Als Felix Mendelssohn Bartholdy im November des Jahres 1847 unerwartet starb, hielt das  öffentliche Leben in den Musikstädten Europas und der Neuen Welt erschüttert inne. Der Tod eines grossen zeitgenössischen Meisters wurde als tragischer, unersetzlicher Verlust empfunden. Nun ist die sprachliche Darlegung eines Langzeitwertes von Musik, der Musik Felix Mendelssohns beispielsweise, ein schwieriges Geschäft. Um Ihnen aber dennoch einen Eindruck davon zu geben, was einstmals unzweifelhaft  bestanden, allzulange verschüttet und erst in jüngster Zeit nachhaltiger rückgewonnen wurde: die Einschätzung Mendelssohns als  bedeutenden  Meisters der europäischen Musikgeschichte, überlasse ich das Wort zuerst dem Geisteswissenschaftler Hans Mayer und danach dem Komponisten Robert Schumann.

 

“Mendelssohn hat in einem ganz ungewöhnlichen Sinne alle damals bekannten Traditionen deutscher Musik verkörpert und in sich zusammengefasst. Er hat sie durch seine eigenen Schöpfungen und Erkenntnisse erweitert und weitergereicht. Man kann die Behauptung wagen, daß durch Felix Mendelssohn, gerade in seinem Leipziger Wirken, möglich wurde, die Musik und die musikalische Entwicklung als einen überschaubaren historischen Prozess zu interpretieren.

 

Im Juni 1848 musste Franz Liszt im Salon des Hauses Schumann ein deutliches Wort über sich ergehen lassen:

 

„Meyerbeer ist ein Wicht gegen Mendelssohn, letzterer ein Künstler, der nicht nur in Leipzig, sondern für die ganze Welt gewirkt hat. Herr, wer sind Sie, daß Sie über einen Meister wie Mendelssohn so reden dürfen!“

 

In einem Brief an den Weimarer Komponisten legt Schumann im darauffolgenden Jahre begütigend nach:

 

„Und wahrlich, sie waren doch nicht so übel, die in Leipzig beisammen waren – Mendelssohn, Hiller, Bennett u. a. – mit den Parisern, Wienern, Berlinern, konnten wir es ebenfalls auch aufnehmen.“

 

Auch die letzten verbrieften Worte Robert Schumanns, aus Endenich an Clara gerichtet, bevor er vollends in geistiger Umnachtung verharrte, galten dem toten Leipziger Meister:  "

 

„Die Zeichnung von Felix Mendelssohn hab ich beigelegt, dass Du sie doch ins Album legtest. Ein unschätzbares Andenken!

Leb wohl.  Du Liebe!  Dein Robert".

 

“Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich´s gehört; es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde.”

 

Mit solchen Worten  eigentümlichen Wohlwollens bereitete der Berliner Komponist Karl Friedrich Zelter den greisen Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe in Weimar auf den Besuch eines 12 jährigen musikalischen Wunderkindes aus dem Hause Mendelssohn vor.

 

Im Jahre 1812 erlies König Friedrich Wilhelm III. von Preussen auf Anraten des Staatsministers Karl August von Hardenberg ein Emanzipationsgesetz. Es gewährte Juden die Preussische Staatsbürgerschaft.

 

 “Gelingt es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, dann bleibt nur eins: sie gewaltsam auszurotten!”   Diesen Ratschlag indessen erteilte der Berliner Historiker und Historiograph des Preussischen Staates Friedrich Rühs im Jahre 1814.

 

 

 

 

Zahlreiche jüdische Familien in Deutschland traten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Christentum über.  Sie folgten dabei der Auslegung von Lehren der Aufklärer Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing. Andere trachteten danach, sich vor einem aufkeimenden Nationalfanatismus, der von Johann Gottlieb Fichte propagierten „Germanomanie“, zu schützen. Diese manifestierte sich 1819 beispielsweise in den Gewaltakten gegen jüdische Ansiedlungen innerhalb der deutschlandweit ausbrechenden Hepp-Hepp-Unruhen des Jahres 1819.

 

“Man kann einer gedrückten, verfolgten Religion getreu bleiben; man kann sie seinen Kindern als eine Anwartschaft auf ein sich das Leben hindurch verlängerndes Martyrium  aufzwingen - solange man sie für die Alleinseligmachende hält. Aber sowie man dies nicht mehr glaubt, ist es eine Barbarei. - Ich würde rathen, daß Du den Namen Mendelssohn Bartholdy zur Unterscheidung von den übrigen Mendelssohns annimmst.”

 

So riet Jacob Salomon seinem Bruder Abraham eindringlich bereits im Jahre 1816 und somit entschlossen sich Lea und Abraham Mendelssohn ihre Kinder Fanny, Felix und Rebecca protestantisch taufen zu lassen.

 

„Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heissen. Du musst Dich also Felix Bartholdy nennen. Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude und das taugt Dir nicht, schon allein deshalb, weil es nicht wahr ist.“

 

Der bereits zu Berühmtheit gelangte Felix folgte dem Rat seines Vaters dennoch nicht.

 

Die gepflegte Redeweise Carl Friedrich Zelters, dass Hepp-Hepp-Judenjung! - Geschrei, welches Felix und Fanny allenthalben entgegenschlug, hatten hinlänglich bewiesen: die bürgerlich-christliche Gesellschaft des 19.  Jahrhunderts beabsichtigte nicht, Juden, ob getauft oder nicht, dauerhaft und gleichrangig in Ihre Reihen aufzunehmen.

 

Bereits zu Lebzeiten wurde der Komponist und spätere Gewandhauskapellmeister nach  Maßstäben beurteilt, welche vorrangig auf die jüdische Abstammung Mendelssohns abzielten. Als im Jahre 1833 die Leitung der „Berliner Singakademie“ zur Wahl stand, stimmten die Mitglieder mehrheitlich gegen den Kandidaten Felix Mendelssohn. Obgleich dieser einige Jahre zuvor der Akademie mit der Wiederaufführung der „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach ein Musikereignis höchsten Ranges bereitete, erhob sich innerhalb derselben Rumor wie: 

 

"...die Singakademie sei, durch ihre fast ausschließliche Beschäftigung mit geistlicher Musik, ein christliches Institut, es sei darum unerhört, daß man ihr einen Judenjungen zum Director aufreden wolle"

 

Im Jahre 1846 unterstellte das „Leipziger Tagblatt“ Mendelssohn als Uraufführungsdirigenten von Robert Schumanns 2. Symphony in einer anonym verfaßten Rezension unklar vorgeworfene ”mosaische” Interessen. Er habe im Verlaufe des Premierenkonzertes - dem begeisterten Drängen des Publikums nachgebend - seine hinreißende Vorstellung der zu Beginn gegebenen Rossini-Ouvertüre "Wilhelm-Tell" absichtlich  wiederholt, bestrebt, die Uraufführung  des Werkes eines deutschen Komponisten zu schmähen.

   

Der Anwurf verleugnet gezielt 2 maßgebliche Faktoren: die gängige zeitgenössische Konzertpraxis: d. h. Wiederholung von Darbietungen auf Zuruf und Applaus hin; des weiteren die  freundschaftliche, von gegenseitiger Achtung geprägte Beziehung zwischen Schumann und Mendelssohn.

 

Er  bezeugt vielmehr ersten in der Presse vorgetragenen Einfluß Jungdeutscher Vaterlandsvereine im Vorfeld der Revolution von 1848. Den Einfluß studentischer Männerbünde, welche das  Nationalideal zunehmend in verbissener Abgrenzung allem vermeintlich undeutschem Einfluß gegenüber ausprägten.

Aber nicht die Gegenwart europäischer Nachbarstaaten, des romanischen oder slawischen Kulturraums etwa stand im Zentrum  „germanomanischen“ Eifers: er konzentrierte sich auf das vermeidlich Fremde im eigenen Lande: die Juden.

   

Im Januar 1850 erging sich die musikkritische Würdigung Mendelssohns   erstmals in vermeintlich judentümlichen Einzelheiten Mendelssohn´scher Musik. Der Berliner Rezensent Dr. Eduard Krüger bemängelte

 

„sangreiche Weiberstimmen, welche in Mendelssohns Vokalwerk rabbinisch belehrend unisonieren, eine in allen M´schen Werken wie eine Phrase hindurchziehende stumpfe Rhythmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Rezitation erinnert"

 

Nahezu zeitgleich eröffnete der Musiker und Pressemann Theodor Uhlig in der angesehenen „Neuen Zeitung für Musik“ aus Leipzig einen Feldzug gegen die Zeitgenossen Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn. Uhlig bescheinigte beider Werk:

  

„Gesangsweisen, welche einem guten Christen im besten Falle gesucht, übertrieben, unnatürlich raffiniert erscheinen, gleich der Musik vieler jüdischer Komponisten, welche alle nichtjüdischen Musiker, mit Bezugnahme auf die allgemein bekannte jüdische Sprechweise als ein Gemauschele, als musikalische Judenschule, Judenmusik empfinden.

 

Der Feldzug gipfelte im September des Jahres 1850 schliesslich in der Veröffentlichung des halbwissenschaftlich aufbereiteten Aufsatzes "Das Judentum in der Musik" in der "Neuen Zeitung für Musik", 

 

Der Name Karl Freigedank unterzeichnete diesen, der Name eines der damaligen Öffentlichkeit bislang völlig unbekannten Autors freilich. Im Jahre 1869 sollte er sich als Decknamen eines aufstrebenden Musikers erweisen, welcher seinerzeit möglichem Gesichtsverlust vorzubeugen beabsichtigte.

 

Die Schmähschrift verbreitet u. a. folgende Thesen:

 

1. Alle Kunst hat ihre besten und stärksten Wurzeln im Volkstum; die künstlerische Leistung ist abhängig von der völkischen Verbundenheit des Künstlers.

  

2. Bemüht, sich in der harten, zischenden semitischen Sprechweise des Ausdrucks deutscher Sprache zu bedienen, brächte der Jude lediglich Abstoßendes und Lächerliches hervor. Vollends unerträglich sei der Versuch im Gesangsvortrag deutscher Sprache durch einen Juden. Zur Äußerung im Ausdruck der Landessprache nicht befähigt, habe sich der Jude somit der Frage zu stellen, ob er in diesem Lande überhaupt kunstberechtigt sei.

 

3. Der Jude suche sich vermittels Nachahmung in Kleidung, Bildung und Sprache der abendländischen Kultur anzugleichen.

    Der wahren Identität dennoch stets eingedenk, sei er somit von der nationalen Beseeligung des Gastlandes ausgeschlossen. Daher seien ihm die Menschen des Gastlandes, auch im Versuch künstlerischen Ausdrucks gefühlsmäßig  nicht erreichbar. Der Rückschluß auf formal vollendete, aber von seelischer Kälte erfüllte Kopien der Muster nationaler Vorbilder läge somit auf der Hand.

 

4. Eine folgenschwere Einschätzung von Person und Musik Felix Mendelssohns. Hier im Wortlaut:

 

“An welcher Erscheinung wird uns dies alles klarer...als an den Werken eines Musikers jüdischer Abkunft, der von der Natur mit einer spezifischen musikalischen Begabung ausgestattet war, wie nur wenige Musiker...vor ihm?

Alles, was sich bei der Erforschung unserer Antipathie gegen jüdisches Wesen der Betrachtung darbot,...steigert sich zu einem völlig tragischen Konflikt in der Natur, dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Dieser  hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste...  Ehrgefühl besitzen kann, ohne es...je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir...der Kunst...fähig wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer Kunst sozusagen nur den Mund auftat.

 

Kritikern von Fach...möge es überlassen sein, diese zweifellos gewisse Erscheinung aus den Einzelheiten der Mendelssohnschen Kunstproduktion nachweislich zu bestätigen: daß beim Anhören eines Tonstückes dieses Komponisten wir uns nur dann gefesselt fühlen konnten, wenn nichts anderes als unsre unterhaltungssüchtige Phantasie, durch Vorführung, Reihung, und Verschlingung der feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren, wie im wechselnden Farben- und Formenreize des Kaleidoskopes, vorgeführt wurden , - nie aber da, wo diese Figuren die Gestalt tiefer und markiger menschlicher Herzensempfindungen anzunehmen bestimmt waren".

 

Damit war das Thesenpapier eines sich zu  kulturwissenschaftlicher Erkenntnis erhebenden musikalischen Antisemitismus gestellt.

 

Eduard Bernsdorf hingegen  entlarvt im Oktober gleichen Jahres erhebliche Schwächen in Freigedanks zergliedernder  Beweislegung:

 

Der grosse Gelehrte Freigedank spricht Mendelssohn in der Tat künstlerische Fähigkeit nicht ab; aber die Wirkung, die unsere Kunstheroen auf ihn hervorgebracht haben, hat er beim Anhören seiner Sachen nicht finden können.

    Wie aber dieser Mangel an Wärme mit seinem jüdischen Ursprunge im Zusammenhang stehen soll, das hat uns der Verfasser durchaus nicht bewiesen.  Er spricht nicht über den jüdischen Komponisten, ihm wirft er die Synagoge nicht vor, nur den Meister Bach...“

 

Schwerwiegender noch ist der Verweis  des Musikers und Musikgelehrten Johann Christian Lobe im Januar 1851 auf einen wesentlichen protorassistischen Aspekt der Debatte: 

 

„Daß die christliche Taufe dem Juden nichts hilft, zeigt Freigedank ja dadurch, daß er Mendelssohn stets als einen Juden behandelt, der doch als Christ geboren, getauft, erzogen und begraben worden ist.“

 

Was beabsichtigten die Urheber einer absichtlich vom Zaun gebrochenen öffentlichen Semitismus-Debatte im Musikbereich? Es war ihnen um eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse im zeitgenössischen Musikbetrieb zu tun.

 

Vorstreiter musikalischer Moderne suchten  gleichsam auf gewaltsamen Wege, mit pressetechnischen Mitteln, Einfluß innerhalb des musikalischen Tagesgeschehens zu erlangen. Was die zukunftsmusikalische Wortmeldung allein nicht bewirkte, sollte schleichende Erschütterung des Grundbaus bewirken, auf welchem das Ansehen der Erfolgsmusiker Mendelssohn und Giacomo Meyerbeer beruhte.

 

Wie erfolgreich sich das Unterfangen hinsichtlich der Mendelssohn-Wahrnehmung bereits wenige Jahre nach dessen Tode auswirkte, beweist ein Kommentar des europäischen Auslandes, genauer, des englischen Publizisten Henry Fothergill Chorley im Jahre 1853:

 

”Traurig, aber wahr ists dennoch, daß seine Landsleute ihrer Reputation für Ehrlichkeit, Treue und Verehrung von Genie und Tugend keine Ehre gemacht haben; denn in der Zwischenzeit haben sie ihre Haltung (...) geändert, einem Mann gegenüber, den sie zu seinen Lebzeiten geehrt und umschmeichelt hatten....”

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Musikwissenschaftler und Intendant Wulf Konold verwies im Jahre 1984 darauf, das:

 

“...zum einen das Mendelssohn-Bild geprägt ist durch eine Bewertung, deren Basis nicht kompositionstechnische Einwände gegen seine Musik oder sich wandelnder Geschmack ausmachen, sondern in der der musikalische Parteienstreit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger verhüllt vorgetragenen antisemitischen Vorurteilen vermengt ist.

 

In besagtem Jahre 1850 übersteigerte sich eine musikalische Fehde zwischen „Neudeutschen Musikern“ und Traditionalisten. Die „Neudeutschen“ gruppierten sich in Weimar um die Komponisten Franz Liszt und Richard Wagner und forderten dogmatisch ein  Fortschrittsprinzip musikalischen Ausdrucks ein.

 

Im Zentrum der Traditionalisten hingegen standen die Symphoniker Robert  Schumann und Johannes Brahms; sie verkündeten die Bewahrung, aber stetige Reformation überkommener musikalischer Formen.

 

Die einstmals von Robert Schumann geleitete "Neue Zeitung für Musik" schlug ab 1845 unter der Chefredaktion des Pressemannes Franz Brendel dabei zum wesentlichen, Sprachrohr der „Neudeutschen“ um.

 

Im Jahre 1859 vereinte Franz Brendel die zukunftsmusikalisch-deutschtümelnden Bestrebungen in der Musik im Verlaufe einer Tonkünstlerversammlung in Leipzig zur Errichtung einer "Neudeutschen Schule".

 

1869 gab sich der Komponist Richard Wagner als Verfasser einer zweiten, überarbeiteten Fassung der Judenschmähschrift zu erkennen. Er stand mittlerweile unter dem besonderen Schutz des Bayernkönigs Ludwig II. und wurde nunmehr als Opernerneuerer  und musikalische Leitfigur der Neudeutschen  gewürdigt. Da mit der wachsenden Popularität seiner Musikdramen auch der Einfluß des Theoretikers Richard Wagner auf das geistige Klima des späten 19. Jahrhunderts zunahm, griffern auch dessen zahlreich veröffentlichte Judenfeindlichkeiten um sich.

 

"Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben, aber Liebe Glück und Kunst haben es aus Licht und Wärme Dir gewoben! Zieh hin und sinke, wenn es sein muß, wie alles Schöne im Frühlinge dahin!"

 

Begeistert belegt Adele Schopenhauer die  außerordentlichen Wirkung, welche der 12-jährige Knabe Felix auf die Schwester des Philosophen und allgemein ausübte. Darüber hinaus nimmt sie hellsichtig den Lebensweg des Komponisten; äußerlich wahrnehmbar scheinbar ein einziger Höhenflug, vorweg. Das Mendelssohn in den letzten Lebensmonaten ein gebrochener Mann war, der sich vorwarf, versagt, mit seiner Musik eine Verbesserung der Welt nicht erreicht zu haben; welcher den Prediger Salomon aus dem alten Testament rezipierte - es ist alles eitel, alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind  konnte Adele Schopenhauer in ihrer Jubelstimmung nicht voraussehen.

 

Bedeutsame Musik: von einem Menschen vorgelegt, der von materiellen Sorgen stets befreit, unausgesetzt geliebt, künstlerisch gefördert und anerkannt wurde? In der übersteigert-heldentümlichen Vorstellung von  Kunst als entsagungsvoller Verpflichtung rang das wahre Genie – der „Heros“ des Judentraktates - ungeliebt und unerkannt um letzte musikalische Wahrheit. 

 

Leid und Not als zuverlässigster Indikator künstlerischer Größe, dem Maßstab einer beinahe mathematisch vorgenommenen Relativierung unterworfen: Je mehr Künstlerqual, desto bedeutsamer das Werk.

 

Allein der Vorname des Komponisten indizierte demnach bereits den vermeindlich wahren geringfügigen  Gehalt der von seinem Träger vorgelegten Musik: ”Felix” - ”der Glückliche”!

 

 

 

Im Jahre 1886 gab Friedrich Nietzsche in der Denkschrift: "Jenseits von Gut und Böse" ein folgenschwer-geflügeltes Mendelssohn-Wort vor:

 

” Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, um auch anderswo Recht zu behalten als im Theater und vor der Menge; Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell verehrt und schnell vergessen wurde: als der schönste Zwischenfall der deutschen Musik.”

 

Im 1878 Jahre ergingen Spendenaufrufe hinsichtlich Finanzierung zweier repräsentativer Vorhaben an die Bürgerschaft Leipzigs. Den klassizistischen Neubau des  Gewandhauses und die Errichtung eines Kolossal-Denkmals zu Ehren Mendelssohns. Während sich der Fond zugunsten des Konzerthauses rasch füllte, sammelte sich  zugunsten des Denkmals nur spärlich Kapital.

 

Im Jahre 1889 gemahnte ein „Deutscher Reformverein“ so vehement die Unmöglichkeit,  „einen Juden in einer protestantischen Kirche ehren zu wollen“, daß die Verewigung Mendelssohns in Form eines Bleiglasfensters der neugestalteten Thomaskirche in Leipzig seinerzeit unterblieb.

 

Der impressionistische Lyriker Detlev von Liliencron zeichnet in den 90ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Gedicht "Reinigung" signifikant die Karikatur eines Lieferanten sentimentaler Piecen kleinbürgerlicher Zerstreuung jüdischen Namens:

 

„Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier,

der lange Leutnant mit dem Ordensbändel;

das alte Fräulein brütet Rätseleier,

besorgt den Tee und duftet nach Lavendel.

 

Weh mir, wie langsam schwingt der Abendpendel!

Zu Ende. Gott sei dank: ich atme freier,

und bade mich daheim in Bach und Händel.

 

 

Ganz in der Tradition der musikpublizistischen und musikwissenschaftlichen Kapazität Hugo Riemann stehend, kommt der Musikwissenschaftler Otto Keller im Jahre 1903 denn auch zu folgender Gesamtwertung:

 

 ”In den beiden Oratorien fehlt das Dramatische, das Leidenschaftliche, aber Mendelssohn hatte nicht die Gabe, sich stark und unmittelbar auszusprechen. Und trotzdem liegt in dieser Musik  etwas Sonniges, das uns so angenehm berührt, wie ein schöner Sommertag, weil sie in ihrer Einfachheit befriedigt und gar keine Leidenschaften auslöst. Seine Kammermusik ist gänzlich verschwunden, seine Klavierwerke gehen auch nicht tief, seine Lieder ohne Worte haben eine Ära seichter Salonmusik heraufbeschworen, die besser ungeschrieben geblieben wäre. Sein ganzer Lebenslauf war sonnig vom Urbeginne, er hatte nie Sorgen kennengelernt wie Mozart, man darf sich daher auch nicht wundern, daß die Sonnigkeit seines Lebens auch in den Werken zum Ausdruck kam”.                     

 

Die um den 3. Februar des Jahres 1909 herum pflichtgemäß abgeleisteten Gedächtnisfeierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erregten demzufolge eher Befremden in der europäischen Öffentlichkeit.

 

Ernest Walker kommentiert im „Manchester Guardian“ vom 3. Februar 1909:  ”Mendelssohn, einer der ehrlichsten Menschen, hätte es tausendmal vorgezogen, daß sein Ruhm ungerechterweise untergegangen wäre, als daß er durch heuchlerische und unwahre Mittel gerettet würde.”

 

 

 

In der „Regenerations“ - und Aufklärungsschrift an die Nation "Erkenne Dich selbst", im Jahre 1881 in den „Bayreuther Blättern“ veröffentlicht, gemahnte Richard Wagner erneut eindringlich des Juden

als  “Plastischen Dämons des Verfalles der Menschheit in triumphaler Sicherheit.”

 

Er fordert abschliessend: Nur aber, wann der Dämon, ...kein Wo und Wann zu seiner Bergung unter uns mehr aufzufinden vermag, wird es auch - keinen Juden mehr geben.

    Uns Deutschen könnte, gerade aus der Veranlassung der gegenwärtigen, nur eben unter uns wiederum denkbar gewesenen Bewegung, diese große Lösung eher als jeder anderen Nation ermöglicht sein, sobald wir ohne Scheu, bis auf das innerste Mark unseres Bestehens, das »Erkenne-dich-selbst« durchführten. Daß wir, dringen wir hiermit nur tief genug vor, nach der Überwindung aller falschen Scham, die letzte Erkenntniß nicht zu scheuen haben würden, sollte mit dem Voranstehenden dem Ahnungsvollen angedeutet sein.

 

Ob aus diesen bedachtsam verschlüsselt vorgelegten Äußerungen Phantasien von gewaltsamer Deportation der Juden oder von Genozidhandlungen sprechen, ist Gegenstand germanistischer und musikgeschichtlicher Erörterung.

  

Adepten des Bayreuther Meisters hingegen wussten den Gedankengang unbeirrt zu  deuten, der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts schliesslich schwang sich zur "Letzten Erkenntnis" empor und war zur Initiierung einer "grossen Lösung“ vermeintlicher Judenfrage auf politischem und kulturellem Gebiet bereit.

 

”Niemand hat ihn wärmer bewundert als Schumann, Brahms, Bülow und Reger – das sollte jenen zu Denken geben, die einen M. heute wegen seiner Rasse glauben herabmindern zu müssen.“

 

Zu Anfang herrschte noch Unsicherheit vor unter den Repräsentanten deutschen Musikbetriebs, wie mit dem Werke  Malers und Mendelssohn zukünftig umzugehen sei.

   Vorsichtig vorgebrachte Ehrenrettung, wie sie H. J. Moser in seiner kleinen Deutschen Musikgeschichte praktizierte, wurde mit unmißverständlicher Klarstellung ideologischer Anforderungen des Regimes beantwortet: 

 

„Wer eine kleine Musikgeschichte schreibt, hat die Juden aus seinen Darlegungen zwangsläufig auszuschalten.“ beschied eine Rezension im Westdeutschen Beobachter dem als „kulturpolitisch unzuverlässig“ apostrophierten Verfasser.

 

Der Meininger Kapellmeister Gustav Adolf Schlemm wurde im Jahre 1934 seines Postens enthoben, weil er die „Sommernachtstraum-Ouvertüre“ arglos ins Programm eines Jugendkonzertes aufgenommen hatte. Sein Handeln wurde somit vom Leiter des Gaukulturamtes der NSDAP, Hans Severus Ziegler als „Brunnenvergiftung deutscher Jugend“ gegeißelt.

 

”Eine grosse Zeit duldet keine Kompromisse. Wenn konfessionelle Kirchenchöre das nicht begreifen wollen und  ihren Mendelssohn einfach ohne Nennung des Namens in ein Konzert einschmuggeln, erhebt sich die Frage nach der politischen Zuverlässigkeit solcher Dirigenten, denen dann das letzte Hintertürchen für ihre bewußte Sabotage der musikalischen Reinigungsbestrebungen energisch zugeschlagen wird!“ gab der „Hauptschriftleiter Musik“ F. W. Herzog im Jahre 1937 zu verstehen.

 

In den Jahren 1934/35 wurde ein im 19. Jahrhundert erstveröffentlichtes "Handbuch der Judenfrage” neu herausgegeben. Im dem Beitrag „Judentum in der Musik“ resümiert der Herausgeber Hans Koeltzsch: 

 

Judentum in der Musik, das ist eine kurze, erschreckende und sehr vielfältige Geschichte von Aufnahme fremden Gedankengutes, bar jeder urtümlichen Schöpferkraft; von größeren jüdischen Meistern (Mendelssohn, Mahler) in schmerzlicher Tragik empfunden. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen.

Darum kann es im weiteren Felde des neuen deutschen Musiklebens keine “Politik der mittleren Linie” mehr geben, keine Duldung, Verständigung, keine Humanität; wir alle haben vielmehr die Pflicht, das Judentum in der Musik restlos auszuschalten”.

  

Der Autor dieser Zeilen reüssierte nach 1945 als “namhafter Hamburger Musikwissenschaftler”, als Funkredakteur und veröffentlichte u.a. in den sechziger Jahren einen Hausopernführer, welcher unentwegt vernichtende Urteile bezüglich Sommernachtstraum und Meyerbeers gesamtes Opernschaffen  verkündet.

 

Das im Jahre 1940 vom einem Team promovierter Musikwissenschaftler um den Leiter der „Hauptstelle Musik“ des Amtes Rosenbergs; Heinz Gerigk vorgelegte „Lexikon der Juden in der Musik“ spricht Mendelssohn jedweden Verdienst um die Neubewertung der Bach´schen „Matthäus-Passion“ ab. Es wird ihm lediglich die Funktion eines ausführenden Hilfsdirigenten Karl Friedrich Zelters eingeräumt. Es heisst dort also: 

 

"Daß der Verdienst dieser wegweisenden Bachaufführung M. gebühre, der wohl als einziger die wahre Größe des Barockmeisters begriffen habe, ist eine Verfälschung geschichtlicher Tatsachen...Aus den Darstellungen Alfred Morgenroths und Georg Schünemanns geht einwandfrei hervor, daß das Verdienst um das Zustandekommen dieser Aufführung fast ausschließlich Karl Friedrich Zelter gebührt , der...die...Singakadamie...zu einer in ihrer Art damals einzig dastehenden Stätte der Bachpflege (gemacht hatte).

    So...erhielt... Mendelssohn durch die Teilnahme an den Proben die entscheidenden Anregungen. So konnte er ohne viel eigenes zutun an die Aufführung der Matthäuspassion gehen, zumal Zelter die hierzu erforderlichen Proben meist selbst leitete und ausserdem seinem Schüler dirigiertechnische Anweisungen gab. Hierüber schrieb (Zelter) an Goethe 1829: "Felix hat die Musik unter mir eingeübt und wird sie dirigieren, wozu ich ihm meinen Stuhl überlasse".

 

Mitarbeiter der „Hauptstelle Musik“ war der junge Musikwissenschaftler Wolfgang Boetticher. Dieser betätigte sich 1940 und 1942 als Herausgeber von Schumanns Tagebuchaufzeichnungen und Briefen. Boetticher  manipulierte Schumanns Erinnerungen an Felix Mendelssohn durch Hinzufügung oder Unterschlagung einzelner Worte oder Sätze und suggerierte somit antisemitische Vorbehalte des Autors.

 

Zur Veranschaulichung dessen folgende Gegenüberstellung. In Robert Schumanns Autograph heisst es beispielsweise:

 

"Mendelssohns Gedanken über das Conservatorium, daß er namentlich den Musikern auch einen Verdienst zuweisen wollte. Gründung des Conservatoriums und sein Benehmen dabei, daß er nie als Direktor angesehen werden wolle."

 

Davon liest sich bei Boetticher lediglich: "Gründung des Conservatoriums und sein Benehmen dabei, daß er als Direktor angesehen werden wolle."

 

Boetticher diente dem NS-Regime auch als Mitarbeiter des "Sonderstabs Musik" des Amtes Rosenberg zu systematischer Erfassung und Konfiszierung kultureller Hinterlassenschaften geflohener oder ermordeter Juden in besetzten Gebieten und Mitglied der Waffen-SS. Er machte nach 1945 als Musikwissenschaftler und Publizist hochrangig Karriere. Er wirkte als Dozent, Professor und Dekan der Universitäten Göttingen  Cambridge, Oxford und der Karls-Universität Prag.

 

Als das „London Philharmonic Orchestra“ im November 1936 in Leipzig gastierte und am folgenden  Morgen eine Abordnung des Orchesters vor dem Mendelssohndenkmal am alten Gewandhaus einen Kranz niederlegen wollte, war es verschwunden.

Genauer, auf  Befehl des 2. Bürgermeisters der Stadt Leipzig (und NS-Funktionärs) Rudolf Haake war es nächtens abgetragen und zerschlagen worden.

  

Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Dr. Carl Friedrich Goerdeler reichte auf  diese Repression hin seinen Rücktritt ein. Er fiel im Jahre 1944 als führender Widerständler den Hinrichtungen, die dem 20. Juli folgten, zum Opfer.

 

Der Dirigent Fritz Busch, der sich als Generalmusikdirektor des Dresdner Staatstheaters der geforderten Entlassung jüdischer Künstler verweigerte und 1935 emigrierte, kommentiert diesen Vorgang in seinen Lebenserinnerungen mit wenigen eindringlichen Worten:

 

”In Vertretung Arthur Nikischs habe ich wiederholt im Gewandhaus dirigiert, an jener klassischen Stätte edelster Musikpflege, auf die Deutschland stolz sein durfte, bis man Felix Mendelssohns Denkmal und den Geist deutscher Kultur von dort entfernte”.

 

Im Alltag brachte der befohlene Verzicht auf das Kulturerbe Mendelssohn ungeahnte Probleme mit sich. Ländliche und stättische Liedertafeln wurden um Kernrepertoire gebracht, die kongenial-elegisch nachempfundenen Vertonungen von Eichendorff - Zeilen  wie:

 

”O Täler weit, o Höhen,  o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächtiger Aufenthalt...” als Elaborat eines “vorderasiatisch-orientalischen Juden" eingezogen.

 

Das Theater sah sich beinahe um Shakespeares Komödie "Ein Sommernachtstraum" gebracht, da diese im Bewußtsein des Publikums der Elfenmusik Mendelssohns kongenial verbunden war und blieb.     

   Das Propagandaministerium suchte Komponisten ersten und zweiten Ranges zur arischen Neukomposition des Sujets anzuregen. Koryphäen wie Pfitzner und Egk wiesen das Ansinnen zurück.

 

Neben Rudolf Wagner-Regenyi erbot sich "Carmina Burana" Komponist Carl Orff , in der Hoffnung auf dauerhafte Patronage seitens kommunaler NS-Funktionäre der Stadt Frankfurt am Main, wiederum zu einer archaisch eingestimmten Vertonung des Sujets.

  

Die Komposition, im Jahre 1939 von der Musikkritik weisungsgemäß propagiert, von den Theatern nur zögerlich angenommen, etablierte sich auch nach 1945 nicht. Fred  Prieberg konstatiert daher auch  in "Musik im NS-Staat": ”Die "Sommernachtstraum"-Musik indessen hat die Führer des Nationalsozialismus und ihre Politik der schöpferischen Liquidierung unbeschadet überstanden”.

 

Prieberg irrte in diesem Punkt nachweislich. In der jungen Bundesrepublik sollte bald ein Klima der Restauration vorherrschen. Es bot den Koryphäen der Musikwissenschaft, getreulichen Dienern des ehemaligen Regimes, nunmehr  Lehrstühle, Ämter und publizistische Foren. Somit war auch  die Kontinuität eines anämisch gezeichneten Mendelssohn-Bildes ungebrochen gewährleistet.

 

“Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette, die bald behende, bald etwas sentimentale Kammermusik, die freundlichen Orgelsonaten verblaßten vorzeitig infolge “ursacheloser Schwermut” und einer gewissen Glätte, die Überdruß erregte.” ist in Hans Mosers "Lehrbuch der Musikgeschichte" aus dem Jahre 1949 zu lesen.

   

“Doch für eine solche Aufgabe war Mendelssohn zu schwach. Körperlich zart, niemals vor wesentliche Entscheidungen gestellt, woher sollten ihm Tatkräfte zugewachsen sein, die nur in geistigem Ringen oder harten Auseinandersetzungen mit dem Leben gedeihen. Mendelssohns Schaffen hat zu keiner Zeit Frucht getragen, es war eine Fülle von Blüten, die bald welkten und nicht viel mehr zurückließen, als einen wehen Duft.“ stellt Otto Schumann im Jahre 1951 klar. Ist es notwendig, darauf hinzuweisen, das der gleiche Autor im Jahre 1940 referierte:

 

"Hätte Mendelssohn eine Musik geschrieben, welche seiner rasse-seelischen Beschaffenheit entsprach, dann könnte sich vielleicht das Judentum eines grossen Komponisten rühmen". 

 

 

Gerhard von Westerman, als Autor, Rundfunk- und Orchesterintendant in den NS-Musikbetrieb seinerzeit fest eingebunden, legte im Jahre 1956 einen von Musikfreunden maßgeblich rezipierten Konzertführer vor. In der Gesamtbewertung Mendelssohns reflektiert er alle musikwissenschaftlich tradierten Stereotypen der vergangenen Jahrzehnte: Hier nurmehr als Stenogramm:

 

Leben ein einziger Siegeslauf / glänzende musikalische Begabung / Erfolge über Erfolge / Liebenswürdige seiner Persönlichkeit /  grossen Reichtum seines Vaters / alle diese Glücksumstände wirkten zusammen / sinnloses Verbot in der nationalsozialistischen Zeit / Grenzen in der Bedeutung dieser Musik / Seine Melodien vermögen ebenso zu rühren wie zu bezaubern, seine Musik vermittelt Freude und Entzücken, zu ergreifen oder gar zu erschüttern vermag sie allerdings in den seltensten Fällen. In der kleinen Form, etwa in den reizenden Liedern ohne Worte konnte Mendelssohn sein Bestes geben."

 

"Das Problem Mendelssohn" war demzufolge ein im Jahre 1972 in Berlin abgehaltenes  Symposium betitelt, das sich, dem dramatischen Titel zuwiderlaufend, mit Fragen musikwissenschaftlicher Analyse Mendelssohn´scher Musik befasste. Somit wurde das wahre Problem Mendelssohn bereits von Heinrich Eduard Jacob im Jahre 1958 zum Ausdruck gebracht:

 

”Musik, wie sich erwiesen hat, ist durchaus nichts unsterbliches. Aber wie jedes Zeitalter, dessen innerster Ausdruck sie ist, hat sie Anspruch auf einen natürlichen Tod. Die Musik Felix Mendelssohns ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde ermordet.”

 

Es ehrt die Musikwissenschaft der einstigen Deutschen Demokratischen Republik und der Vereinigten Staaten von Amerika, sich ab Ende der 50ziger Jahre entschieden um Relativierung und fundierte Neudefinierung eines vergangenheits- und gegenwartsrelevanten Mendelssohn-Bildes bemüht zu haben.

 

Der letzte Demagoge, der hier zu Wort kommen soll, ist der Komponist und Musikpublizist Walter Abendroth. In der NS-Zeit als Publizist erklärter Gegner sogenannter „jüdischer Musikzersetzung” und neuer Musik, verkündete nach 1945 u. a. als Feuilletonchef der renommierten Wochenzeitung „Die Zeit“ und  Gründungsmitglied der „Freien Akademi“ in Hamburg Lehrmeinungen im alten Kontext. In einer Ende der sechziger Jahre  erschienenen "Kurzen Geschichte der Musik" zeichnet er so mit ausgesucht freundlichen, diffamierenden Worten das Portrait eines charmanten, oberflächlichen jüdischen Dandys: 

 

”Ein anderes Berliner Bankhaus bescherte der deutschen Musikromantik ihren urbansten Vertreter: den liebenswürdigen, eleganten, formgewandten und lebenstüchtigen, heiter-gebildeten und jünglinghaft-verschwärmten Felix Mendelssohn-Bartholdy.”

 

Wenige Zeilen konkretisiert er:

    ”Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Violinkonzert die Geiger immer anziehen wird, von den Klavierkompositionen die "Lieder ohne Worte" beste Hausmusik sind, auch in gewissen dünnblütigen Nummern, die dann wieder durch ihre spielerische Leichtigkeit entschädigen. 

 

Die beiden Oratorien "Paulus" und "Elias" haben uns nicht mehr allzuviel zu sagen, desgleichen die meiste Kammermusik, die Psalmen, Motetten, Lieder und jene Art von Männer- und gemischten Chören, an denen sich biergemütliche Gesangsvereine jahrzehntelang nicht ersättigen konnten.”

  

Die "Kurze Geschichte der Musik" Walter Abendroths war bis in unsere Tage hinein in der 4. Taschenbuchauflage von 1994 über jede Buchhandlung problemlos zu beziehen; der Fortbestand des Mendelssohn-Ressentiments somit partiell gewährleistet. Der aktuelle Internetbuchhandel hält das Buch indes in hohem Maße antiquarisch verfügbar.  

 

 

 

 

 

Noch in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ließen seriöse Kultur- und Medienbetriebe Geringschätzung und Desinteresse des musikalischen Tagesgeschehens an Musik, Person und Rezeptionsgeschichte des Komponisten erkennen. So spricht ein im Jahre 1984 anläßlich des 175. Geburtstages Mendelssohns am  4. Februar in der liberalen "Frankfurter Rundschau" veröffentlichten Gedenkbeitrag  vom

”Musterschülerhaften der Formprägung”, der ”Sonatenform als Maske”, den ”Gewächshausblumen der Klavierstücke”, der ”nazarenisch geleckten Verzückung der Oratorien”.

 

Er nimmt – frei nach Wulf Konold  - mit seiner Kritik an Mendelssohns schnellen Sätzen, seinem Hinweis auf ”nervöse Ratlosigkeit” und ”verdrängte Lebensunruhe” unbewußt unmittelbaren Bezug auf den protorassistisch begründeten Aspekt der ”semitischen“, der „prickelnden Unruhe” in dem Juden-Aufsatz Richard Wagners aus dem Jahre 1850.

 

Eine im Jahre 1989 vom „Westdeutschen Fernsehen“ produzierte Dokumentation der Gewandhausvergangenheit erwähnt mehrfach den Komponisten „Moses Mendelssohn Bartholdy“ bzw. „Moses Mendelssohn“, welcher seinerzeit dort dirigierte.

 

Im Jahre 1997 verweist die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" im Gedenkartikel anlässlich des 150. Todestages Mendelssohns am 4. November in der Repetition der Lehren Gerhard von Westermans dezidiert auf „Grenzen, welche die Musik Mendelssohns  unbestritten habe“.

 

Die Dramaturgie der „Münchner Philharmoniker“ konstatiert in den Ankündigungen der Saison 2001/02 leichtfertig, dass „die alttestamentarischen und damit jüdischen Traditionen der Bibellektüre Felix Mendelssohn Bartholdy sozusagen „im Blut“ lagen.“

 

Konold rät dem Musikleben angesichts solch getreulicher Kontinuität salomonisch anmutend:: ”Man versteht Mendelssohns ausgeprägte Abneigung gegen jede Art von Musikpublizistik und man kann - ein Lessing-Wort paraphrasierend - nur wünschen, Mendelssohns Musik werde weniger beschrieben, aber mehr aufgeführt.” 

 

Wie dringlich Konolds Rat aus dem Jahre 1984 auch heute zu beherzigen ist, mögen einige Zahlen belegen, welche Ihnen zum Abschluss mit auf den Weg gegeben sein sollen. Sie beziehen sich auf die Rezeption klassisch-romantischer Komponisten wie Mendelssohn, Schumann und  Brahms.

  

Felix Mendelssohn und Johannes Brahms haben jeweils etwa 120 autorisierte Kompositionen hinterlassen. Robert Schumann ging mit etwa 150 sogar darüber hinaus.  Zuzüglich jeweils 30 von Brahms, 48 von Schumann und immerhin 180 von Felix Mendelssohn Bartholdy nachgelassene Werke. Ein Gesamtverzeichnis der "Deutschen Grammophon-Gesellschaft" von 1956 weist in der Sache der Genannten auf folgende Einträge: Johannes Brahms  45; Robert Schumann  22 Einträge; Felix Mendelssohn  13 Einträge.

 

Was zeigt der Internetkatalog der "Deutschen Grammophon-Gesellschaft" des Jahres 2008?

Brahms 103 Einträge; Schumann  65 Einträge;  Mendelssohn  33 Einträge.

  

Der deutsche "Konzertalmanach" der Saison 1992/93 vermittelt ein ähnliches Bild: Johannes Brahms  636 Einträge, sprich Aufführungen; Robert Schumann  462  Einträge; Mendelssohn  360 Einträge.

  

Nach einer Hausse Mendelssohn´scher Kompositionen in der Gedenksaison 1997/98 hat sich die Aufführungsdichte der Saison 2000/ 2001 wieder auf die Relation 633 zu 409 zu 358 relativiert.

 

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