizist Alfred Einstein da mit nachdenklicheren Tönen bezüglich schwindender Mendelssohnrezeption in der BRD gegenzuhalten vermögen? Jener Musikwissenschaftler, dem wir u. a. eine seinerzeit hochrenommierte Mozartbetrachtung verdanken, welcher zuerst nach England und dann in die Vereinigten Staaten emigrierte und dort unausgesetzt publizistisch tätig blieb.
In "Die Musik der Romantik", erschienen in Wien im Jahre 1950, stellte er in verhalten-analytischer Vorgehensweise die Spezifika und Elemente eindeutig heraus. Jene Spezifika, welche die unausgesetzt humane Ansprache durch die Musik Mendelssohns und somit den potentiellen Langzeitwert seines Wirkens bedingen, Es ist zugleich ein demonstrativ vorgebrachtes Plädoyer gegen die sonstig unausgesetzt repetierten Stereotypen von Glätte, Kälte und rein formeller Perfektion. Es heisst darin:
"Die Ebenmässigkeit der Form seiner Sätze und seiner Zyklen ist nicht zu übertreffen; aber über allen seinen Äusserungen glänzt etwas subjektives, rein romantischer Schimmer, im Gefühlhaften - die Nachwelt nannte es Sentimentalität -, in einer Mischung von Grazie und Humor, die, wenn ins Objektive gewendet oder gedeutet, als die Elfenmusik seiner "Sommernachtstraum"-Ouvertüre erscheint, und schliesslich in einer Leidenschaftlichkeit, die romantisch wirkt durch eine Art von Ziellosigkeit".
Und darin schliesslich findet sich der unverbildet hörende Mensch unserer Zeit in der Musik des Felix Mendelssohn wieder. Wie in dem Kapitel, welches sich dem einstigen ephemerischen Glückskinde widmete bereits erwähnt, waren die Umstände wahrhaftig materieller und künstlerischer Prosperität nur eine Folie äusserlicher Wahrnehmung. Da er, von den letzten beiden Lebensjahren einmal abgesehen, gesellschaftlich, musikalisch und familiär perfekt funktionierte, den Ansprüchen hundertprozentig genügte, teilte sich die Verlorenheit, welcher sich Felix Mendelssohn dessen ungeachtet mit jedem Lebensjahre zunehmend überantwortet fühlte, nur durch seine Musik mit. Er vermochte die Zeit und damit die Zeitenwende nicht aufzuhalten. Agressiver Kapitalismus, Industrialisierung und maschinelle Rationalisierung, das heranwachsen molochartiger Grossstädte, politische Radikalisierung der gegeneinander agitierenden revolutionären Parteien und prosperierender Nationalismus brachte diese eindeutig mit sich.
Die humanistischen Ideale der Aufklärung, oder besser gesagt, der aufgeklärten Bildungsbürgerschaft, welche ihn zeitlebens prägten, denen er sich verpflichtete, die Wertschätzung gesellschaftlichen und menschlichen Ausgleichs, intellektueller, sittlicher und religiöser Bildung, die Veredelung des Menschen durch die klassischen künstlerischen Erfahrungswerte des Wahren, schönen und Guten, verloren zunehmend an Wert. Auch die Achtung vor der Kreatur und der in zahllosen Dicherworten so eindringlich verherrlichten natürlichen Umgebung des Menschen schwand. Die Menschen, die ihn prägten, die ihn auf seinem Lebensweg begleiteten, waren nahezu alle dahingegangen: Zelter, sein bewunderter Lehrer, Goethe, der kindlich verehrte Dichterfürst und Mentor, die Eltern Abraham und Lea, zuletzt Fanny, die seelisch und musikalisch kongenial prädestinierte Schwester. Was sollte er in dieser neuen Zeit vermögen, was konnte sie ihm bringen, er ihr geben?
Das Zeitalter der "Zeitlosigkeit", von der Heinrich Eduard Jacob in seinem Buche "Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit" spricht, war zu Lebzeiten Mendelssohns zu Ende gegangen. Jenes Zeitalter bedingte einstmals die Abkehr von tagespolitischem Rumor, vom den nationalistischen Exzessen der Burschenschaften, der Revolution, der Reaktion und anderen Beunruhigungen in deutschen Landen, also den vielfältigen oftmals kurzlebigen Vorfällen von "Zeit" zugunsten der Bewahrung und Vervollkommnung des "Zeitlosen". Das Leben und Werk Johann Wolfgang von Goethes stand dafür Pate und Modell. Im Todesjahre 1847 befand sich das Leben des Felix Mendelssohn somit in einer substanziellen Krise. Briefe, welche in diesem Jahre verfasst wurden künden von tiefen Depressionen. So schrieb Felix Mendelssohn im Sommer 1847:
"Wenn Menschen kommen und durcheinander sprechen,
von allen Alltäglichkeiten und von Gott und der Welt, so wird mir gleich
so unsäglich traurig zumute, dass ich gar nicht weiss, wie ich´s aushalten
soll."
Nachfolgend bekundet er noch einmal dezidiert das Ende
einer Ära; den Niedergang der
"Zeitlosigkeit" der klassizistisch-humanistischen
Epoche:
"Ein grosses Kapitel ist nun eben aus, - und von dem nächsten
ist weder die Überschrift, noch das erste Wort bis jetzt da. Aber Gott wird
es schon recht machen; dass passt an den Anfang und den Schluss von allen Kapiteln."
Dem grossen Rembrandt in Carl Zuckmayers inspiriertem, feinfühlig
nachgestaltendem gleichnamigen Historien-Script resümierte Mendelssohn, wie
auch jener, am Ende seines Lebens das fatalistisch substanzielle Predigerwort
Salomons von der Eitelkeit, Müssigkeit allen menschlichen Tuns aus dem alten
Testament. Es kommt nicht von ungefähr, das uns diese letzten Jahre die erhabensten,
von höchster melancholischer Intensität erfüllten Werke des Komponisten
beschieden. Dennoch blieb Felix Mendelssohn Bartholdy dem neuanbrechenden Zeitalter
die Antwort, was er diesem spezifisch zu geben vermocht hätte, letztendlich
schuldig. Er hat diese Krise nicht überstanden und starb, bevor es ihn vollends
zu erreichen vermochte. Und so schrieb der Mendelssohn-Zeitgenosse Werner A. Lampadius
zum Tode des Komponisten im Nachruf so trefflich:
"Denn mit ihm ist für jetzt der letzte classische Geist aus Germaniens grosser Bildungsepoche seiner irdischen Behausung entflohen."
Welcher Mensch auch unserer Tage kennt es nicht, hat es nicht selbst schon einmal erfahren: die Situation vollendeter Ausweglosigkeit, das Gefühl, das Leben gleite ihm in allen Bereichen unaufhaltsam aus den Händen, den Zweifel am Sinn bisherigen Tuns und künftigen Strebens, die von Einstein feinfühlig bemerkte substanzielle Ziellosigkeit?
Dies, das Erspüren, Erleiden, Durchleben; das solidarische Mitfühlen und Überliefern einer fragilen Conditio Humana in der Sprache der Musik wie auch das Bemühen "zeitloses" musikalisch exemplarisch festzuschreiben und somit den Mitmenschen für alle Zeit erfahrbar zu machen, ist die Aktualität, der Jetztzeitwert, welcher der Musik Felix Mendelssohns unausgesetzt inne wohnt. Dies also ist ihre Botschaft an uns und Nachgeborene!
Ulrich Schreiber resümiert das "Schicksal des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy" in seiner Betrachtung "Die Unbequemheit eines romantischen Klassizisten" aus dem Jahre 1972 auf dem Cover einer Aufnahme der "Schottischen Symphony" mit dem Gewandhausorchester unter Kurt Masur (Eurodisc/ Bertelsmann Club Ed. 1972) denn auch mit vergleichbarem Resultat. Resignierend verweist er auf den hohen Symbolcharakter Mendelssohn´schen Lebens und Wirkens für die Befindlichkeiten, das Sein oder Nichtsein eines prosperierenden, den gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Konsens erstrebenden deutschen Vaterlandes. Somit verdeutlicht sich der Status Quo Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert - am Vorbilde Felix Mendelssohn gemessen - in nahezu erschreckendem Ausmasse. Ein Deutschland - geeint oder nicht - das den strebsamen Humanisten Felix Mendelssohn Bartholdy nicht zu ertragen fähig war, krankte an sich selbst und konnte somit keinen Bestand und keine Zukunft haben. Eine Tatsache, welche die plangemäss vollführte Vernichtung von Millionen Menschenleben und die Verheerungen an nahezu allem architektonisch-historisch gewachsenem Kulturerbe auf deutschem Boden, anschaulich hervorheben.
(Es) "begann eigentlich erst nach seinem Tod ein spezifisch deutsches zu werden. (...) Was diesem kurzen Menschenleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts widerfuhr, war die Konkretisierung der Popularphilosophie seines Grossvaters Moses Mendelssohn (...), Konkretisierung einer Lebensphilosophie, die - wäre sie nicht nur Vorschuss bis zum Lebensende gewesen - die Zukunft Deutschlands über die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis zu unserer Zeit hin hätte prägen können als eine Synthese der Kantschen Aufklärungsphilosophie, als Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. (...) Doch der Weg der Menschheit ist nicht jener der Vernunft, nicht jener, der aus der Unmündigkeit herausführt. Mendelssohn, der als Siebenjähriger protestantisch getauft wurde, hat vielleicht nur ein einziges Mal erfahren, daß die deutsche Philosophie zwar für die Vernunft und gegen die Unmündigkeit focht, daß sie aber kein Mittel besaß, einer Machtergreifung vorzubeugen, (...) als deren Folge Vernunft und Mündigkeit ihres universal-humanen Wirkungshorizontes beraubt und zum reinen Verfügungsobjekt einer sich rassisch auserkoren dünkenden Schicht werden wurde".
Nachfolgend verweist Schreiber auf jenes einschlägige Zelterwort vom "Judensohne", lässt dabei aber die Anwürfe auf den Strassen Berlins und Dobberans ausser Acht.
Der Zwiespalt, welcher sich - Zelters Worten zufolge - zwischen den Positionen Deutscher und Jude, Jude und Taufe, Lehrer und Meisterschüler unverkennbar auftat, wird in der Biographie Mendelssohns allein dadurch offenbar, das jener sein Deutschsein gerade in früher erwähntem Schreiben an den Lehrer exemplarisch für sich einforderte.
Schreiber kommt denn auch folgerichtig auf die vermeintliche Unvereinbarkeit all dieser Begriffe und Daseinszustände zu sprechen:
"Dass dieser Ausspruch zu einem hoffnungslosen Stigma werden sollte, wissen erst die weit nach Mendelssohn geborenen: dass die einen ihn als Juden reklamierten, wo doch in seinem Werk sich nicht ein einziger Takt von Synagogenanklängen findet, und dass die anderen ihn als Christen für sich forderten, wo er doch Zeit seines Lebens sich nur, und um so stärker, je weiter er auf seinen Reisen von der Heimat entfernt war, als Deutscher fühlte."
Intermezzo
VIII: Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind
Dies
sind die Reden des Predigers des Sohnes
Davids, des Königs zu Jerusalem:
Es
ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel.
Was hat
der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?
Ein
Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde bleibt aber ewiglich. Die Sonne
geht auf und geht unter und läuft an ihrem Ort, dass sie wieder daselbst
aufgehe.
Der Wind geht gen Mittag und kommt herum zur Mitternacht und wieder
herum an den Ort, da er anfing.
Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das
Wasser nicht voller;
an den Ort, da sie her fliessen, fliessen sie wieder
hin.
Es sind alle Dinge so voll Mühe, dass es niemand ausreden kann.
Das Auge sieht sich nimmer satt, und das Ohr hört sich nimmer satt.
Was
ist´s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehn wird.
Was ist´s,
das man getan hat? Eben das, was man hernach wieder tun wird;
und geschieht
nichts neues unter der Sonne.
Geschieht auch etwas, davon man sagen möchte:
Siehe, das ist neu?
Es ist zuvor auch schon geschehen in den langen Zeiten,
die vor uns gewesen sind.
Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind;
also auch derer,
so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die
darnach sein werden.
Ich, der Prediger, war König über Israel
zu Jerusalem und richtete mein Herz,
zu suchen und zu forschen weißlich
alles, was man unter dem Himmel tut.
Solche unselige Mühe hat Gott
den Menschenkindern gegeben, dass sie
sich darin müssen quälen.
Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht;
und siehe, es war alles
eitel und haschen nach Wind. (...)
Und richtete auch mein Herz darauf,
dass ich erkenne Weisheit und erkenne Tollheit und Torheit.
Ich ward aber gewahr,
dass solches auch haschen nach Wind ist.
Denn wo viel Weisheit ist, da
ist viel Grämens; und wer viel lernt, der muss viel leiden.
Ich sprach
zu meinem Herzen: Wohlan, ich will wohl leben und gute Tage haben!
Aber siehe,
das war auch eitel. (...)
Ich tat grosse Dinge: ich baute Häuser,
pflanzte Weinberge; (...) ich hatte
Knechte und Mägde und auch Gesinde,
(...) ich hatte eine grössere Habe an
Rindern und Schafen denn alle,
die vor mir in Jerusalem gewesen waren;
ich sammelte mir auch Silber und
Gold und von den Königen und Ländern einen Schatz (...)
und nahm
zu über alle die vor mir zu Jerusalem gewesen waren (...)
und alles,
was meine Augen wünschten, dass liess ich ihnen und wehrte meinem Herzen
keine Freude,
dass es fröhlich war von all meiner Arbeit;
und das
hielt ich für mein Teil von aller meiner Arbeit.
Da ich aber ansah
alle meine Werke, die meine Hand getan hatte und die Mühe, die ich gehabt
hatte,
siehe, da war es alles eitel und haschen nach Wind
und kein Gewinn
unter der Sonne.
Da wandte ich mich zu sehen die Weisheit
und die Tollheit (...).
Da sah ich, dass die Weisheit die Tollheit übertraf
wie das Licht die Finsternis;
dass dem Weisen seine Augen im Haupt stehen,
aber die Narren
in der Finsternis gehen; und merkte doch, dass es einem geht
wie dem anderen.
Da dachte ich in meinem Herzen: Weil es denn mir geht
wie dem Narren,
warum habe ich denn nach Weisheit getrachtet?
Da dachte
ich in meinem Herzen, dass solches auch eitel sei.
Denn man gedenkt des Weisen
nicht immerdar, ebensowenig wie des Narren,
und die künftigen Tage vergessen
alles; und wie der Narr stirbt, also auch der Weise.
Darum verdross mich
zu leben; denn es gefiel mir übel,
was unter der Sonne geschieht, dass
alles eitel ist und Haschen nach Wind.
Und mich verdross alle meine Arbeit,
die ich unter der Sonne hatte,
dass ich dieselbe einem Menschen lassen müsste,
der nach mir sein sollte.
Denn wer weiss, ob er weise oder toll sein wird?
Und
soll doch herrschen in aller meiner Arbeit, die ich weißlich getan habe
unter der Sonne.
Das ist auch eitel. (...)
Denn es muss ein Mensch,
der seine Arbeit mit Weisheit, Vernunft
und Geschicklichkeit getan hat, sie
einem andern zum Erbteil lassen,
der nicht daran gearbeitet hat. Das ist auch
eitel und ein grosses Unglück.
Denn was kriegt der Mensch von aller
seiner Arbeit
und Mühe seines Herzens, die er hat unter der Sonne?
Denn
alle seine Lebtage hat er Schmerzen mit Grämen und Leid,
dass auch sein
Herz des Nachts nicht ruht. Das ist auch eitel. (...)
Ein jegliches hat
seine Zeit, und alles Vornehmen
unter dem Himmel hat seine Stunde.
Geboren
werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,
würgen
und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen,
Steine
zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen,
suchen und
verlieren, behalten und wegwerfen, zerreissen und zunähen,
schweigen und
reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.
Man arbeite,
wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Mühe,
die Gott
den Menschen gegeben hat, dass sie darin geplagt werden,...
denn
der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende
(...)
Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch
zuvor geschehen;
und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist. (...)
Ich
sprach in meinem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder,
auf dass Gott
sie prüfe und sie sehen, dass sie an sich selbst sind wie das Vieh.
Denn
es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch,
und
haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh;
denn
es ist alles eitel.
Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von
Staub gemacht und wird wieder zu Staub.
Wer weiss, ob der Odem der Menschen
aufwärts fahre und der Odem des Viehs unterwärts unter die Erde fahre?
So sah ich denn, dass nichts besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich
sei in seiner Arbeit, denn das ist sein Teil.
Denn wer will ihn dahin bringen,
dass er sehe, was nach ihm geschehen wird? (...)
Ich sah an Arbeit und
Geschicklichkeit in allen Sachen; da neidet
einer den andern. Das ist auch
eitel und haschen nach Wind. (...)
Ich wandte mich und sah die Eitelkeit
unter der Sonne. Es ist ein
einzelner (...) und hat weder Kind noch Bruder;
doch ist seines Arbeitens
kein Ende, und seine Augen werden Reichtums nicht
satt.
Wem arbeite ich doch und breche meiner Seele ab? Das ist auch eitel
und eine böse Mühe.
(...) Wo viel Träume sind, da ist Eitelkeit
und viel Worte; aber fürchte du Gott. (...)
Wer Geld liebt, wird des
Geldes nimmer satt; und wer Reichtum liebt,
wird keinen Nutzen davon haben.
Das ist auch eitel. (...)
Denn der Reiche kommt um mit grossem Jammer,
(...) wie er nackt ist von
seiner Mutter Leibe gekommen, so fährt er
wieder hin, wie er gekommen ist,
und nimmt nichts mit sich von seiner Arbeit
in seiner Hand, wenn er hinfährt.
Das ist ein böses Übel, dass
er hinfährt, wie er gekommen ist.
Was hilft´s ihm denn, dass er
in den Wind gearbeitet hat? (...)
Einer, dem Gott Reichtum, Güter
und Ehre gegeben hat und mangelt ihm keins, das sein Herz begehrt;
und Gott
gibt doch ihm nicht Macht, es zu geniessen, sondern ein anderer verzehrt es; das
ist eitel und ein böses Übel. (...)
Es ist besser, das gegenwärtige
Gut gebrauchen, denn nach anderem gedenken.
Das ist auch Eitelkeit und haschen
nach Wind. (...)
Das habe ich alles gesehen, und richtete mein Herz
auf alle Werke, die unter der Sonne geschehn.
Ein Mensch herrscht zuzeiten
über den andern zu seinem Unglück.
Und da sah ich Gottlose, die
begraben wurden und zur Ruhe kamen;
aber es wandelten hinweg von heiliger
Stätte und wurden vergessen
in der Stadt die, so recht getan hatten.
Das ist auch eitel. (...)
Es ist eine Eitelkeit, die auf Erden geschieht:
es sind Gerechte,
denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen -
und sind Gottlose,
denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten.
Ich sprach: Das ist auch eitel. (...)
Frühe säe deinen Samen
und lass deine Hand des Abends nicht ab;
denn du weisst nicht, ob dies oder
das geraten wird; und ob beides geriete, so wäre es desto besser.
Es
ist das Licht süss, und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen.
Wenn
ein Mensch viele Jahre lebt, so sei er fröhlich in ihnen allen und gedenke
der finstren Tage, dass ihrer viele sein werden, denn alles, was kommt, ist
eitel.
So freue Dich, Jüngling, in deiner Jugend und lass dein Herz
guter Dinge sein
in Deiner Jugend. Tue, was Dein Herz gelüstet und deinen
Augen gefällt (...)
Lass die Traurigkeit aus deinem Herzen und tue
das Übel
von deinem Leibe; denn Kindheit und Jugend sind eitel.
Gedenke
an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen
und die Jahre herzutreten, da du sagen wirst: sie gefallen mir nicht;
ehe
denn die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden
und Wolken wieder
kommen nach dem Regen; (...)
wenn man auch vor Höhen sich fürchtet
und sich scheut auf dem Wege;
wenn der Mandelbaum blüht, und die Heuschrecke
beladen wird,
und alle Lust vergeht (denn der Mensch fährt hin (...) und die Klageleute gehen umher auf der Gasse) (...) Denn der Staub muss wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen ist. (...)
Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel.
Die Lektüre dieses erhabenen alttestamentarischen
Textes verdeutlicht, wie folgerichtig Felix Mendelssohn Bartholdy denselben kurz
vor seinem Tode rezitierte. Reflektiert sich doch dessen gesamter Lebenswandel
oder das Spektrum seines Lebens bishin zu der unmittelbaren seelischen Befindlichkeit
der letzten Monate in hoher Affinität in diesen Versen. Die Lektüre
lässt uns auch massgeblich an der ethischen Persönlichkeit Mendelssohn
teilhaben. Sie zeigt uns somit auch den tiefgläubigen Menschen, welcher sein
ganzes Leben dem Predigerworte gemäss verbrachte.
Sich in maßgeblicher
ethischer Selbstverpflichtung, bishin zu Überlastung und Überarbeitung
seiner musikalischen und somit humanistischen Tätigkeit, dabei "fröhlich
war in seiner Arbeit" und somit der Aussendinge, der "Eitelkeiten"
wenig achtete.
Oh ja, Felix Mendelssohn Bartholdy hatte die Jahre der
Jugend, stetigen musikalischen Wirkens zum Trotze, wahrlich genossen, sich "ihrer
erfreut" und "liess sein Herz guter Dinge sein". Ehe denn die "bösen
Jahre kamen", welche ihm nach und nach die Mitglieder seiner Familie und
andere geliebte Menschen vor der Zeit rauben sollten. "Eitel" erschienen
am Ende seines Lebens die Jahre jugendlicher Freuden und jene erfolgreichen, musikerfüllten
Mannestums.
Nichtig war ihm der Reichtum, den man ihm noch so häufig
zum Vorwurf machen sollte. Mendelssohn achtete des Geldes, der irdischen Güter
nicht und verwandte es stets zum Wohle der Familie, der ihm unterstellten Musiker,
der Musik und anderen wohltätigen Zwecken. Konnte es doch vom Streben eines
ethisch angeleiteten Herzens nach menschlicher Vollendung nicht für einen
Augenblick freikaufen; es lediglich auf dem Wege der Vervollkommnung begleitend
und unterstützend zur Geltung kommen.
Nichtig erschien ihm am Ende
seines Lebens auch sein musikalisches Schaffen, sein unaufhörliches Bemühen
um das Wohl des deutschen Musiklebens, mit welchem er einstmals glaubte, zur Verschönerung
der Welt, zur Verbesserung der Lebensumstände auf ihr und in beitragen zu
können. Nichtig, "eitel", ein vergebliches "haschen nach Wind"
erschien ihm nunmehr das Streben um Vervollkommnung der musikalischen Form und
des musikalischen Ausdrucks, jenes Elementes also, das man später so oftmals
in erklärter oder willfähriger Ächtung als "perfektionistische
Glätte" seiner Musik verunglimpfen sollte. Hätte er ahnen können,
dass Wagner und Nationalsozialisten, willfährige Musikwissenschaftler, Enzyklopädisten,
Rezensenten und Adepten jedweder Art es vermochten, die fatalistisch heraufbeschworene
Nichtigkeit musikalischen Mendelssohnschen Strebens nahezu dauerhaft zu bewahrheiten?
31.
Grenzen in der Bedeutung dieser Musik
Gerhard von Westerman, als Musikfunktionär und Autor in den Kultur- und Propagandabetrieb des "III. Reiches" seinerzeit fest eingebunden, legte im Jahre 1956 einen Konzertführer vor, welcher neben Hans Renners Standard-Veröffentlichung aus dem Hause Reclam bis in die 70ziger Jahre hinein Allgemeinverbindlichkeit unter Musikfreunden der BRD besass. Von Westerman war in der NS-Zeit als Intendant der Berliner Philharmoniker tätig und gehörte im Jahre 1942 neben den Komponisten Werner Egk und Paul Höffer, sowie Egon Kornrauth einer Kommission an, welche im Auftrage des Propagandaministeriums über die publicityträchtige Verteilung finanzieller Zuwendungen an zahlreiche prominente und nachgeordnete Komponisten zu befinden hatte.
Er präsentiert in seinem Konzertführer Beschreibungen folgender Werke Mendelssohns: des "Violinkonzertes in E-moll" op. 64., des "Klavierkonzertes in G-moll" op. 26, der "Italienischen" und "Schottischen Symphony", der Ouvertüren "Hebriden", "Meeresstille und Glückliche Fahrt", "Das Märchen von der schönen Melusine", und "Sommernachtstraum"; sowie den Oratorien "Paulus" und "Elias" .
Dies stellt zugleich einen Überblick der Werkfolge, auf welche sich Felix Mendelssohns umfangreiches Orchester- und Vokalschaffen in Westdeutschland nach 1945 reduzierte, dar. Den Werkbetrachtungen gibt er einleitend Einschätzungen vorweg, welche alle bislang dargelegten Traditionen und Stereotypen der Mendelssohn-Rezeption innerhalb der Deutschen Musikwissenschaft der vergangenen 100 Jahre bruchlos fortschreiben. Daneben stehen unumgänglich vorzubringende Worten der Relativierung unhaltbarer Positionen des 19. Jahrhunderts sowie der Anklage von Nazi-Willkür. Es werden Eischätzungen vorgelegt, welche im Anspruche abschliessenden endgültigen Urteils die gültigen Invektiven der Mendelssohn-Verunglimpfung zusammenfassen:
"Sein Leben war ein einziger Siegeslauf. Die glänzende musikalische Begabung, die ihm (...) Erfolge über Erfolge eintrug, das Liebenswürdige seiner Persönlichkeit, das ihm aller Sympathien verschaffte, die finanzielle Unabhängigkeit durch den grossen Reichtum seines Vaters (...) - alle diese Glücksumstände wirkten zusammen (...). Gegenüber dem unsteten Stürmer und Dränger Schumann (...) wirkte der überaus frühreife Mendelssohn ruhig und überlegen in der klassischen Formbeherrschung. (...) Man hat Mendelssohn daraufhin eine gewisse inhaltsleere Glätte vorgeworfen (...). Die Wiederbegegnung mit seinen Werken nach dem sinnlosen Verbot in der nationalsozialistischen Zeit zeigte dann deutlich die Grenzen in der Bedeutung dieser Musik. (...) Seine Melodien vermögen ebenso zu rühren wie zu bezaubern, seine Musik vermittelt Freude und Entzücken, zu ergreifen oder gar zu erschüttern vermag sie allerdings in den seltensten Fällen. In der kleinen Form, etwa in den reizenden Lidern ohne Worte oder im virtuosen Stil (...) konnte Mendelssohn sein Bestes geben."
32.
Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug
Im Jahre 1965 erschien das "Musiklexikon" der "Deutschen Buchgemeinschaft" als Nachdruck eines vormals veröffentlichten Lexikons aus dem Hause Ullstein. Herausgeber war Friedrich Herzfeld.
Das Ullstein/ DBG-Musiklexikon wurde, enzyklopädischen Gepflogenheiten gemäss, von einem wissenschaftlichen Autorenteam erarbeitet, die Beiträge selbst verbleiben - im Gegensatz zu Kompendien, welche den Artikeln zumindest ein Sigle zugestehen - vollends in der Anonymität.
Erneut ist der Felix Mendelssohn Eintrag eines Lexikons insgesamt von Geringschätzung des Sujets Mendelssohn geprägt. Er irritiert des weitern durch die merkwürdige Gepflogenheit, biographische Fakten weniger zu präzisieren, sondern lediglich lakonisch anzudeuten, als ob es der genaueren Darlegung nicht wert wäre.
"F. M. trug seinen Vornamen Felix
zu Recht, denn das Leben zeigte sich ihm von seiner lichten Seite. Der Reichtum
des Elternhauses erlaubte vielseitige Ausbildung. Mendelssohn.-Bartholdy wurde
mit seiner Schwester Fanny im Klavierspiel unterrichtet. (...)
1826,
also mit 17 J.; komponierte M. die Ouvertüre zu Shakespeares "Sommernachtstraum".
Keines seiner späteren Werke konnte dieses geniale Stück übertreffen.
(...)
In solchen kleinen KlStücken (Klavierstücken, Anm. d. Verf.) zeigte sich M. von der besten Seite. Als Zeugnisse seiner sensitiven Romantik entzücken sie durch schmachtende Melodik und Formglätte. M.s Lieder ohne Worte waren daher für das Bürgertum des 19. Jh. ideale HausMs. Gerade deshalb haben sie heute an Geltung verloren. (...)
Eine Berufung als MusTheoretiker an die Berliner Univers. lehnte M. ab. Seiner Bewerbung als Dirigent der Singakademie wurde nicht entsprochen. Daher trennte sich M. von Berlin. (...)
M. offenbarte hier den Grundzug seines Tonschaffens: romantischen Ausdruck mit klass. Form zu verbinden. Aus der Beschäftigung mit Bach erwuchsen für M. freilich auch Gefahren, denn sein Kontrapunkt geriet nur äußerl. In grösseren W. blieb ein Zwiespalt zwischen Form und Inhalt (...)
Die OrgelW. verblassten schnell. (...)
Nach der "Sommernachtstraum-Ouverture" war M. nie wieder so glücklich in der them. Erfindung wie bei seinem VlKonz.e moll opus 64. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug. Ein halbes J. nach dem Tod der geliebten Schwester starb M. ohne ersichtliche Krankheit."
33.
"Diese Musik wurde ermordet" I
"Das Problem Mendelssohn" war demzufolge ein im Jahre 1972 von der musikwissen-schaftlichen Autorität Carl Dahlhaus in Berlin veranstaltetes Symposium betitelt, das sich, dem dramatischen Titel zuwiderlaufend, nüchterner Analyse dramaturgischer und kompositionstechnischer Fragen von Mendelssohns Musik widmete. Das wahre Problem Mendelssohn fasst Heinrich Eduard Jacob in seinem engagierten Mendelssohn-Portrait "Felix Mendelssohn und seine Zeit" von 1958 denn auch symbolträchtig zusammen:
"Musik, wie sich erwiesen hat, ist durchaus nichts unsterbliches. Aber wie jedes Zeitalter, dessen innerster Ausdruck sie ist, hat sie Anspruch auf einen natürlichen Tod. Die Musik Felix Mendelssohns ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde ermordet."
Musikwissenschaftler in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und den USA bemühten sich ab Ende der 50ziger Jahre entschiedener um Relativierung und grundlegende Neudefinierung eines vergangenheits- und gegenwartgerechten Mendelssohn-Bildes. Die 2. Ausgabe der Zeitschrift "Musik und Gesellschaft" (DDR 1959) bezog sich in grossen Teilen auf den Anlass der Wiederkehr des 175. Geburtstages des Komponisten.
Der Musikhistoriker
Karl-Heinz Köhler, damals Leiter der Musikabteilung der "Deutschen Staatsbibliothek
Berlin" (Ost), legte darin erstmals einen Überblick der Jugendwerke
vor, welche auch die handschriftlich überlieferten, in der bisherigen Gesamtausgabe
ausgeklammerten Werke einbezog. Der Beitrag ging mit den Vorbereitungen der "Leipziger
Ausgabe der Werke F. M. B." einher, welche in den ersten Bänden ausschliesslich
unveröffentlichte Werke vorlegte und Mendelssohn somit in den Rang anderer
grosser Musiker erhob, die zeitgleich fundamentale, philologisch exakte Gesamtausgaben
erfuhren.
In einem anderen Beitrag setzte sich Georg Knepler eine auf Prämissen musikhistorischer Objektivität gründende Gesamtwürdigung des Lebens und Werkes Mendelssohns zum Ziel, die auch das weitreichende Feld der Analyse von Spezialfragen bezüglich Mendelssohns Wirken ansprach. Mit dem Essay unternahm Knepler die Vorveröffentlichung von Passagen seiner umfassenden Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts aus dem Jahre 1961, welche die dringlich gebotene Auflösung einheitlich verstandener Betrachtung von musikalischer Werk- und Rezeptionsästhetik des späten 19. Jahrhunderts vornahm, die Riemanns Enzyklopädie so nachhaltig prägte.
In den USA wirkten beispielsweise Eric Werner und Donald Mintz im Sinne einer objektiven Neusicht auf das Oeuvre Mendelssohns. Neben zahlreichen Essays, welche sich mit Spezialfragen des Sujets befaßten, legte Werner im Jahre 1963 eine Biographie des Komponisten vor, die Erkenntnisse aus bislang unveröffentlichtem Briefmaterial bezog und mittlerweile als Standardwerk eingeschätzt wird.
In der bereits herangeführten Betrachtung Ulrich Schreibers von der "Unbequemheit eines romantischen Klassizisten" nimmt der westdeutsche Autor auch eine Bestandsaufnahme vom Tageswert Mendelssohnscher Musik in den 70zigerJahren vor. Dabei kommt in behutsam allegorischer Verklausulierung auch die massive Präsenz ehedem nationalsozialistisch geprägter Funktionäre in allen Bereichen bundesdeutschen Musiklebens zur Sprache.
"Sicherlich
wäre es unsinnig, vom Deutschen Musikbetrieb eine Wiedergutmachung an einem
lange diffamierten Komponisten zu verlangen; denn dieser Musikbetrieb ist selbst
derart hoffnungslos stigmatisiert, dass von ihm keine Klärung seiner Zukunft
über eine Bewältigung der Vergangenheit zu erhoffen ist.
Denn
eines steht fest: bis auf eine oder 2 Ouvertüren, bis auf eine oder 2 Symphonien,
bis auf das Violinkonzert schliesslich ist Mendelssohn heute tot. Seine Chormusik,
seine Streichquartette, seine Lieder ohne Worte, das alles ist vergessen, weil
niemand sich Gedanken darüber macht, dass in der Musik dieses klassischen
Romantikers geradezu paradigmatisch das zum Ausdruck kommt, was heute noch unser
Musikleben...ausmacht: eben die kanonischer Verbindung von Klassik und Romantik."
34.
Das erreichbare Höchstmass an Glätte und Ausgeglichenheit...
Im Nachbarstaat Österreich wiederum ist die Tradition der Mendelssohn-Pflege unter umgekehrtem Vorzeichen, also einschlägigen ästhetischen Vorbehalten gegen seine Musik auch in neuerer Zeit zumindest partiell nachweisbar. Der Verlag "Jugend und Volk" (!) Wien beschied den im Verlagsnamen genannten Zielgruppen im Jahre 1970 im "Symphoniekonzert - ein Stilführer durch das Konzertrepertoire", daß: "die Vollkommene Beherrschung der kontrapunktischen Technik und sein spezieller Sinn für das Verbindliche (...) ihn (Mendelssohn) zu einem symphonischen Stil (führten), der das erreichbare Höchstmass an Glätte und Ausgeglichenheit erzielte"
In der Betrachtung der 4. Symphony
- die "Italienische" interpretiert der Autor Rudolf Klein des Weiteren
den Werkcharakter ausschliesslich aus schriftlich niedergelegten Impressionen
heraus, welche das Land Italien beim Komponisten hinterliess.
Klein behauptet,
daß "für ihren (der 4. Symphony) Charakter (...) bezeichnend (ist),
was der Komponist über seine Empfindungen in Italien schrieb: "Ich habe
mir den ganzen ersten Eindruck von Italien wie einen Knalleffekt, schlagend, hinreissend
gedacht; - so ist es mir bis jetzt nicht erschienen, aber von einer Wärme,
Milde, Heiterkeit, von einem über alles sich ausbreitenden Behagen und Frohsinn,
daß es unbeschreiblich ist."
Behagen und Frohsinn sprechen auch
aus dem Werk, daß direktere Beziehungen zu seinem Titel nur durch den letzten
Satz schafft, einem Saltarello, in dessen Rhytmik und Melodik die Tarantella des
Italieners eingefangen scheint."
Da diese, ohne jeden Hinweis auf
Quelle und Datum herangeführte Konstatierung impliziten Klischees bezüglich
"Wärme, Milde und Heiterkeit" aus dem Munde des Komponisten selbst
in keinem erkennbaren Zusammenhang zur Komposition steht, erscheint die Vorgehensweise
Kleins, eine Werkinterpretation nicht aus der Analyse konkret vorgelegter Musik,
sondern aus autonomen biographischen Subjektivismen herzuleiten, als fragwürdig
und tendenziell.
Übereinstimmung oder Abweichung der Mendelssohn-Rezeption Österreichs bis zum "Anschluss" im Jahre 1938 und nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes; des Weiteren die Mendelssohn (und Meyerbeer)-Rezeption in der deutschsprachigen Schweiz vollständig nachzuvollziehen, dies Thema wäre wiederum einer eigenständigen Untersuchung wert.
35.
Philosophische Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn
Der Komponist und Musikpublizist Walter Abendrot war in den Jahren des III. Reiches aus einem Freundeskreis um den in nationalistisch-antisemitischer Zwiespältigkeit befangenen Komponisten Hans Pfitzner heraus als Agitator gegen "jüdische Musikzersetzung" und neue Musik tätig. Er verkündete nach 1945 u. a. als Feuilletonchef der renommierten Wochenzeitung "Die Zeit", Gründungsmitglied der "Freien Akademie" in Hamburg und Autor weiterhin Lehrmeinungen latent antisemitischen Charakters.
In einer Ende der sechziger Jahre erschienenen "Kurzen Geschichte der Musik" zeichnet er so mit ausgesucht freundlichen, diffamierenden Worten das Portrait eines charmanten, oberflächlichen jüdischen Dandys:
"Ein anderes Berliner Bankhaus bescherte der deutschen Musikromantik ihren urbansten Vertreter: den liebenswürdigen, eleganten, formgewandten und lebenstüchtigen, heiter-gebildeten und jünglinghaft-verschwärmten Felix Mendelssohn-Bartholdy."
Wenige Zeilen später verlässt er die Ebene wohlwollenden Kulturplauderns zugunsten deutlicher Worte:
"Es unterliegt keinem Zweifel, das (...) das Violinkonzert die Geiger immer anziehen wird, von den Klavierkompositionen die Lieder ohne Worte beste Hausmusik sind, auch in gewissen dünnblütigen Nummern, die dann wieder durch ihre spielerische Leichtigkeit entschädigen. Die beiden Oratorien Paulus und Elias haben uns nicht mehr allzuviel zu sagen, desgleichen die meiste Kammermusik, die Psalmen, Motetten, Lieder und jene Art von Männer- und gemischten Chören, an denen sich biergemütliche Gesangsvereine jahrzehntelang nicht ersättigen konnten."
Die "Kurze Geschichte der Musik" Walter Abendroths wurde im Jahre 1978 als Taschenbuch neu verlegt. Sie ist in der 4. Auflage von 1994 (DTV/Bärenreiter) weiterhin problemlos erhältlich und wirbt mit "dem Vergnügen einer fast plaudernd vorgetragenen Belehrung" für " oberflächlich Interessierte". Somit stellt diese nur 147 Seiten umfassende Musikgeschichte auch hinsichtlich ihres attraktiven Taschenbuch-Preises sicherlich die ideale Erstlektüre für junge Musikliebhaber dar, der Fortbestand der Auffassung Mendelssohns als eines überschätzten Kleinmeisters ist somit partiell gewährleistet.
Auch Walter Abendroth liess sich in jenen unseligen Jahren der Hitler-Diktatur u. a. über die Frage "Musik und Rasse" aus, herausgegeben in "Deutsches Volkstum" von 1937. Ein weiteres Traktat liegt in "Opernideale der Rassen und Völker" aus "Die Musik" vom März des Jahres 1936 vor.
Musikführer aus dem Traditionshause Reclam transportierten die das Oeuvre Mendelssohns entwertenden Stereotypen bis in die neunziger Jahre hinein. Sie halten, der Überarbeitung jüngster Zeit zum Trotz, Beurteilungen vom "Sinn für ästhetisch "schöne" Wirkung", vom "Stil (...) der klassisches Ebenmass der Form mit romantischer Empfindsamkeit wohltuend verbindet" als "Stil des geringsten Widerstands", wie Hans Renner im dem in den 60ziger Jahren erschienen Orchestermusikführer aus dem Reclam-Verlag schreibt; also geläufige Entwertungen von Mendelssohns Schaffen, dem erwähnten Konzertführer von Westermans gleich, über Bibliotheken weiterhin aufrecht.
Der Musikpublizist Hans Renner, Autor einer umfangreichen Musikgeschichte, welche u. a. in den 90ziger Jahren über Buchgemeinschaften vertrieben wurde, war im III. Reich im Rahmen der Organisation "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) tätig.
So
gehörte er im Jahre 1934 einem Gremium der DAF an, welches einen Musikpreis
für Kompositionen zu vergeben hatte, die den Ethos Deutscher Arbeit verherrlichten.
Der Preis von 500 RM erging an "Weckruf und Lob der Arbeit" von Karl
Gerstenberg.
In seiner Geschichte der Musik", erstmals erschienen im Jahre 1965 und im Jahre 1991 unverändert vom Bertelsmann-Buchclubverlag nachgedruckt, prägt Renner das Bild eines Kleinmeisters der Biedermeier-Zeit, welcher seine eng bemessenen Grenzen klar erkannt und somit lediglich als "schönster Zwischenfall der deutschen Musik" zu gelten habe. Die tendentielle, von Antisemitismus und NS-Zeit beeinflusste Sichtweise auf Person und Werk Felix Mendelssohns in der Publizistik Hans Renners, belegt sich allein schon durch die wahrheitswiedrige Schreibweise des unverbundenen Doppelnamens als Mendelssohn-Bartholdy. Renner verkennt dabei eklatant die tiefe Verwurzelung von Mendelssohns unaffektiertem Komponieren in rein humanistischen, ethisch empfundenen Idealen und sperrt ihn vielmehr in den engen Käfig der genannten Grenzen einer hypersensiblen Unfähigkeit zu dramatischem Ausdruck. Obgleich Renner selbst von einer Mendelssohn-Schule spricht, aus welcher Komponisten wie Hiller, Volkmann, Kiel, Reinecke und Draeseke hervorgegangen sind, neigt er doch zum Widersprüchlichen. Ohne auf das Leipziger Konservatorium und dessen Mendelssohn-Pflege in der Nachfolge des Komponisten oder die Affinität Mendelssohns zu Schumanns und Brahms Schaffen, zu jenem Bruchs und Regers einzugehen, spricht Renner dem "schönsten Zwischenfall der Musik" Mendelssohn des Weiteren jedwede Stilprägung und musikalische Gefolgschaft rundweg ab.
Renner schreibt also:
Felix Mendelssohn-Bartholdy, Romantiker mit biedermeierlichem Einschlag, war nach der Ansicht seines Freundes Schumann "der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaute und zuerst versöhnte." (...) Alles Extreme, übersteigert emotionale war ihm zuwider. Die ungestümen Kraftausdrücke in Beethovens "IX. Sinfonie" erschreckten ihn ebenso wie das Zerrissene, Dunkle, Exzessive in manchen Werken Schumanns. Mit heiterer Selbstironie meinte er einmal, er sei ein Philister gegenüber Berlioz, denn nicht das Grenzenlose, vielmehr das Umgrenzte, Einfache, Klare entspreche seiner Natur. Er kannte seine Grenzen genau und er hielt sich in ihnen, das war seine Stärke. (...)
Mendelssohn blieb "der schöne Zwischenfall der deutschen Musik" (...) Zu einem Ausgleich der in ihr wirkenden Gegenkräfte kam es nicht. Jeder der "Grossen" ging seinen eigenen Weg, um jeden bildete sich eine Schule von Mit und Nachläufern, keiner vermochte wiederherzustellen, was verloren war: die Einheit der Anschauungen, der Gesinnung, des Stils."
Noch in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reflektieren über jeden Verdacht erhabene Kultur- und Medienbetriebe Geringschätzung und Desinteresse des musikalischen Tagesgeschehens an Musik, Person und Rezeptionsgeschichte Felix Mendelssohns. Lassen die Musikredakteure - geschult an den im Verlaufe dieser Abhandlung genannten Enzyklopädien und Handbüchern des zwanzigsten Jahrhunderts - wiederum die stetig repetierten stereotypen Wendungen anklingen.
So geschehen in einem im Jahre 1984
anläßlich des 175. Geburtstages Mendelssohns am 4. Februar in der liberalen
"Frankfurter Rundschau" veröffentlichten Gedenkbeitrags, welcher
vom "Musterschülerhaften der Formprägung" Mendelssohnscher
Kompositionen der "Sonatenform als Maske", den "Gewächshausblumen
der Klavierstücke", der "nazarenisch geleckten Verzückung
der Oratorien" spricht. Ja, der Artikel nimmt gar - zitiert nach Wulf Konold
" - mit seiner Kritik an Mendelssohns schnellen Sätzen, seinem Hinweis
auf "nervöse Ratlosigkeit" und "verdrängte Lebensunruhe"
unbewusst unmittelbaren Bezug auf den rassisch begründeten Aspekt der "semitischen",
der "prickelnden Unruhe" in dem Juden-Aufsatz Freigedank/ Wagners aus
dem Jahre 1850.
Im gleichen Jahre ging Gustav Stresemann - langjähriger Intendant der Berliner Philharmoniker zu Furtwänglers und von Karajans Zeiten - daran, seine "Lanze für Felix Mendelssohn" zu brechen.
Aber gleich zu Beginn seines durchaus engagiert erarbeiteten, etwa 250 Seiten umfassenden Mendelssohn-Portraits, wird der Leser mit widersprüchlichen Fragen und Betrachtungen verwirrt.
So heisst es zu Anfang durchaus zutreffend:
"Muss man sie brechen? Rennt man nicht offene Türen ein? Leider nicht. So seltsam es klingt, auch heute begegnet man manchen Missverständnissen gegenüber einem Komponisten (...), der sich schwer einordnen lässt, im Vergleich mit den berühmtesten seiner Zeitgenossen den kürzeren zu ziehen scheint und mit vielen seiner bedeutensten Werke nahezu ein Schattendasein führt."
Wenige Zeilen später verstört Stresemann mit einer Missinterpretation, einer markanten Negation der bislang dargelegten antisemitischen und musikgeschichtlichen Vorfälle und Traditionen der Mendelssohn-Rezeption.
Als unmittelbarem
Zeitzeugen der NS-Diktatur und deren Eliminierung von Mendelssohn-Musik hätten
ihm, auch als führendem Vertreter des deutschen Musiklebens jener Zeit, vor
allem die Auswirkungen und Folgen des unmittelbaren Verbotes der NS-Zeit auf die
Mendelssohn-Rezeption nach dem Kriege wie auch jene der Fortschreibung braunen
Gedankengutes oder jener von Riemann u. a. autorisierten entwertenden Klischees
von Glätte, Kälte o. ä. im akademischen und musikpubli-zistischen
Bereich nach 1945 zwingend bewusst sein können und müssen:
"Aber
schon bald begann sein Stern zu verblassen, die ihm zu Lebzeiten zuteil gewordene
Wertschätzung zu sinken. Es wäre durchaus verfehlt, hierfür Richard
Wagners spätere Attacken oder Hitler mit seinem Verbot sogenannter nichtarischer
Musik besonders verantwortlich zu machen. Denn auch nach deren Tode ist es zu
einer wahren Mendelssohn-Rennaissance nicht gekommen. Aus Felix, dem Glückskind,
wurde im Laufe der Jahrzehnte ein "Stiefkind", und diese Entwicklung
hat sich bis in unsere Tage fortgesetzt."
Im Abschluss des Vorwortes
zu seinem Mendelssohn-Portrait stellt Stresemann den Gegenstand desselben, also
Leben und Werk des Komponisten, in hohem Masse in Frage, reflektiert die bekannten
Stereotypen Mendelssohnscher Entwertung. Die Lanze, vorgeblich für Mendelssohn
eingelegt, muss somit von Anbeginn an stumpf bleiben.
"Niemand bestreitet zwar die Bedeutung der Musik zum Sommernachtstraum oder des nur selten zu hörenden "Oktetts", Werke, die Felix mit 17 oder 18 Jahren schrieb; auch das Violinkonzert, ...sowie 2 seiner Symphonien finden allgemein Zustimmung. Aber Mendelssohns Gesamterscheinung bleibt umstritten. Dies gilt für einen erheblichen Teil seiner Kompositionen, die oft als glatt, oberflächlich, zu gefällig bezeichnet werden, wie auch für sein Leben, einmal der strahlenden, vom Glück überreich gesegneten Jugend, die Leid nicht kannte, daher unfähig, tiefere Werke zu erzeugen, dann von den späteren, Nicht selten ruhelosen Jahren mit ihrer vielgleisigen Betriebsamkeit, Folge fast zu mannigfacher Gaben oder vielleicht auch des Wunsches, sie zur Schau zu stellen".
Im Jahre 1983 gab Joseph Wulf seine dankenswert umfassend erstellte Sammlung aufschlussreicher Dokumente aus dem "Kultur"-Betrieb des "III. Reiches heraus. Im Vorwort des Bandes "Musik im III. Reich" - es diente auch als Grundlage zahlreicher hier wiedergegebener Traktate des akademischen und musikalischen Nationalsozialismus - fasste Wulf Ursprung und Entwicklung des musikalischen Chauvinismus, also auch die Geschichte Mendelssohnscher Entwertung, in wenigen Zeilen hellsichtig zusammen:
Mit seinen Ideen und vielen Schriften legte Richard Wagner den Grundstein für eine verhängnisvolle Richtung in der deutschen Musikwelt, die in ihrer Entwicklung fortlaufend bereichert, ergänzt und endlich vervollkommnet wurde. Um diesen Wachstumsprozess in seiner ganzen Eindeutigkeit unmissverständlich zu erkennen, braucht man nur den Wagner des 19. und den Hans Pfitzner des 20. Jahrhunderts zu lesen. Wenn gewisse Wisssenschaftler des Dritten Reichs Schiller als ersten Nationalsozialisten bezeichnen, so kann man darüber wirklich nur lächeln. Falls sich jedoch diese Behauptung auf Wagner bezieht, besteht eine gewisse Berechtigung.
Dem Buch "Musik im III. Reich" ist denn auch wahrhaft symbolträchtig jene Metapher Thomas Manns aus dem Jahre 1911 vorangestellt:
"Die Deutschen sollte man vor die Entscheidung stellen: Goethe oder Wagner. Beides zusammen geht nicht. Aber ich fürchte, sie würden Wagner sagen".
Im Jahre 1988 legte der russische Dirigent Semyon Bychkov auf dem Philips-Label eine Schallplattenaufnahme der 3. und 4. Symphony Mendelssohns, der "Schottischen" und "Italienischen" vor, welche er im Jahre 1986 mit dem London Philharmonic Orchestra realisiert hatte. In einer Rezension reflektiert Werner Bollert in der Musikzeitschrift "Fono Forum" vom Februar des Jahres 1988 in abfälligem Tonfall anschaulich die Tatsache, dass man Mendelssohns Hauptwerke keinesfalls als festen Bestandteil des Kernrepertoires auf den Konzertpodien der Welt ansah und anzusehen habe. Bestätigt er die durch eine unsäglich hürdenreich, ja katastrophal verlaufene Rezeptionsgeschichte geprägte Aussenseiterposition, die Mendelssohn im Konzertrepertoire immer noch einnimmt.
Anschließend stellt Bollert gar den musikalischen
Wert der "Schottischen", sicher eines der hochrangigen Mendelssohnschen
Meisterwerke, pauschal in Frage und stellt sich dabei in den Gegensatz zum Dirigenten,
welcher sich - Bollerts Worten zufolge - den beiden Werken mit grosser Aufmerksamkeit
und Hingabe widmete.
"Selbstverständlich war und ist er (Bychkov) bestrebt, sein Repertoire zu erweitern und die grossen Meister der Sinfonik in seine Programme miteinzubeziehen (...) Dem Medium Schallplatte hat er sich ebenfalls nicht verschlossen; hier begann er bezeichnenderweise mit der fünften Sinfonie von Schostakowitsch, der er Tschaikowskys "Nussknacker" folgen liess. Die dritte Produktion...galt diesen beiden Schöpfungen Felix Mendelssohns. Ob Bychkov aber damit schon zum "harten Kern" der klassisch-romantischen Sinfonik vorzustossen vermochte (wie es die Plattenwerbung formuliert), sei dahingestellt.
Gerade an diese Aufnahme hat Bychkov offenbar viel Mühe gewandt; doch das klingende Ergebnis ist nicht sehr zwingend ausgefallen. Bei der "Schottischen" liegt das Problem zweifelsohne im Werk selbst, in der Konzeption der Ecksätze (beispielsweise will es nur selten gelingen, die A-Dur-Krönung des Finales, Allegro maestoso assai, wirklich plausibel darzustellen)."
Eine im
Jahre 1989 vom westdeutschen Fernsehen produzierte Dokumentation der Geschichte
des Leipziger Gewandhauses und seines Orchesters erwähnt mehrfach den Komponisten
"Moses Mendelssohn Bartholdy" bzw. "Moses Mendelssohn", welcher
seinerzeit dort als Dirigent tätig war.
Im Jahre 1991 promovierte
Hartmut Wecker mit einer Studie über den "Epigone(n) Ignaz Brüll".
Nicht allein, daß Wecker darin eine Verharmlosung von Wagner/ Freigedanks
Judenschrift in der Thesenstellung und Folgewirkung vornimmt. Er behauptet darin,
dass jene "mit Recht "Das Epigonentum in der Musik" lauten"
müsse; ein "Faktum"...(welches)...bislang unbeachtet geblieben"
sei. Bedenklicher als dies stimmt noch das abschliessende Urteil, welches Welcker
über die jener Studie zugrundeliegende Persönlichkeit Ignaz Brüll
fällt: Brüll sei ein Epigone gewesen, "weil er Jude war."
36.
Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten
Im Jahre 1997 verweist Gerhard R. Koch im umfangreichen Gedenkartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anlässlich des 150. Todestages Mendelssohns am 4. November dezidiert auf "Grenzen", welche der Musik Mendelssohns "unbestritten" gezogen seien. Koch paraphrasiert mit dem Satz "Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten." unmittelbar eine zentrale Sentenz aus von Westermans maßgeblichen Darlegungen aus dem Jahre 1956. Dieser Gedenkbeitrag "Weltgeist, auf Flügeln des Gesanges" Gerhard R. Kochs ist einmal mehr einer spezifischen Dramaturgie musikgeschichtlicher Analyse unterworfen, welche sich exklusiv in der Darstellung des musikalischen Phänomens Mendelssohn findet und aus etlichen, vermeintlich objektiv vorgenommene Betrachtungen hervorgeht.
Nicht
allein die Nachwirkungen fataler musikpublizistischer und -wissenschaftlicher
Überlieferungen; auch die suggestive, faszinierende Negativ-Aura, welche
die Rezeptionsgeschichte um das Phänomen Mendelssohn zu errichten verstand,
fanden in dieser Dramaturgie der Negation ihren Ausdruck. Auch die Dominanz spätromantisch-subjektiven
Musizierens das Ideal heroisch-monumentalen Tonfalls, welche das Musikleben in
Deutschland bis in die 60ziger Jahre hinein prägte, mag in diesem und in
anderen Fällen unwillkürlich ihren Ausdruck gefunden haben. Das Muster
ist wie folgt: Umsichtig, sachkundig, "objektiv", ausführlich werden
die spezifischen hohen Qualitäten des Idioms mendelssohnscher Musik gewürdigt;
desgleichen Ungerechtigkeit, ja Absurdität ideologisch besetzter Urteile
und Stereotypen hervorgehoben. Doch im wenigen bedeutsam formulierten Worten oder
Zeilen wird dann zumeist aber eine pauschale Zurücksetzung des gesamten Sujets
Mendelssohn vorgenommen. Lassen Autoren wie Koch das im Verlaufe eines äusserst
umfangreichen Beitrags bedachtsam errichtete Gebäude "objektiver"
Würdigung der belasteten Mendelssohn-Rezeption mit einem Satz wieder in sich
zusammenfallen. In den Grundzügen geht es wiederum auf das rhetorische und
dramaturgische Vorbild zurück, welches Freigedank/Wagner einstmals prototypisch
vorgab.
Wir erinnern uns: Mendelssohn "hat uns gezeigt, daß
ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste mannigfachste
Bildung, das gesteigertste... Ehrgefühl besitzen kann, ohne es...je ermöglichen
zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende
Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir...der Kunst...fähig wissen, weil
wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer Kunst
sozusagen nur den Mund auftat".
Phänomene werden am Vorfall Mendelssohn in kritischer Distanziertheit konstatiert, welche im Falle anderer bedeutsamer Komponisten kaum einer Silbe gewürdigt würden.
"Grenzen, welche der Bedeutung dieser Musik unbestritten" gesetzt sind: Diese liessen sich wohl mit Leichtigkeit hinsichtlich der Musiksprache jedes Komponisten spezifisch definieren. Doch nur in diesem speziellen Fall legen Publizisten wie Riemann, Keller, Chop, Moser, von Westerman, Schweickart und Koch den eigentümlichen Sonderfleiss zu Tage, "Grenzen" in der Tonsprache eines bestimmten Komponisten zu eruieren.
37.
Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit einem doch bedeutenden
Komponisten überhaupt möglich?
Die Dramaturgie der
Münchner Philharmoniker konstatiert in den Ankündigungen eines Konzertes
in der Saison 2001/02, welches Mendelssohns bedeutendes Chorwerk "Elias"
vorstellte, leichtfertig, das "die alttestamentarischen und damit jüdischen
Traditionen der Bibellektüre Felix Mendelssohn Bartholdy sozusagen "im
Blut" lagen." Dabei unterstellt sie in unsäglicher Entlehnung fataler
NS-Terminologien, das Mendelssohn als Jude quasi einem semitisch-biologischen
Rasseprinzip unterworfen gewesen sei.
Im Jahre 2003 legte der Chamber Choir of Europe unter der Leitung des Dirigenten Nicol Matt bei Brilliant Classics in dankenswerter Initiative eine Gesamtaufnahme des gesamten geistlichen Chorwerkes Felix Mendelssohns vor.
Zu Beginn seines engagiert erarbeiteten Mendelssohn-Artikels im Begleitbuch fasst Christian Wildhagen die fatale Entwicklung der Mendelssohn-Entwertung noch einmal prägnant zusammen und konstatiert demzufolge Mendelssohns fatale aktuelle Positionierung im Musikleben als eines Komponisten quasi lediglich in der zweiten oder gar erst dritten Reihe.
"Wenigen Komponisten hat die
Nachwelt derart übel mitgespielt wie Felix Mendelssohn Bartholdy. (...) Obwohl
er noch zu Lebzeiten als überragender Vertreter der deutschen Musik im frühen
19. Jahrhundert geehrt wurde, spielt sein Schaffen heute im Ganzen nur mehr eine
untergeordnete Rolle. Wären nicht Geniestreiche wie die Ouvertüre zu
Shakespeares "Sommernachtstraum", die "Italienische" Symphonie
oder das Violinkonzert - man würde Mendelssohn wohl umgehend, Carl Loewe
oder Heinrich Marschner vergleichbar, zu den Komponisten der zweiten und dritten
Reihe schlagen.
Schon seine einst viel gesungenen Lieder, aber auch die Klaviermusik
und die ehedem als stilbildend geschätzten Streichquartette sind überwiegend
an den Rand des Repertoires gerückt, und man kann nicht umhin, diese Auslese
als arg beschränkt zu empfinden - namentlich im Vergleich mit Zeitgenossen
wie Schumann oder Chopin, deren Werk in weit reichhaltigeren Ausschnitten rezipiert
wird. Noch ärger ist freilich ein Bereich betroffen, der zweifelsohne zu
den Schwerpunkten in Mendelssohns Oeuvre zählt: die Chormusik. Hier hat sich
die posthume Auswahl nahezu ausschliesslich auf die beiden grossen Oratorien "Paulus"
und "Elias" und einige wenige Einzelstücke verengt.
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Dass Mendelssohn heute kaum mehr die Wertschätzung erfährt, die seiner herausgehobenen Stellung im europäischen Kultur- und Geistesleben um 1840 entspräche, mag zum einen, wie oft behauptet, noch immer der Verfemung seiner Person und der Ächtung seines Werks durch den Nationalsozialismus geschuldet sein. Von dem totalen Aufführungsverbot während der Zeit des "Dritten Reiches" hat sich sein Schaffen tatsächlich nie recht erholt; entsprechend ist auch die Wahrnehmung seiner Biographie nach wie vor nicht frei von Denkmustern, die sich mitunter gefährlich im Fahrwasser antisemitischer Rezeptionsmuster bewegen. Richard Wagners fatales Pamphlet über "Das Judentum in der Musik" hat hier schon 1850 die Stossrichtung vorgegeben, und so scheint es, als habe sich der Nationalsozialismus lediglich auf perfide Weise zu Nutze gemacht, was an mehr oder minder künstlerisch motivierten Einwänden von jeher gegen Mendelssohn vorgebracht worden ist. (...)
Dessen ungeachtet hatten bereits viele Zeitgenossen Mühe, die Vorstellung vom wohl behüteten, mit der Leichtigkeit eines Mozart schaffenden Wunderkind, die Mendelssohn so eindrucksvoll mit der "Sommernachtstraum"-Ouvertüre oder dem Streichoktett unter Beweis gestellt hatte, in Einklang zu bringen mit dem bevorzugten Künstlertypus der aufkommenden Romantik, die in der Nachfolge Beethovens gerade das titanhafte Ringen um jeden Ton und jede Phrase als wahre Grösse schätzte.
Mendelssohns religiöse Musik - und damit ein Grossteil seines Chorwerks - hatte überdies lange vor 1933 unter dem Vorurteil zu leiden, ein zum Protestantismus übergetretener Jude könne keine adäquate christliche Kirchenmusik verfassen. In solchen Klischees, die leider in erheblichem Ausmass die Rezeptionsgeschichte sowohl des 19. wie des 20. Jahrhunderts prägen, spiegelt sich allenfalls an der Oberfläche ein viel tiefer liegendes Problem: die grundsätzliche Ungewissheit (...), welche Richtung die Musik nach dem Ende der klassischen Epoche einschlagen werde..."
Werner Pfister rezensiert die Gesamtaufnahme der geistlichen Chorwerke Mendelssohns unter Nicol Matt in der Oktoberausgabe der Zeitschrift "Fono Forum" des Jahres 2003 auf der Seite 77.
Gleich zu Beginn der Rezension wirft Pfister eine zentrale, entscheidende Frage der Mendelssohn-Rezeptionsgeschichte auf:
"Liest man sich in Eric Werners Mendelssohn-Biographie im Werkverzeichnis durch die geistliche Chormusik, stösst man wiederholt auf den Hinweis "Manuskript". In der Tat sind wesentliche Werke, darunter die grossen Choralkantaten, erst vor gut 20 Jahren erstmals gedruckt worden. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit einem doch bedeutenden Komponisten überhaupt möglich? Die Frage ist um so brisanter, als es sich beim geistlichen Chorwerk Mendelssohns nicht gleichsam um Nebenprodukte handelt, sondern mehrheitlich um ausgereifte grosse Kantaten, um Hymnen und Psalmen; auch Magnificat, Gloria und Te Deum fehlen nicht. Ganze zehn Compact Discs machen sie insgesamt aus - mithin wohl die umfangreichste Gattung überhaupt in Mendelssohns Schaffen".
Ja, wie war und ist die Geringschätzung eines bedeutenden Komponisten und wesentlicher Teile seines Oeuvres überhaupt möglich gewesen? Dieser Frage eingehender nachzuspüren, war und ist eben auch zentrales und wesentliches Bestreben und Ziel beim Verfassen dieser Abhandlung gewesen. Wie konnte es geschehen, dass der Pamphlet gewordene Künstlerneid eines musikalischen Rivalen gleichsam zum Dogma ganzer Generationen von Musikliebhabern, -wissenschaftlern und -publizisten wurde? Dass die Mär vom Heros in der Musik das Ansehen eines feinsinnigen Humanisten auszulöschen verstand, der, dem Schaffen eines Mozart vergleichbar, Werke von erhabener klassizistischer Klarheit, Hellsicht und Konzentration zu schaffen verstand? Dass ein Publizist nach dem anderen manuskriptgewordene Klischees und Stereotypen des Vorgängers transkribierte? Dass ein Volk in Gesamtheit in den nationalen Grössen- und Rassenwahn verfallen konnte und somit Leben und Werk eines ganzen Volkes in Deutschland zu verfemen, aus Deutschland auszumerzen trachtete? Wie war es möglich, dass die Eliten des verbrecherischen Regimes mit dem ethischen Wiederaufbau eines demokratischen Gemeinwesens betraut wurden und somit Ungeist und Vorurteil in der Einschätzung eines einstmals von den Zeitgenossen und hellsichtigen Repräsentanten eines besseren Musiklebens als wahrhaft gross angesehenen Komponisten fortzuschreiben und fortzulehren vermochten? Dass die Routine eines klassisch-romantisch dominierten Musikbetriebs sich bislang der Aufgabe einer umfassend vorgenommenen Mendelssohn-Restaurierung auf den Konzertpodien so hartnäckig und desinteressiert zu entziehen vermag?
Ja,
wie war und ist das alles im Bereich einer sich in Vergangenheit und Gegenwart
als aufgeklärt gerierenden Kulturnation überhaupt möglich?
Im weiteren Verlauf der Rezension relativiert Pfister die Bedeutsamkeit seiner so zentral gestellten Aussage, indem er Mendelssohn Schaffen in der Tradition von Publizisten wie von Westerman einmal mehr als vordringlich gefühlig und subjektivistisch bewertet. Wieder haben wir es also hier mit der Einschätzung Mendelssohns als lyrisch empfindsamem Kleinmeister zu tun, welcher zur Nachempfindung menschlichen Leides nicht befähigt somit wahrhaft grosse und bedeutungstiefe Musik nicht vorzulegen verstand.
"Der formale Aufbau - Chornummern wechseln mit Soloarien - orientiert sich am barocken Vorbild, doch die Mittel, mit denen musikalisch gebaut wird, sind romantische. Stilistisch heisst das: Statt einer scharf-linearen barocken Kontrapunktik herrscht hier eine lyrisch innige Empfindsamkeit, die zwar gross und erhaben wirken kann, im wesentlichen aber in den kleiner bemessenen Bereichen des subjektiven Gefühls ihren eigentlichen Ort hat."
Dem Dirigat Matts bescheidet Pfister des Weiteren, dass er "ersichtlich ein Gespür hat für das, was diese Musik leidet und was sie eben nicht leidet..."
Konold gibt dem Musikleben angesichts solch getreulicher Kontinuität unausgesetzter Mendelssohn-Infragestellung und -Reduktion den salomonisch anmutenden Rat mit auf den Weg: "Man versteht Mendelssohns ausgeprägte Abneigung gegen jede Art von Musikpublizistik und man kann - ein Lessing-Wort paraphrasierend - nur wünschen, Mendelssohns Musik werde weniger beschrieben, aber mehr aufgeführt."
38. "Diese Musik wurde ermordet"
II
Auch ein Blick auf den musikalischen Tagesbetrieb verdeutlicht, das die Konstatierung vollgültiger Rehabilitierung der Werke Felix Mendelssohns nach 1945 vorschnell erfolgte.
Das im Jahre 1988 von der Musikhandelverlagsgesellschaft Bonn vorgelegte Handbuch des Musikalienhandels, ein Lehrbuch für angehende Musikalienhändler gibt unter der Rubrik V auf der Seite 21 auch einen Überblick über die "Wichtigsten Werke der Klassik".
Es handelt sich dabei wohl um ein Verzeichnis der im Noten- und Schallplattenhandel am meisten verlangten Werke; 67 Kompositionen gängigsten Repertoires werden genannt.
Während Mozart beispielsweise mit 6, Beethoven mit 7, Schubert mit 6 und Chopin mit immerhin 4 Kompositionen vertreten sind, ist Mendelssohn mit nur einem Werk aufgelistet. Es handelt sich dabei aber nicht um die angeblich bei Musikanfängern so beliebten, oftmals als "Fingerübungen" diffamierten "Lieder ohne Worte" sondern das erhaben schöne Violinkonzert.
Nichts desto trotz ist die Verankerung Mendelssohns im aktuellen Musikbetrieb - analog seiner Präsenz auf den Konzertpodien - quasi auf ein einziges Werk zurückgegangen.
Im Jahre 1995 veröffentlichte der süddeutsche Grossrezensent Joachim Kaiser im Schneekluth Verlag München das Kompendium Kaisers Klassik, eine Umschau über 100 Meisterwerke der Musik, welcher aus einer wöchentlichen Zeitungskolumne hervorging. Das Buch wurde im Jahre 2001 im btb-Verlag/ Goldmann als Taschenbuch wiederveröffentlicht.
Die Umschau bietet ein dem Handbuch des Musikalienhandels vergleichbares Bild. Unter 100 Meisterwerken, welche Joachim Kaiser als massgeblich vorstellt, firmiert Mendelssohn wiederum nur mit einem Werk, dem Violinkonzert. Wenn man besieht, dass es sich um nur ein Werk unter immerhin 100 handelt, bietet sich der Schnitt, die Relation in Sachen Mendelssohn-Rezeption noch ungünstiger, als es im Verhältnis 1:67 im Handbuch des Musikalienhandels der Fall ist.
Wie präsentieren sich andere Komponisten mit Werken unter den 100 ausgewählten? Ludwig van Beethoven dominiert die Auswahl mit sage und schreibe 14 Werkbeschreibungen bei weitem, aber auch andere Komponisten schneiden weit günstiger ab, als es Felix Mendelssohn mit dem 1 Werk tut. Johannes Brahms ist mit einer Auswahl von 7 Werken vertreten, Frederic Chopin mit 5, Wolfgang Amadeus Mozart mit 12, Franz Schubert mit 8, Robert Schumann mit 6 und Mendelssohn-Gegner Richard Wagner mit immerhin 9 seiner 13 Opern.
Wenn auch dieser Werkkanon als subjektiv vorgenommene Auswahl eines einzelnen Rezensenten gelten muss, wirft er doch ein bezeichnendes Licht auf die aktuelle Felix Mendelssohn Rezeption. Prägt die Meinung eines massgeblichen Rezensenten und Publizisten als beachteten Multiplikators des deutschen Musiklebens doch ein einschlägiges Bild eben jenes von Traditionen dominierten unflexiblen Musikbetriebes, der Beethoven, Mozart und Brahms etc. demonstrativ auf den Schild hebt, einen Felix Mendelssohn und sein Werk aber nahezu ausklammert. Müssen die Leser jenes Buches doch zu der Ansicht gelangen, dass ein Felix Mendelssohn im Schatten übermächtig repräsenter Meister nahezu nichts wert ist.
Zum weiterem Beweise einer erneuerungsbedürftiger Mendelssohn-Rezeption;
einer notwendigen Wiederbelebung seines musikalischen Renommees seien einige Zahlen
bezüglich klassisch-romantischer Komponisten wie Mendelssohn, Schumann und
Brahms genannt, welche vor allem die aktuelle Situation im Konzertleben berücksichtigen:
Felix Mendelssohn und Johannes Brahms haben jeweils etwa 120 mit einer
Opuszahl im Werkverzeichnis aufgelistete Kompositionen hinterlassen. Robert Schumann
ging mit etwa 150 sogar darüber hinaus. Zuzüglich jeweils 30 von Brahms,
48 von Schumann und immerhin 180 von Felix Mendelssohn Bartholdy nachgelassene
Werke ohne Opuszahl.
Ein Gesamtverzeichnis der Klassikaufnahmen
der "Deutschen Grammophon-Gesellschaft" von 1956 verweist in der Sache
der erwähnten Komponisten auf folgende Einträge: Johannes Brahms 45;
Robert Schumann 22 Einträge; Felix Mendelssohn 13 Einträge. Was zeigt
der Hauptkatalog des Jahres 2005?
Brahms 127 Einträge; Schumann 92 Einträge;
Mendelssohn 52 Einträge.
Der deutsche Konzertalmanach der Saison
2000/1 sowie jener der Saison 1992/93 vermittelt ein ähnliches Bild: Johannes
Brahms 633 (636) Einträge, sprich Aufführungen; Robert Schumann 409
(462) Einträge; Mendelssohn 358 (360) Einträge.
Nach einer Hausse Mendelssohn´scher Kompositionen im Gedenkjahr 97 fortfolgend hat sich die Aufführungsdichte der Saison 2000/1 also wieder auf die Ebene um 360 der Saison 92/93 reduziert.
Zum Abschluss seien noch folgende Zahlen zur Kenntnis gegeben: Giacomo Meyerbeer, als Meister der Grand Operá, ähnlich infamen Angriffen auf Werk und Person ausgesetzt, war mit Opern wie "Robert le Diable", "Die Hugenotten", "Der Prophet" etc. dennoch fester Repertoirebestandteil der Wilhelminischen Ära; in der Weimarer Republik wurden dieselben rezeptionsgeschichtlich und aufführungspraktisch lebhaft diskutiert. (59 Aufführungen von Meyerbeer-Opern in der Saison 1928/29.) Der Nationalsozialismus schloss sein Werk sofort von der Bühne aus. Heute erleben wir gelegentliche Aufführungen derselben als exotisch; feiern die szenische Realisierung derselben als mutige Grosstat.
Der Gesamtkatalog der "Deutschen Grammophon" von 1956 bietet daher folgende Zahl: 6 Einträge; der "Konzert-Almanach" der Saison 2000/1: 7 Einträge (1992/3: 4); der Hauptkatalog der "Deutschen Grammophon" des Geschäftsjahres 1997/ 98: keinen Eintrag, jener des Jahres 2005: 6 Einträge. Dabei handelt es sich um einzelne Arien in Operkompendien und Sänger-Recitals; es befindet sich keine einzige Gesamtaufnahme seiner Opern darunter.
Copyright:
Rainer
Hauptmann / Die Cavallerotti - das KulturNetzWerk e. V.
1997/2005
Editoriale Anmerkungen
Dieser Essay ist ein 'Work in Progress' und erhebt somit keinen wissenschaftlichen Anspruch. Er wurde hauptsächlich geschrieben, um Musikfreunde sachdienlich anhand eingehender Untersuchungen der Umstände, unter welchen sich die nachhaltige, antisemitisch motivierte Entwertung des musikalischen Ansehens Mendelssohns im Einzelnen vollzog, zu informieren.