Paul
Leni´s Dornröschen (Auszug aus dem
Essay "Paul Leni (1825 - 1929) - kleiner, grosser heimlicher Herrscher")
Der
50-minütige Märchenfilm Dornröschen wurde im Jahre 1917 von dem
damals bereits namhaften Maler, Designer und Filmregisseur Paul Leni realisiert.
Das Drehbuch nach der Vorlage der Gebrüder Grimm schrieb Rudolf Presber.
Paul Davidson produzierte den Film für die Projektion AG "Union"
(Pagu); gedreht wurde im Atelier in Berlin-Tempelhof. Es war das bislang aufwändigste
Projekt dieses Studios. Davidson riskierte dabei in Kriegszeiten einen Grossteil
des Gesamtkapitals der Gesellschaft von 2,2 Millionen Reichsmark bei der Herstellung
eines Kinder- und Familienfilms. Die Firma warb denn auch superlativ für
"ein mit allen Mitteln der Kunst und Technik des 20. Jahrhunderts geschaffenes
Kolossal-Filmwerk, das sich den grössten Schöpfungen der Welt-Kinematographie
würdig an die Seite stellt". Im Vergleich
zu rudimentär ausgeführten Interieurs anderer deutscher Produktionen
früher Stummfilmjahre präsentiert sich Dornröschen mit akkurater
Rekonstruktion spätgotischen Dekors im Studio sicher einzigartig. Die Kostüme
wurden von Leni getreu nach Vorbildern der Dürerzeit entworfen. Zahlreiche
zeitgenössische Filme deutscher Produktion, darunter Klassiker wie Der Student
von Prag (Paul Wegener) 1913, Insel der Seligen (Max Reinhardt) 1913 und Engelein
(Urban Gad) 1914, wurden hingegen, aus künstlerischen oder finanziellen Erwägungen
heraus, noch ausserhalb des Ateliers an geeigneten historischen oder zeitgenössischen
Schauplätzen realisiert. Der Bildende Künstler
Leni wirkte als Grafiker und Szenenbildner innerhalb der Berliner Theater- und
Kabarettszene vorwiegend impressionistisch, abstra-hierend und experimentell-expressionistisch. Der
Filmarbeit hingegen legte er ein vordergründig konservativ-naturalistischen
Vorstellungen verhaftetes ästhetisches Prinzip zugrunde. Leni stand als Designer
diverser Filmpaläste und renommierter Bälle und Künstlerfeste oftmals
vor der Aufgabe, Personen und Räume in wechselseitige Beziehung und Inspiration
zu versetzen. Er vertrat daher die These handlungsneutraler, autonomer Wirkung
des auf der Leinwand imaginierten Raumes auf die dramatischen Figuren und den
Betrachter eines Films. Somit definierte er das Filmdekor als zentrales, aussagefähigstes
Element des neuen Mediums. Daher galt es ihm vorrangig, die Charaktere gemäss
präziser dramaturgischer Analyse in ikonografisch vielschichtig besetzte
Dekorationen einzufügen. Das Dekor Lenis, kunsthistorisch jeweils exakt reproduziert,
suchte das Lebensgefühl der Protagonisten jener Zeit(en) zu vermitteln. Es
barg emotionale Grundstimmung und psychologische Quintessenz der Szene(n) verschlüsselt
in sich. Der Dornröschen-Film der Firma Pagu
steht zu Beginn einer Ära monumentaler Kostümfilme deutscher Produktion,
die das Kino der Weimarer Republik bis Mitte der zwanziger Jahre dominierte. Im
darauffolgenden Jahr begründete die Projektions AG "Union" mit
der Leinwandadaption der Carmen-Novelle Prosper Merrimee`s durch den Regisseur
Ernst Lubitsch einen Trend gigantesker Lubitsch-Austattungsdramen. Der
Monopolist Universum Film Aktiengesellschaft (UFA)-Konzern übernahm im Jahre
1919 die Davidson-Produktion Pagu und das Genre des historischen Monstrefilms. Dieses
zählt plakative Titel wie Lucrezia Borgia (Richard Oswald), Madame Dubarry,
Anna Boleyn, Das Weib des Pharao (Ernst Lubitsch), und Fridericus Rex (A. von
Czerépy, W. Prager), aber auch konzeptionellere Werke wie Der Golem, wie
er in die Welt kam (P. Wegener, C. Boese) und Fritz Langs Der müde Tod, Die
Nibelungen zu herausragenden Beispielen. Die UFA-Verantwortlichen
orientierten sich in der Definition künftiger Produktionsstandards nunmehr
an eindrucksvollen Produktionen anderer Nationen; vorzüglich des italienischen
Monstrefilms wie Cabiria und Quo Vadis; möglicherweise auch an D. W. Griffith
Birth of a Nation und Intolerance. Die Produzenten jener Zeit bewiesen dabei
gutes Gespür für die Publikumsbedürfnisse illusionsloser Kriegs-
und Nachkriegszeit. Es schien prädestiniert für Illusion historischen
Glanzes und vergangener Grösse eigener und mythologisch ferner Nation. Wenngleich
dem Unternehmen Davidsons auf Dauer keine Zukunft beschieden war: die besonderen
Leistungen der Dornröschen-Produktion, welche einen wesentlichen Schritt
in Richtung höherer Produktionsqualität deutscher Filme darstellten,
dominierten die Premierenkampagne als Familien-Festtagsproduktion der Jahreswende
1917/18. "Dornröschen" steht somit
auch am Beginn der wechselhaft verlaufenden Geschichte des kommerziellen Ausstattungsfilms
deutscher Produktion. Der Beitrag Lenis zu stilistisch-ästhetischer Insichgeschlossenheit
des Atelierfilms, welches die filmische Umsetzung des bekannten Märchens
der Gebrüder Grimm auszeichnet, ähnelt wenig den entsprechenden Genrefilmen
deutscher Produktion. Gleich ob von den Konformisten einer Goebbels-UFA, oder
dem der jüdischen und demokratischen Exilanten schmerzlich entbehrende Nachkriegsfilm
vorgelegte: Filme wie Jud Süss, Das unsterbliche Herz (Harlan), Ludwig der
II., Schinderhannes (Käutner), Die Nibelungen (Reinl), Kampf um Rom (Siodmak),
Der Tiger von Eschnapur/ Das indische Grabmal (Lang) präsentieren sich gegenüber
vergleichbaren angloamerikanischen Produktionen inhomogen, stilistisch hölzern
und in der Ausführung handwerklich unprofessionell inszeniert. Dornröschen
verweist zielstrebig in andere Richtungen: den Ästhetizismus perfektionistisch
konstruierter Überhöhung der Realität des Glamour-Kinos in Hollywoods
Golden Age. Diese von Ende der zwanziger Jahre bis in die Nachkriegszeit andauernde
Ära finanzieller und ästhetischer Autonomie regte die Hollywoodstudios
zu höchster Produktivität und Produktionsqualität an. Im luxuriösen
Design der Filme des dominanten MGM-Studios reüssierte das Atelierkino schliesslich
zur Markenqualität zeitlos-artifizieller Eleganz und stilistischer Homogenität. Die
Bildwelten der von Leni gesamtverantwortlich oder als Ausstatter konzipierten
Filme assoziieren nachhaltig Impressionen, ästhetische Charakteristika klassischen
Genrekinos der 20ziger bis 40ziger Jahre. Zwar wird das Wirken Lenis im Schatten
bedeutender Regisseure des deutschen Stummfilms wie Lang, Lubitsch oder Murnau
nicht immer adäquat wahrgenommen. Dennoch darf der von dem produktiven Designer,
Innenarchitekten und Regisseur auf den Berliner Kulturbetrieb und die ästhetische
Entwicklung des kommerziellen deutschen und amerikanischen Films ausgeübte
Einfluss keinesfalls unterschätzt werden. Nimmt
der heutige Zuschauer allerdings das "Kolossal-Filmwerk, das sich den Schöpfungen
der Weltkinematographie würdig zur Seite stellt, in ersten Augenschein, wird
er leichtes Schmunzeln angesichts naiver Märchenpark-Atmosphäre mancher
Szene kaum unterdrücken können. Dies könnte Dornröschen
somit als filmhistorische Kuriosität, gleichsam als zauberhaftes "Programm
der leichten Muse" gewichtigen Klassikern Murnaus und Langs zugesellen. Auch
das gewönne ihm zweifellos zahlreiche neue Freunde. Dadurch aber blieben
überreich vorhandene Aufschlüsse hinsichtlich der - bei den Hauptwerken
Lenis nachhaltiger ausgeprägten - ästhetischen Ansätze unbeachtet.
Die scheinbar belanglos ausgebreitete naive Märchenszenerie stellt sich vielmehr
als Aufforderung dar, einen opulent bestückten filmgeschichtlichen Fundus
lukrativ zu erkunden: so zum Beispiel Spuren, Repräsentativobjekte, Prototypen
künftigen produktiven Aufschwungs aufzuspüren und in Relation zu den
verbindlichen ästhetischen Standards späteren suggestiven Glamourkinos
zu setzen. Doch ob nun als charmante Unterhaltung genossen oder zu anregender
Spurensuche genutzt: Paul Lenis Dornröschen ist offen für beides. |