Paul Leni´s "Dornröschen"
Deutschland 1917
 

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Info Komponist

Filmographie

Essay Paul Leni
Kleiner, grosser,
heimlicher Herrscher

Kontakt

Aufführung mit der Musik für
Streichquartett, Klarinette & Trompete
von Jerzy Sokorski, Polen 1988


Musikalische Leitung: Natalie Schwarzer


Hörproben

 

Paul Leni´s Dornröschen
(Auszug aus dem Essay "Paul Leni (1825 - 1929) -
kleiner, grosser heimlicher Herrscher")

Der 50-minütige Märchenfilm Dornröschen wurde im Jahre 1917 von dem damals bereits namhaften Maler, Designer und Filmregisseur Paul Leni realisiert. Das Drehbuch nach der Vorlage der Gebrüder Grimm schrieb Rudolf Presber. Paul Davidson produzierte den Film für die Projektion AG "Union" (Pagu); gedreht wurde im Atelier in Berlin-Tempelhof.
Es war das bislang aufwändigste Projekt dieses Studios. Davidson riskierte dabei in Kriegszeiten einen Grossteil des Gesamtkapitals der Gesellschaft von 2,2 Millionen Reichsmark bei der Herstellung eines Kinder- und Familienfilms.
Die Firma warb denn auch superlativ für "ein mit allen Mitteln der Kunst und Technik des 20. Jahrhunderts geschaffenes Kolossal-Filmwerk, das sich den grössten Schöpfungen der Welt-Kinematographie würdig an die Seite stellt".

Im Vergleich zu rudimentär ausgeführten Interieurs anderer deutscher Produktionen früher Stummfilmjahre präsentiert sich Dornröschen mit akkurater Rekonstruktion spätgotischen Dekors im Studio sicher einzigartig. Die Kostüme wurden von Leni getreu nach Vorbildern der Dürerzeit entworfen.
Zahlreiche zeitgenössische Filme deutscher Produktion, darunter Klassiker wie Der Student von Prag (Paul Wegener) 1913, Insel der Seligen (Max Reinhardt) 1913 und Engelein (Urban Gad) 1914, wurden hingegen, aus künstlerischen oder finanziellen Erwägungen heraus, noch ausserhalb des Ateliers an geeigneten historischen oder zeitgenössischen Schauplätzen realisiert.

Der Bildende Künstler Leni wirkte als Grafiker und Szenenbildner innerhalb der Berliner Theater- und Kabarettszene vorwiegend impressionistisch, abstra-hierend und experimentell-expressionistisch.
Der Filmarbeit hingegen legte er ein vordergründig konservativ-naturalistischen Vorstellungen verhaftetes ästhetisches Prinzip zugrunde. Leni stand als Designer diverser Filmpaläste und renommierter Bälle und Künstlerfeste oftmals vor der Aufgabe, Personen und Räume in wechselseitige Beziehung und Inspiration zu versetzen. Er vertrat daher die These handlungsneutraler, autonomer Wirkung des auf der Leinwand imaginierten Raumes auf die dramatischen Figuren und den Betrachter eines Films. Somit definierte er das Filmdekor als zentrales, aussagefähigstes Element des neuen Mediums. Daher galt es ihm vorrangig, die Charaktere gemäss präziser dramaturgischer Analyse in ikonografisch vielschichtig besetzte Dekorationen einzufügen. Das Dekor Lenis, kunsthistorisch jeweils exakt reproduziert, suchte das Lebensgefühl der Protagonisten jener Zeit(en) zu vermitteln. Es barg emotionale Grundstimmung und psychologische Quintessenz der Szene(n) verschlüsselt in sich.

Der Dornröschen-Film der Firma Pagu steht zu Beginn einer Ära monumentaler Kostümfilme deutscher Produktion, die das Kino der Weimarer Republik bis Mitte der zwanziger Jahre dominierte. Im darauffolgenden Jahr begründete die Projektions AG "Union" mit der Leinwandadaption der Carmen-Novelle Prosper Merrimee`s durch den Regisseur Ernst Lubitsch einen Trend gigantesker Lubitsch-Austattungsdramen.

Der Monopolist Universum Film Aktiengesellschaft (UFA)-Konzern übernahm im Jahre 1919 die Davidson-Produktion Pagu und das Genre des historischen Monstrefilms.
Dieses zählt plakative Titel wie Lucrezia Borgia (Richard Oswald), Madame Dubarry, Anna Boleyn, Das Weib des Pharao (Ernst Lubitsch), und Fridericus Rex (A. von Czerépy, W. Prager), aber auch konzeptionellere Werke wie Der Golem, wie er in die Welt kam (P. Wegener, C. Boese) und Fritz Langs Der müde Tod, Die Nibelungen zu herausragenden Beispielen.

Die UFA-Verantwortlichen orientierten sich in der Definition künftiger Produktionsstandards nunmehr an eindrucksvollen Produktionen anderer Nationen; vorzüglich des italienischen Monstrefilms wie Cabiria und Quo Vadis; möglicherweise auch an D. W. Griffith Birth of a Nation und Intolerance.
Die Produzenten jener Zeit bewiesen dabei gutes Gespür für die Publikumsbedürfnisse illusionsloser Kriegs- und Nachkriegszeit. Es schien prädestiniert für Illusion historischen Glanzes und vergangener Grösse eigener und mythologisch ferner Nation.
Wenngleich dem Unternehmen Davidsons auf Dauer keine Zukunft beschieden war: die besonderen Leistungen der Dornröschen-Produktion, welche einen wesentlichen Schritt in Richtung höherer Produktionsqualität deutscher Filme darstellten, dominierten die Premierenkampagne als Familien-Festtagsproduktion der Jahreswende 1917/18.

"Dornröschen" steht somit auch am Beginn der wechselhaft verlaufenden Geschichte des kommerziellen Ausstattungsfilms deutscher Produktion.
Der Beitrag Lenis zu stilistisch-ästhetischer Insichgeschlossenheit des Atelierfilms, welches die filmische Umsetzung des bekannten Märchens der Gebrüder Grimm auszeichnet, ähnelt wenig den entsprechenden Genrefilmen deutscher Produktion. Gleich ob von den Konformisten einer Goebbels-UFA, oder dem der jüdischen und demokratischen Exilanten schmerzlich entbehrende Nachkriegsfilm vorgelegte: Filme wie Jud Süss, Das unsterbliche Herz (Harlan), Ludwig der II., Schinderhannes (Käutner), Die Nibelungen (Reinl), Kampf um Rom (Siodmak), Der Tiger von Eschnapur/ Das indische Grabmal (Lang) präsentieren sich gegenüber vergleichbaren angloamerikanischen Produktionen inhomogen, stilistisch hölzern und in der Ausführung handwerklich unprofessionell inszeniert.

Dornröschen verweist zielstrebig in andere Richtungen: den Ästhetizismus perfektionistisch konstruierter Überhöhung der Realität des Glamour-Kinos in Hollywoods Golden Age. Diese von Ende der zwanziger Jahre bis in die Nachkriegszeit andauernde Ära finanzieller und ästhetischer Autonomie regte die Hollywoodstudios zu höchster Produktivität und Produktionsqualität an. Im luxuriösen Design der Filme des dominanten MGM-Studios reüssierte das Atelierkino schliesslich zur Markenqualität zeitlos-artifizieller Eleganz und stilistischer Homogenität.
Die Bildwelten der von Leni gesamtverantwortlich oder als Ausstatter konzipierten Filme assoziieren nachhaltig Impressionen, ästhetische Charakteristika klassischen Genrekinos der 20ziger bis 40ziger Jahre. Zwar wird das Wirken Lenis im Schatten bedeutender Regisseure des deutschen Stummfilms wie Lang, Lubitsch oder Murnau nicht immer adäquat wahrgenommen. Dennoch darf der von dem produktiven Designer, Innenarchitekten und Regisseur auf den Berliner Kulturbetrieb und die ästhetische Entwicklung des kommerziellen deutschen und amerikanischen Films ausgeübte Einfluss keinesfalls unterschätzt werden.

Nimmt der heutige Zuschauer allerdings das "Kolossal-Filmwerk, das sich den Schöpfungen der Weltkinematographie würdig zur Seite stellt, in ersten Augenschein, wird er leichtes Schmunzeln angesichts naiver Märchenpark-Atmosphäre mancher Szene kaum unterdrücken können.
Dies könnte Dornröschen somit als filmhistorische Kuriosität, gleichsam als zauberhaftes "Programm der leichten Muse" gewichtigen Klassikern Murnaus und Langs zugesellen. Auch das gewönne ihm zweifellos zahlreiche neue Freunde.
Dadurch aber blieben überreich vorhandene Aufschlüsse hinsichtlich der - bei den Hauptwerken Lenis nachhaltiger ausgeprägten - ästhetischen Ansätze unbeachtet. Die scheinbar belanglos ausgebreitete naive Märchenszenerie stellt sich vielmehr als Aufforderung dar, einen opulent bestückten filmgeschichtlichen Fundus lukrativ zu erkunden: so zum Beispiel Spuren, Repräsentativobjekte, Prototypen künftigen produktiven Aufschwungs aufzuspüren und in Relation zu den verbindlichen ästhetischen Standards späteren suggestiven Glamourkinos zu setzen. Doch ob nun als charmante Unterhaltung genossen oder zu anregender Spurensuche genutzt: Paul Lenis Dornröschen ist offen für beides.